Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 319/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_319/2008

Urteil vom 20. August 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
C.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Mutter A.________,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
7. März 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1994 geborene C.________ leidet an einer Störung der Schild- und
Nebenschilddrüsenfunktion (Albright-Syndrom resp. hereditäre
Albright-Osteodystrophie). Die IV-Stelle Luzern sprach ihr in Anerkennung
verschiedener Geburtsgebrechen medizinische Massnahmen, Hilfsmittel und
Beiträge an Massnahmen für besondere Schulung zu. Hingegen lehnte sie mit
Verfügung vom 19. Dezember 2005 ein von Dr. med. Dr. med. dent. T.________
gestelltes Gesuch um Übernahme der Extraktion zweier ankylosierter Milchzähne
unter Intubationsanästhesie ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 12. Februar
2007 bestätigte.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
mit Entscheid vom 7. März 2008 ab.

C.
Die Mutter von C.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des Entscheids vom 7. März 2008 und
Kostengutsprache für die Zahnbehandlung sowie die Übernahme der Kosten für das
mit der Beschwerde eingereichte Gutachten des Dr. med. S.________ vom 1. April
2008.

Die IV-Stelle Luzern und das kantonale Gericht beantragen die Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann
nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom
Bundesgericht ebenfalls zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95
lit. a BGG dar (Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz,
Bern 20 N. 24 zu Art. 97 BGG).

Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an
die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem
anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (Urteil 9C_294/
2007 vom 10. Oktober 2007 E. 2 mit Hinweis; vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S.
140).

2.
2.1 Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr haben Anspruch auf die zur
Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Art. 13
Abs. 1 IVG). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese
Massnahmen gewährt werden (Art. 13 Abs. 2 Satz 1 IVG). Als Geburtsgebrechen im
Sinne von Art. 13 IVG gelten diejenigen Krankheiten, die bei vollendeter Geburt
bestehen (Art. 3 Abs. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über
Geburtsgebrechen vom 9. Dezember 1985 [GgV]). Die Geburtsgebrechen sind in der
Liste im Anhang aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GgV).

In Ziff. 463 und 464 GgV Anhang sind angeborene Störungen der
Thyreoidea-Funktion (Athyreose und Hypothyreose) und der
Parathyreoidea-Funktion (Hypoparathyreoidismus und Pseudohypoparathyreoidismus)
als Geburtsgebrechen angeführt. Ausserdem werden mit Ziff. 218 GgV Anhang die
kongenitale Retention oder Ankylose von Zähnen, sofern mehrere Molaren oder
mindestens zwei nebeneinanderliegende Zähne im Bereich der Prämolaren und
Molaren (exkl. Weisheitszähne) der zweiten Dentition betroffen sind, als
Geburtsgebrechen anerkannt.

2.2 Nach der Rechtsprechung erstreckt sich der Anspruch auf medizinische
Massnahmen ausnahmsweise - und vorbehältlich der hier nicht zur Diskussion
stehenden Haftung für das Eingliederungsrisiko nach Art. 11 IVG - auch auf die
Behandlung sekundärer Gesundheitsschäden, die zwar nicht mehr zum
Symptomenkreis des Geburtsgebrechens gehören, aber nach medizinischer Erfahrung
häufig die Folge dieses Gebrechens sind. Zwischen dem Geburtsgebrechen und dem
sekundären Leiden muss demnach ein qualifizierter adäquater Kausalzusammenhang
bestehen. Nur wenn im Einzelfall dieser qualifizierte ursächliche Zusammenhang
zwischen sekundärem Gesundheitsschaden und Geburtsgebrechen gegeben ist und
sich die Behandlung überdies als notwendig erweist, hat die
Invalidenversicherung im Rahmen des Art. 13 IVG für die medizinischen
Massnahmen aufzukommen (BGE 100 V 41 mit Hinweisen; AHI 2001 S. 79 Erw. 3a).
Die Häufigkeit des sekundären Leidens stellt nicht das allein entscheidende
Kriterium für die Bejahung eines qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhanges
dar (Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 801/04 vom 6. Juli 2005 E. 1.3
und I 438/02 vom 14. Oktober 2004 E. 1.3 [SVR 2005 IV 22 S. 86 ff.]).

3.
Die Vorinstanz hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Übernahme der
Extraktion zweier ankylosierter Milchzähne unter Intubationsanästhesie mit der
Begründung verneint, es fehle an einem qualifizierten adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen den anerkannten Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff.
463 und 464 GgV Anhang als Teile eines Albright-Syndroms und den (sekundären)
Milchzahn-Ankylosen.

3.1 Das kantonale Gericht hat festgestellt, die Ankylose der Milchzähne 54 und
84 (der verspätete bzw. der verunmöglichte Durchbruch der bleibenden Zähne)
habe es notwendig gemacht, diese unter Narkose zu entfernen. Dies ist nicht
offensichtlich unrichtig (E. 1). Bei dieser Ausgangslage stellt sich jedoch von
Amtes wegen die weitere Frage, ob eine kongenitale Retention von Molaren resp.
Prämolaren der zweiten Dentition und somit ein Geburtsgebrechen im Sinne von
Ziff. 218 GgV Anhang vorliege. Wenn die Vorinstanz davon auszugehen scheint,
dass die hier vorliegende Ankylose der Milchzähne den Voraussetzungen von Ziff.
218 GgV Anhang nicht entspricht, weil hier von der zweiten Dentition die Rede
ist, kann dem so nicht beigepflichtet werden. Verlangt ist nur, dass die
Ankylose die Zähne der zweiten Dentition betrifft, was der Fall sein kann, wenn
schon die Milchzähne ankylosiert sind. Dies kann erst nach Einholung einer
ärztlichen Stellungnahme beurteilt werden.

3.2 Kann die beantragte Leistung vorerst nicht im Rahmen von Ziff. 218 GgV
Anhang bejaht werden, ist weiter zu prüfen, ob die Ankylose der Milchzähne
nicht zum Symptomenkreis der Ziff. 463 und 464 GgV Anhang als Teilen eines
Albright-Syndroms gehört. Ob dies zutrifft, ist ebenfalls nur aufgrund einer
fachärztlichen Stellungnahme zu beurteilen (vgl. Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 438/02 vom 14. Oktober 2004 E. 2.2 [SVR 2005 IV 22 S.
86 ff.]). Eine solche liegt nicht bei den Akten (vgl. E. 3.3), weshalb
entsprechende Abklärungen notwendig sind.

3.3 In Bezug auf das Vorliegen eines qualifizierten adäquaten
Kausalzusammenhangs zwischen den anerkannten Geburtsgebrechen und der Ankylose
der Milchzähne hat das kantonale Gericht dem Schreiben der Frau Dr. G.________
vom 17. Oktober 2005 vollen Beweiswert im Sinne der Rechtsprechung (BGE 125 V
351 E. 3a S. 352) zuerkannt. Dieses beruhe auf Fachkenntnissen medizinischer
Experten aus den Bereichen der Zahnmedizin, der Kieferorthopädie und der
Stoffwechselerkrankungen. Es sei in sich schlüssig und nachvollziehbar
begründet. Nach Auffassung der Beschwerdeführerin kann darauf nicht abgestellt
werden. Es werde lediglich bestätigt, dass Frau Dr. G.________ die
Zusammenhänge im Rahmen ihres Fachgebietes nicht kenne, und es fehle an einer
Begründung, weshalb kein Kausalzusammenhang anzunehmen sei. Die
Kausalitätsfrage hätte einer spezialisierten Stelle wie dem Institut für
medizinische Genetik unterbreitet werden müssen.

Frau Dr. G.________ teilte im Schreiben vom 17. Oktober 2005 mit, da sie selber
nicht zu einem Schluss gekommen sei, habe sie die Frage nach einem Zusammenhang
zwischen dem Albright-Syndrom und multiplen Ankylosen der Milchzähne einem
weiteren Facharzt gestellt, welcher seinerseits Rücksprache mit einem Professor
vom Kinderspital genommen habe. Ihnen allen seien keine Anhaltspunkte für eine
Kausalität bekannt. Dabei ist unklar, in welcher Form und mit welchem Wortlaut
die Frage jeweils weitergeleitet wurde. Eine Begründung, nähere Hinweise oder
eine Auseinandersetzung etwa mit der Frage, inwiefern sich die
Stoffwechselkrankheit auf das Gebiss auswirken kann, fehlen gänzlich. Hingegen
wird in den sich bei den Akten befindenden medizinischen Abhandlungen im
Zusammenhang mit dem Albright-Syndrom auf "Zahnanomalien" und verspäteten oder
verunmöglichten Durchbruch der bleibenden Zähne ("delayed eruption of permanent
teeth") hingewiesen. Das kantonale Gericht selbst scheint letzteres mit der
Ankylose der Milchzähne gleichgesetzt zu haben (E. 3.1). Aus diesen Gründen
kann das Schreiben der Frau Dr. G.________ vom 17. Oktober 2005 nicht als
alleinige Grundlage für die Verneinung eines qualifizierten adäquaten
Kausalzusammenhangs dienen. Dessen Qualifikation als beweiskräftiges
Kurzgutachten verletzt Bundesrecht, weil es die formellen und materiellen
Anforderungen dafür offensichtlich nicht erfüllt.

4.
Die Verwaltung wird entsprechende Abklärungen zu treffen und die beantragte
Übernahme der Zahnbehandlung neu zu beurteilen haben. Bestätigte sich die
Verneinung des Anspruchs, bliebe zu prüfen, ob zumindest die Kosten für die
Narkose zu übernehmen sind.

Wird eine Zahnbehandlung durch ein in der GgV aufgeführtes Geburtsgebrechen
unmittelbar erschwert, so können die Kosten der notwendigen Narkose, nicht aber
der Zahnbehandlung übernommen werden (Rz. 13 des Kreisschreibens über die
medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME]).
Diesbezüglich hat das kantonale Gericht unter Verweis auf Rz. 403.2 KSME
festgestellt, bei der Beschwerdeführerin sei das Geburtsgebrechen Oligophrenie
(Ziff. 403 GgV Anhang) nie diagnostiziert worden. Indessen haben sich weder
Vorinstanz noch Verwaltung dazu geäussert, ob die Zahnbehandlung aufgrund des
Albright-Syndroms unmittelbar erschwert wird. Auch diesbezüglich ist der
Sachverhalt - gegebenenfalls - zu ergänzen.

5.
Die Beschwerde ist begründet. In Anbetracht der Verletzung von Art. 61 lit. c
ATSG ist das neu eingereichte Gutachten des Dr. med. S.________ vom 1. April
2008 ein zulässiges neues Beweismittel (Art. 99 Abs. 1 BGG), dessen Kosten der
Beschwerdeführerin unter dem Titel Parteikostenersatz zu vergüten sind (Art. 68
BGG; BGE 115 V 62). Mangels Einreichung einer Honorarnote wird die
Entschädigung in Anbetracht des ersichtlichen Aufwandes ex aequo et bono auf
Fr. 1'500.- festgesetzt.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 7. März 2008 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Luzern vom 12. Februar 2007 aufgehoben werden
und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf medizinische
Massnahmen für die Extraktion zweier ankylosierter Milchzähne unter
Intubationsanästhesie neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von
Fr. 1'500.- zu bezahlen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. August 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann