Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 363/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_363/2008

Urteil vom 16. Januar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
O.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer, Hauptstrasse 11a, 8280 Kreuzlingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 5. März 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a O.________, deutsche Staatsangehörige, geboren 1961, zog im Juni 1996 von
Deutschland in die Schweiz. Am 3. Mai 2002 meldete sie sich wegen Epilepsie zum
Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung (Rente) an. Mit in Rechtskraft
erwachsener Verfügung vom 13. Januar 2003 lehnte die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen den Anspruch wegen fehlender Voraussetzungen (Invaliditätsgrad von 4 %)
ab.
A.b Mit Gesuch vom 30. August 2004 beantragte die teilzeitlich als
selbstständig Erwerbende tätige Hausfrau und Mutter Umschulung auf eine neue
Tätigkeit. Am Epilepsie-Zentrum wurde ein Verdacht auf eine seit dem 11.
Lebensjahr bestehende juvenile myoklonische Epilepsie (ICD-10 G40.3)
diagnostiziert (Gutachten vom 22. April 2005); die Versicherte widersetzte sich
jedoch zusätzlichen medizinischen Abklärungen und zog das Leistungsbegehren am
17. Oktober 2005 zurück.
A.c O.________ zog in den Kanton Thurgau um und meldete sich am 5. Dezember
2005 bei der dortigen IV-Stelle erneut zum Bezug von Leistungen an, wobei sie
erklärte, Eingliederungsmassnahmen kämen nicht in Frage. Die IV-Stelle holte
den Bericht der Klinik X.________ (vom 26. Januar 2006) ein, in dem eine seit
1973 bestehende Epilepsie diagnostiziert und eine Arbeitsunfähigkeit von 40 %
in einer angepassten Tätigkeit angegeben wurde. Mit Verfügung vom 28. April
2006 wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren ab, weil nicht während eines
Jahres eine zumindest 40-prozentige Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Die
dagegen erhobene Einsprache hiess das kantonale Amt für AHV und IV mit
Entscheid vom 17. Juli 2006 gut; es wies die Sache zu weiteren medizinischen
Abklärungen an die IV-Stelle zurück.
A.d Gestützt auf die Gutachten und Berichte der Frau Dr. med. H.________,
Fachärztin FMH für Psychiatrie und Psychotherapie (vom 26. Februar und 16. März
2007), und der Frau Dr. phil. F.________, Psychologin FSP/Fachpsychologin für
Neuropsychologie FSP, Spital Y.________ (vom 7. März 2007), wies die IV-Stelle
das Leistungsbegehren mit Vorbescheid vom 5. April 2007 und Verfügung vom 21.
August 2007 erneut ab, was sie damit begründete, aus den medizinischen
Unterlagen gehe hervor, dass die Versicherte mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit in den 90er-Jahren mit einem Gesundheitsschaden (Epilepsie
und Borderline-Störung) und der hiermit verbundenen Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit in die Schweiz eingereist sei; deshalb seien die
versicherungsmässigen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch nicht erfüllt.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 5. März 2008 ab, da davon auszugehen sei, dass der
invalidisierende Gesundheitsschaden bereits vor Einreise in die Schweiz
bestanden habe; zudem sei gar kein Invaliditätsgrad von mindestens 40 %
ausgewiesen, sondern von höchstens 37,4 %.

C.
O.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben; die IV-Stelle des
Kantons Thurgau sei anzuweisen, die gesetzlichen Leistungen zu berechnen und
auszurichten; eventuell sei die Sache zu zusätzlichen Abklärungen und zum
Neuentscheid an die Verwaltung zurückzuweisen; ferner beantragt sie die
unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art.
16 ATSG] für die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 28 Abs. 1 IVG).

2.
2.1 Nachdem die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit rechtskräftiger Verfügung
vom 13. Januar 2003 die Ausrichtung einer Rente verweigert hatte, reichte die
Versicherte am 5. Dezember 2005 bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau erneut
ein Begehren ein.

2.2 Bei der Neuanmeldung eines Leistungsanspruchs (Art. 87 Abs. 4 in Verbindung
mit Abs. 3 IVV) ist zeitlicher Ausgangspunkt für die Beurteilung einer
anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades die letzte rechtskräftige
Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit
rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines
Einkommensvergleichs beruhte (BGE 133 V 108 E. 5 S. 110 f.). Die Vorinstanz hat
erwogen, aufgrund der Akten ergäben sich keine Hinweise dafür, dass der
Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin sich seit dem Einreichen des
ursprünglichen Gesuches verschlechtert habe (vorinstanzliche E. 3c). Sie hat
damit eine neuanmeldungsrechtlich relevante Sachverhaltsfeststellung getroffen,
die nach der gesamten Aktenlage weder offensichtlich unrichtig ist, noch auf
einer Rechtsverletzung beruht, sodass sie für das Bundesgericht verbindlich ist
(oben E. 1): Die laut Frau Dr. med. H.________ seit Jugendalter bestehende
Borderline-Störung konnte bei der Prüfung des neuen Gesuchs nicht als
rentenbegründender Sachverhalt berücksichtigt werden, weil sie bereits vor
Erlass der rechtskräftigen Ablehnungsverfügung bestand und sich seither nicht
verschlimmert hat. Das Gleiche gilt für die nach sämtlichen Berichten seit den
70er-Jahren diagnostizierte Epilepsie. Das Gutachten des Epilepsie-Zentrums vom
22. April 2005 führt dazu aus, aufgrund der vorliegenden Befunde und der
Anamnese scheine eine solche Erkrankung als sicher; deren Auswirkungen seien
aber bei adäquater zumutbarer Behandlung als gering anzusehen (Gutachten S. 4).

2.3 Was die wirtschaftliche Seite betrifft, kann vor Bundesgericht die Änderung
der hypothetischen erwerblichen Verhältnisse nicht als Novum geltend gemacht
werden (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG, wonach neue Tatsachen und Beweismittel nur so
weit vorgebracht werden dürfen, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu
Anlass gibt, was hier nicht zutrifft).

3.
Nach dem Gesagten verletzt die Vorinstanz Bundesrecht nicht, wenn sie die
Ablehnung des erneuten Rentengesuchs bestätigt hat; denn es fehlt an der für
den Erfolg einer Neuanmeldung in erster Linie erforderlichen
anspruchsrelevanten Verschlechterung der invaliditätsmässigen Verhältnisse seit
der letzten rechtskräftigen Ablehnung.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege
kann gewährt werden (Art. 64 BGG), da bei der widersprüchlichen Argumentation
der Beschwerdegegnerin die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen war.
Die Beschwerdeführerin wird der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben, wenn sie
später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Dieter Studer, Kreuzlingen, wird als unentgeltlicher Anwalt der
Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Januar 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz