Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 41/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_41/2008

Urteil vom 8. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
F.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Becker,
Burghaldenstrasse 59, 5600 Lenzburg,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
6. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1970 geborene F.________ ist verheiratet und Mutter von acht Kindern. Seit
2002 war sie als Officemitarbeiterin im Restaurant X.________ angestellt. Am
24. Januar 2003 stürzte sie bei der Arbeit und schlug mit dem Rücken auf einer
Schubladenkante auf. Dabei erlitt sie eine Rückenkontusion lumbal. In der Folge
blieb sie der Arbeit fern. Am 9. Juli 2004 meldete sich F.________ unter
Hinweis auf die Folgen des Unfalls, insbesondere von Schmerzen bei jeder
Körperbewegung, bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Beizug verschiedener Arztberichte und der Akten des Unfallversicherers, der
Winterthur Versicherungen, worunter ein von dieser veranlasstes Gutachten des
Dr. med. G.________, Orthopädische Chirurgie (vom 27. Februar 2004), und
durchgeführtem Vorbescheidverfahren lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau das
Leistungsgesuch mit Verfügung vom 18. Oktober 2006 ab.

B.
Die von F.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 6. November 2007).

C.
Die Versicherte lässt unter Beilage eines Aktengutachtens des Dr. med.
S.________, Orthopädische Chirurgie, vom 27. Dezember 2007 Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides sei die Sache zur Anordnung zusätzlicher
medizinischer Massnahmen und neuer Beurteilung an das kantonale Gericht
zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der unentgeltlichen
Prozessführung und Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. Das kantonale
Versicherungsgericht nimmt in ablehnendem Sinne Stellung zur Beschwerde.
Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Ferner darf das
Bundesgericht nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1
BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Invaliditätsbegriff
(Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei
erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG
in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie die Bedeutung ärztlicher Auskünfte
für die Belange der Invaliditätsschätzung (BGE 115 V 133 f. E. 2, 105 V 156 E.
1 S. 158) zutreffend wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden.

3.
3.1 Das Versicherungsgericht hat die Frage offengelassen, ob der
Invaliditätsgrad nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs oder
nach der gemischten Methode zu bemessen wäre, da ein rentenbegründender
Invaliditätsgrad so oder anders nicht erreicht werde. Gestützt auf die
medizinischen Unterlagen aus den Verwaltungsverfahren der Winterthur und der
IV-Stelle, namentlich das Gutachten des Dr. med. G.________, Orthopädische
Chirurgie, vom 27. Februar 2004, stellte die Vorinstanz fest, es lägen keine
objektivierbaren somatischen Beschwerden vor. Die gegenteiligen Angaben des
Allgemeinpraktikers Dr. med. W.________, der seit dem Unfall eine volle
Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, beruhten auf den subjektiven Aussagen der
Versicherten und seien medizinisch nicht plausibel begründet. Da auch keine
Anhaltspunkte für psychische Beschwerden mit Krankheitswert bestehen, habe die
Versicherte nach fachärztlicher Ansicht und aufgrund der Befunde insgesamt als
zu 100 % arbeitsfähig zu gelten, woran auch die Stellungnahme des Dr. med.
O.________, Spital Y.________, vom 10. November 2005, der die Einschränkung in
der Arbeitsfähigkeit auf 20 % bis 30 % schätzte, nichts zu ändern vermöge.

3.2 In der Beschwerde wird hiegegen eingewendet, das kantonale Gericht habe den
rechtserheblichen Sachverhalt nicht umfassend abgeklärt und dadurch den
Untersuchungsgrundsatz und den Anspruch der Versicherten auf rechtliches Gehör
verletzt. Bezüglich der Rückenschmerzen und der daraus resultierenden
Arbeitsunfähigkeit lägen divergierende ärztliche Stellungnahmen vor. Im
letztinstanzlich aufgelegten Aktengutachten vom 27. Dezember 2007 sei Dr. med.
S.________ zum Schluss gelangt, für die Rückenbeschwerden seien nebst dem
exzessiven Körpergewicht auch degenerative Veränderungen in der unteren
Lendenwirbelsäule verantwortlich. Bei der gegebenen Beweislage drängten sich
zusätzliche medizinische Abklärungen auf.

3.3 Die Rüge der Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe den rechtserheblichen
Sachverhalt in Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes sowie des Anspruchs auf
rechtliches Gehör und damit unter Verletzung von Bundesrecht (Art. 97 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 95 lit. a BGG) festgestellt, ist unbegründet. Wie im
angefochtenen Entscheid dargelegt, hat die Vorinstanz dem Umstand Rechnung
getragen, dass es sich beim Gutachter Dr. med. G.________ um einen Facharzt
handelt, dessen Darlegungen in der Regel höhere Beweiskraft zukommt als den
Ausführungen des Allgemeinmediziners. Das Versicherungsgericht hat sodann
einlässlich dargelegt, weshalb es auf die eine statt die andere medizinische
Auffassung abgestellt hat, und es hat bei der gegebenen Aktenlage nichts
entgegengestanden, in antizipierter Beweiswürdigung (BGE 124 V 90 E. 4b S. 94)
auf die Anordnung zusätzlicher medizinischer Abklärungen zu verzichten. Damit
wurde der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV nicht
verletzt (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 362/99 vom 8.
Februar 2000 = SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 E. 4b). Ebenso wenig vermag
einzuleuchten, inwiefern die Vorinstanz den Untersuchungsgrundsatz verletzt
haben könnte, nachdem sowohl aus dem Verfahren der Unfallversicherung wie auch
aufgrund der von der IV-Stelle beigezogenen Arztberichte medizinische Akten
vorlagen, die eine hinreichend schlüssige Beurteilung der gesundheitlichen
Situation und eine Einschätzung der Leistungsfähigkeit erlaubten.

3.4 Was schliesslich das letztinstanzlich eingereichte Aktengutachten des Dr.
med. S.________ vom 27. Dezember 2007 mit Zusatzbericht vom 12. Januar 2008
betrifft, kann offenbleiben, ob dieses vorgebracht werden kann, weil der
angefochtene Entscheid dazu Anlass gegeben hätte (Art. 99 Abs. 1 BGG; vgl. BGE
133 III 393 E. 3 S. 395). Denn das Aktengutachten, welches sich in einer
teilweise von den übrigen Arztberichten abweichenden Würdigung des
medizinischen Sachverhalts erschöpft, ist jedenfalls zum Vornherein nicht
geeignet, den Nachweis dafür zu erbringen, dass der angefochtene Entscheid in
medizinischer Hinsicht auf einer unzureichenden Grundlage beruht und deswegen
auf eine Verletzung von Bundesrecht geschlossen werden müsste.

4.
Da die Vorinstanz eine korrekte Würdigung des Sachverhalts vorgenommen hat und
der angefochtene Entscheid vor Bundesrecht standhält, besteht somit kein Anlass
zu ergänzenden Abklärungen.

5.
Dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung (Art. 64 Abs. 1
und 2 BGG) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die
Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war
(vgl. BGE 125 V 201 E. 4 S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Die Beschwerdeführerin
wird jedoch darauf hingewiesen, dass sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Matthias Becker, Lenzburg, wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'500.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 8. Mai 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer