Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 320/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_320/2008

Urteil vom 26. August 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
H.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rudolf
Strehler, Dorfstrasse 21, 8356 Ettenhausen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
27. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1958 geborene H.________ erlitt am 5. September 2003 als Beifahrerin eines
Personenwagens einen Verkehrsunfall. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) erbrachte die gesetzlichen Leistungen, u.a.
Taggelder. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom 30. Mai
2007 bestätigte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die vom
obligatorischen Unfallversicherer mit Einspracheentscheid vom 5. Oktober 2006
verfügte Leistungseinstellung ab 9. Mai 2006. Im November 2004 hatte sich
H.________ bei der Invalidenversicherung angemeldet und eine Rente beantragt.
Nach Abklärungen (u.a. Beizug der UV-Akten und Einholung eines
rheumatologischen Gutachtens) und nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau mit Verfügung vom 10. Oktober 2007 das
Leistungsbegehren ab.

B.
Die Beschwerde der H.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 27. Februar 2008 ab.

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 27. Februar 2008 sei aufzuheben und
ihr mit Wirkung ab 5. September 2004 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen,
eventualiter die Sache zur ergänzenden Sachverhaltsermittlung (Einholung eines
polydisziplinären Gutachtens) an das kantonale Gericht oder an die IV-Stelle
zurückzuweisen.

Die IV-Stelle äussert sich nicht materiell und stellt keinen Antrag zur
Beschwerde. Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat die den Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung verneinende Verfügung vom 10. Oktober 2007 mit der
Begründung bestätigt, aufgrund des Gutachtens der Frau Dr. med. S.________ vom
14. November 2005, welchem grundsätzlich voller Beweiswert zukomme, und der
übrigen Akten bestehe in einer leichten wechselbelastenden Tätigkeit, wozu auch
die frühere Arbeit als Kontrolleurin in der Reinigung und die in Aussicht
genommene Arbeit als Kassiererin zu rechnen seien, eine Arbeitsfähigkeit von
100 % (vgl. BGE 115 V 133 E. 2 S. 133, 105 V 139 E. 1b S. 141).

2.
In der Beschwerde wird gerügt, das kantonale Gericht habe zu Unrecht dem
Gutachten vom 14. November 2005 Beweiswert zuerkannt. Im Weitern hätten
Vorinstanz und IV-Stelle den Untersuchungsgrundsatz verletzt, indem sie trotz
Beweisuntauglichkeit der Expertise keine weiteren Abklärungen vorgenommen
hätten. Die darauf gestützten vorinstanzlichen Feststellungen seien Ergebnis
willkürlicher Beweiswürdigung und insofern offensichtlich unrichtig.

3.
3.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Eine solche
Rechtsverletzung stellen insbesondere eine unvollständige (gerichtliche)
Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen und die Nichtbeachtung des
Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 61 lit. c ATSG durch das kantonale
Versicherungsgericht dar (Urteil 9C_534/2007 vom 27. Mai 2008 E. 1 mit
Hinweisen; vgl. auch BGE 133 IV 293 E. 3.4.2 S. 295 f.).

3.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil - von hier nicht interessierenden
Ausnahmen abgesehen - den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG), und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).

Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig,
wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I
8 E. 2.1 S. 9). Eine Sachverhaltsfeststellung ist etwa dann offensichtlich
unrichtig, wenn das kantonale Gericht den Sinn und die Tragweite eines
Beweismittels offensichtlich falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein
wichtiges und für den Ausgang des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht
beachtet oder aus den abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat
(BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteile 9C_570/2007 vom 5. März 2008 E. 4.2 und
9C_882/2007 vom 11. April 2008 E. 5.1).

3.3 Einem ärztlichen Bericht ist (voller) Beweiswert zuzuerkennen, wenn er für
die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht,
auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen
Situation und Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes
begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; Urteil 9C_55/2008 vom 26. Mai 2008
E. 4.2).

4.
4.1 Gegen den Beweiswert des Gutachtens vom 15. November 2005 wird in formaler
Hinsicht vorgebracht, die Expertin habe auf den Seiten 2-27 nur Vorakten, die
Anamnese und einen knappen, eine Seite umfassenden rheumatologischen Befund
abgegeben. Ihre ganze Eigenleistung finde sich auf Seite 29 unter «5.
Beurteilung und Prognose» auf einer knappen Dreiviertelseite. Diese Vorbringen
sind nicht stichhaltig. Vorab wird nicht geltend gemacht, die Untersuchung und
Begutachtung sei nicht lege artis erfolgt. Sodann greift der Hinweis auf den
seitenmässigen Umfang des Befundes offensichtlich zu kurz. Die Gutachterin
hatte die Versicherte durch dritte Fachärzte u.a. neurologisch und
elektrophysiologisch sowie radiologisch untersuchen lassen. Insbesondere war am
24. Oktober 2005 eine Magnetresonanztomographie der HWS nativ im Spital
X.________ durchgeführt worden.

4.2 Im Weitern trifft zu, dass Dr. med. S.________ fälschlicherweise davon
ausgegangen war, die Beschwerdeführerin habe tatsächlich weniger Schmerzmittel
(Novalgin) eingenommen als verordnet worden war und für die Erzielung einer
analgetischen Wirkung notwendig wäre. Die Vorinstanz hat diesem Mangel keine
entscheidende Bedeutung beigemessen, was nicht zu beanstanden ist. Die
Gutachterin erachtete die Beschwerdeführerin ausdrücklich unter der - gemäss
Vorbringen in der Beschwerde als erfüllt zu betrachtenden - Bedingung einer
adäquaten Schmerzmitteldosierung als zu 100 % arbeitsfähig in einer adaptierten
Tätigkeit. Diese Einschätzung weicht von derjenigen des behandelnden Arztes Dr.
med. A.________ ab, welcher laut Gutachten bei seiner Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit davon ausging, dass die Versicherte «das Novalgin in adäquater
Dosierung gemäss ihrer Aussage einnahm». Die Folgerung von Dr. med. S.________,
die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit des Dr. med. A.________ beruhe auf
falschen Grundlagen, trifft somit nicht zu. Nach nicht offensichtlich
unrichtiger und für das Bundesgericht verbindlicher Feststellung der Vorinstanz
(E. 3.2) bestätigen aber die weiteren medizinischen Unterlagen die auf
Anamnese, Befund und Diagnose gestützte Zumutbarkeitsbeurteilung im Gutachten
vom 14. November 2005 im Grundsatz. Daraus ergibt sich insbesondere und
unbestrittenermassen, dass die geklagten Beschwerden sich durch kein
organisches Substrat erklären lassen. Selbst Dr. med. A.________ verwarf eine
anfänglich angenommene Instabilität C2 bis C7 als Folge der Verletzung des
contralateralen Ligamentum alare (Stellungnahme vom 21. Februar 2006 zum
Gutachten vom 14. November 2005 und zur Ärztlichen Beurteilung des Dr. med.
K.________ vom 18. Januar 2006). Offensichtlich unbegründet ist im Übrigen der
Einwand, in der Expertise finde keine Auseinandersetzung mit dem einige Tage
später erstellten Bericht der Klinik Y.________ vom 18. November 2005 statt.

4.3 Schliesslich wird geltend gemacht, Dr. med. S.________ habe das im
Austrittsbericht der Klinik Z.________ vom 25. Mai 2004 und auch im Bericht der
Klinik Y.________ vom 18. November 2005 diagnostizierte chronische
zervikocephale Syndrom, Status nach Auffahrkollision vom 5. September 2003,
klinisch als nicht mehr nachweisbar bezeichnet. Dies belege, dass sich die
Gutachterin offensichtlich nicht mit der Problematik von HWS-Verletzungen
auseinandergesetzt habe. Gemäss BGE 117 V 359 sei bei einem Schleudertrauma der
HWS der natürliche Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Arbeits- resp.
Erwerbsunfähigkeit auch ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle
anzunehmen, sofern das typische Beschwerdebild mit einer Häufung von Symptomen
vorliege. Wie im Bereich der Unfallversicherung sei eine interdisziplinäre
(neurologische/ orthopädische und psychiatrische) Begutachtung erforderlich.
Demgegenüber sei Dr. med. S.________ als Rheumatologin zur Beurteilung von
HWS-Verletzungen nicht geeignet und mit solchen Verletzungen ohnehin nicht
vertraut.
4.3.1 Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin beim Auffahrunfall vom
5. September 2003 ein HWS-Schleudertrauma erlitten hatte. Ob die in der Folge
aufgetretenen Symptome natürlich kausale Folge dieses Ereignisses darstellten,
ist unklar. Die Vorinstanz liess die Frage in ihrem unangefochtenen gebliebenen
Entscheid vom 30. Mai 2007 offen. In Anwendung von BGE 117 V 359 verneinte sie
die Adäquanz und bestätigte die von der SUVA verfügte Einstellung der
Leistungen der Unfallversicherung ab 9. Mai 2006.
4.3.2 Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass die Verneinung der
adäquaten Unfallkausalität eines Gesundheitsschadens im
invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren nicht von Bedeutung ist. Dies gilt
aber auch in Bezug auf den natürlichen Kausalzusammenhang, soweit es um den
invalidisierenden Charakter der gesundheitlichen Beeinträchtigung geht. Auch
hier besteht grundsätzlich keine Bindungswirkung der Invaliditätsschätzung der
Unfallversicherung für die Invalidenversicherung (vgl. BGE 133 V 549). Ob eine
Invalidität im Sinne von Art. 4 IVG sowie Art. 3 und 6 ff. ATSG besteht,
beurteilt sich losgelöst von den (möglichen) Ursachen des Gesundheitsschadens
resp. nicht objektivierbarer Beschwerden. Dass ein Leiden als natürlich und
adäquat kausal im Sinne der Rechtsprechung zum UVG zu betrachten ist, bedeutet
invalidenversicherungsrechtlich (und übrigens auch
unfallversicherungsrechtlich) noch nicht, dass dieses Leiden invalidisierend
(Art. 6-8 und 16 ATSG) ist. Die gerügte fehlende Auseinandersetzung mit der
Problematik von HWS-Verletzungen spricht somit nicht gegen die Schlüssigkeit
des Gutachtens vom 14. November 2005. Der in diesem Zusammenhang erhobene
Vorwurf, die Vorinstanz habe die Frage der Notwendigkeit eines organischen
Nachweises der geklagten Beschwerden mit keiner Silbe thematisiert, was eine
Verletzung der Begründungspflicht als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches
Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV darstelle, ist unbegründet.
4.3.3 Gemäss dem behandelnden Arzt Dr. med. A.________ weisen die im
Vordergrund stehenden Beschwerden im Hals- und Nackenbereich im Wesentlichen
eine myofasciale Symptomatik auf (Bericht vom 19. Juli 2005 und Stellungnahme
vom 21. Februar 2006). Es bestehen jedoch auch hiefür keine objektivierbaren
Befunde, sodass in Bezug auf die betreffende Schmerzproblematik lediglich
allenfalls von einer funktionellen Störung ausgegangen werden kann (Urteil U 49
/06 vom 22. November 2007 E. 3.3.1). Gemäss Vorinstanz sind die Voraussetzungen
für die ausnahmsweise Bejahung des invalidisierenden Charakters einer
Schmerzverarbeitungsstörung (vgl. dazu Urteil 9C_578/2007 vom 13. Februar 2008
E. 2.2 mit Hinweisen auf die publizierte Rechtsprechung) klar nicht gegeben,
was die Beschwerdeführerin nicht bestreitet. Eine allfällige durch die
myofasciale Symptomatik bedingte Arbeitsunfähigkeit ist somit unbeachtlich.
Demzufolge kann auch nicht von einem unauflösbaren Widerspruch gesprochen
werden, wenn die Vorinstanz im Entscheid vom 30. Mai 2007 bei der
Adäquanzprüfung beim Kriterium Dauer und Grad der Arbeitsunfähigkeit (vgl. BGE
117 V 359 E. 6a S. 367) aufgrund der geklagten Beschwerden - ohne erklärende
objektive Befunde - von einer 100 % Arbeitsunfähigkeit ausging.

Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht nicht.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als
Versicherungsgericht und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 26. August 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler