Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 432/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_432/2008

Urteil vom 18. September 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
F.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari, Dornacherstrasse 10, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 11. April 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1961 geborene F.________ meldete sich am 25. Mai 2004 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte u.a. eine Rente. Mit Verfügung vom 21.
Januar 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn das Leistungsbegehren
ab. Mit Einspracheentscheid vom 21. September 2005 hob sie die Verfügung auf
und ordnete weitere Abklärungen an. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
verneinte sie mit Verfügung vom 20. April 2007 bei einer Arbeitsunfähigkeit von
50 % und einem Invaliditätsgrad von 28 % einen Rentenanspruch der F.________.

B.
Die Beschwerde der F.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn mit Entscheid vom 11. April 2008 ab.

C.
F.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 11. April 2008 sowie die Verfügung
der IV-Stelle vom 20. April 2007 seien aufzuheben und es sei ihr eine
Invalidenrente nach Massgabe eines Invaliditätsgrades von mindestens 50 %
zuzusprechen.
Die IV-Stelle und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Auf der nicht medizinischen beruflich-erwerblichen Stufe der
Invaliditätsbemessung charakterisieren sich als Rechtsfragen die gesetzlichen
und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des
Einkommensvergleichs (BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348, 128 V 29 E. 1 S. 30, 104 V
135 E. 2a und b S. 136 f.), einschliesslich derjenigen über die Anwendung der
schweizerischen Lohnstrukturerhebung/LSE (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 f., 124
V 321 E. 3b/aa S. 322 f.) und der Dokumentation von Arbeitsplätzen/DAP (BGE 129
V 472 ff.). In dieser Sicht stellt sich die Feststellung der beiden
hypothetischen Vergleichseinkommen als Tatfrage dar, soweit sie auf konkreter
Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid
nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letzteres betrifft etwa die
Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind, welches die massgebliche Tabelle ist
und ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Leidensabzug
vorzunehmen sei (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; zur Publikation in BGE 134 V
bestimmtes Urteil 8C_255/2007 vom 12. Juni 2008).

2.
Nach Art. 28 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung)
besteht bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % Anspruch auf eine
(Teil-)Rente der Invalidenversicherung. Für die Bestimmung des
Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach
Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und
allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei
ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum
Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre
(Art. 16 ATSG). Als Erwerbseinkommen im Sinne von Artikel 16 ATSG gelten
mutmassliche jährliche Erwerbseinkommen, von denen Beiträge gemäss AHVG erhoben
würden (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 IVV).

3.
Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin nach
medizinisch-theoretischer Schätzung seit 1. Oktober 2003 zu 50 % in ihrer
Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist. Unbestritten ist auch, dass sie als Gesunde
zu 100 % erwerbstätig wäre. Streitig und zu prüfen sind die Höhe des
hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen) sowie des
Invalideneinkommens und der daraus resultierende Invaliditätsgrad.

3.1 Soweit es bei der Invaliditätsbemessung um die Frage geht, welche Löhne an
einer bestimmten Stelle bezahlt werden oder erreicht werden können, handelt es
sich um Feststellungen tatsächlicher Natur, die letztinstanzlicher Korrektur
nur unter den Voraussetzungen von Art. 97 Abs. 1 BGG zugänglich sind. Hingegen
ist die Frage, welche hypothetischen Erwerbseinkommen im Rahmen des
Einkommensvergleichs nach Art. 16 ATSG miteinander in Beziehung zu setzen sind,
eine Rechtsfrage, welche vom Bundesgericht frei zu prüfen ist, dies analog zur
Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind und welches die massgebende Tabelle ist
(E. 1.2; Urteil 9C_189/2008 vom 19. August 2008 E. 4.1).

3.2 Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen auf Fr. 44'360.- festgesetzt. Zu
dessen Bestimmung sei grundsätzlich vom Lohn auszugehen, welcher vor Eintritt
der Gesundheitsschädigung am 19. Juli 2002 erzielt worden sei. Dieser lasse
sich jedoch nicht zuverlässig ermitteln, weshalb die IV-Stelle zu Recht auf die
Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik 2004, Tabelle TA1, Sektor 55
(Gastgewerbe), Niveau 4 (einfache und repetitive Tätigkeiten), Frauen,
abgestellt habe. Demgegenüber macht die Versicherte geltend, dass sie bei guter
Gesundheit die gegenwärtige Tätigkeit als Mitarbeiterin in einem
Personalrestaurant in einem vollen Pensum statt (invaliditätsbedingt) nur zu 50
% ausüben und ein dementsprechendes Einkommen erzielen würde.
Die Festsetzung des hypothetischen Valideneinkommens durch das kantonale
Gericht verletzt Bundesrecht. Ausschlaggebend für die Höhe ist nicht der
statistisch ermittelte, durchschnittlich erzielbare Lohn, sondern das
Einkommen, das die Versicherte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erzielen
würde, wenn sie nicht invalid geworden wäre. Das vor dem Eintritt des
Gesundheitsschadens erzielte Einkommen ist dafür in der Regel der
Anknüpfungspunkt, doch ist davon abzuweichen, wenn mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit etwas anderes erstellt ist (vgl. BGE 129 V 222 E. 4.3.1 S.
224). Die Beschwerdeführerin war 2004 trotz des erheblichen Gesundheitsschadens
in der Lage, bei einem Teilzeitpensum auf ein Jahr hochgerechnete Einkünfte von
Fr. 30'907.- zu erzielen (vgl. E. 3.3). Dies spricht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie ohne Gesundheitsschaden mit voller
Leistungsfähigkeit ein Einkommen in doppelter Höhe des einem halben
Arbeitspensum entsprechenden Grundlohnes, somit Fr. 52'000.-, hätte erreichen
können (vgl. Urteil 9C_189/2008 vom 19. August 2008 E. 4.2). Es besteht somit
kein Anlass, auf Tabellenlöhne abzustellen.

3.3 Das Invalideneinkommen hat die Vorinstanz auf Fr. 30'907.- festgelegt.
Dabei hat sie nebst dem von Mai bis Dezember 2004 erzielten Gehalt die
Überstundenentschädigungen, nicht aber die zusätzlich ausbezahlten
Leistungsprämien berücksichtigt und das Ergebnis auf ein Jahr hochgerechnet.
Die Versicherte habe in sieben von acht Monaten Überstundenarbeit geleistet,
was als regelmässig zu bezeichnen sei. Hingegen könne bei den Leistungsprämien
nicht von einem festen Lohnbestandteil gesprochen werden. Die
Beschwerdeführerin ist der Auffassung, es sei nur auf den vertraglich
vereinbarten Grundlohn von Fr. 26'000.- abzustellen.
Das kantonale Gericht hat zu Recht auf die konkrete beruflich-erwerbliche
Situation der Versicherten abgestellt (vgl. BGE 129 V 471 E. 4.2.1 S. 475) und
insofern auch die Entschädigung für regelmässig - und vorbehaltlos - geleistete
Überstundenarbeit berücksichtigt (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 IVV sowie Urteil
des Eidg. Versicherungsgerichts I 381/04 vom 16. November 2004 E. 3.1.1 mit
Hinweisen). Dass die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Versicherten offenbar
grösser als die im Umfang von 50 % ausgewiesene medizinisch-theoretische
Arbeitsunfähigkeit ist, spricht im Übrigen auch nicht gegen deren
Berücksichtigung. Inwiefern die vorinstanzlichen Feststellungen in Bezug auf
die Regelmässigkeit von Überstunden und Leistungsprämien und damit die
Zusammensetzung des Invalideneinkommens sowie dessen Höhe und Berechnung
offensichtlich unrichtig sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen
(E. 1.1), ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht. Immerhin
geht aus den Akten hervor, dass die Versicherte in den Jahren 2005 und 2006
einerseits weiterhin regelmässig Überstundenarbeit in erheblichem Umfang
leistete und andererseits keine Leistungsprämie mehr bezog. Die Festsetzung des
Invalideneinkommens ist nicht zu beanstanden.

3.4 Wird als Valideneinkommen der Betrag von Fr. 52'000.- herangezogen,
resultiert bei einem Invalideneinkommen von Fr. 30'907.- ein Invaliditätsgrad
von 41 %, mit der Folge, dass die Beschwerdeführerin eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung beanspruchen kann. Entsprechend der nicht offensichtlich
unrichtigen und unbestrittenen Feststellung der Vorinstanz betreffend Eintritt
der invalidisierenden Arbeitsunfähigkeit besteht der Anspruch ab 1. Oktober
2004 (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG in der bis 31. Dezember 2007 geltenden
Fassung).

4.
Die Verfahrenskosten sind entsprechend dem Ausmass des Obsiegens und
Unterliegens aufzuteilen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die teilweise obsiegende
Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine entsprechend reduzierte
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Vorinstanz wird die
Parteikosten für das erstinstanzliche Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Verfahrens festzulegen haben (Art. 68 Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 11. April 2008 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 20. April 2007 werden
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Oktober
2004 Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat. Im Übrigen
wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin Fr. 250.-
und der Beschwerdegegnerin Fr. 250.- auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'250.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. September 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann