Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 29/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_29/2008

Urteil vom 14. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
V.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Beratungsstelle für Ausländer, Schützengasse 7, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 28. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1953 geborene V.________ meldete sich im Dezember 2002 bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Abklärungen wies die IV-Stelle
des Kantons Zürich mit Verfügung vom 17. April 2003 das Leistungsbegehren ab.
Dagegen erhob V.________ Einsprache. Daraufhin liess die IV-Stelle die
Versicherte in der Universitätsklinik X.________, Abteilung Orthopädie,
untersuchen und begutachten (Expertise vom 29. Dezember 2003). Mit
Einspracheentscheid vom 29. März 2004 bestätigte sie die rentenablehnende
Verfügung.

In Gutheissung der Beschwerde der V.________ hob das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich mit Entscheid vom 31. März 2005 den Einspracheentscheid auf
und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese im Sinne der Erwägungen
verfahre und hernach über den Rentenanspruch neu verfüge.

Am 14. September 2005 wurde V.________ vom orthopädischen Chirurgen Dr. med.
S.________ untersucht und begutachtet (Expertise vom 17. September 2005). Mit
Verfügung vom 12. Oktober 2005 verneinte die IV-Stelle erneut einen
Rentenanspruch, woran sie mit Einspracheentscheid vom 28. Februar 2006
festhielt.

B.
Die Beschwerde der V.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 28. November 2007 ab.

C.
V.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 28. November 2007 sei aufzuheben und
es sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG und BGE 128 V
29 E. 1 S. 30) einen Invaliditätsgrad von höchstens 35 % ermittelt, was keinen
Anspruch auf eine Invalidenrente gibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Beim
Invalideneinkommen ist die Vorinstanz von einer trotz gesundheitlicher
Beeinträchtigung zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 100 % in einer leichten
wechselbelastenden Tätigkeit entsprechend der Einschätzung des Dr. med.
S.________ im Gutachten vom 17. September 2005 ausgegangen.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe den rechtserheblichen
Sachverhalt unrichtig und unvollständig festgestellt und damit Bundesrecht
verletzt. Zur Begründung führt sie u.a. an, das Gutachten des Dr. med.
S.________ sei nicht umfassend. Der Experte habe wesentliche von den Ärzten der
Universitätsklinik X.________ im Gutachten vom 29. Dezember 2003 festgestellte
Wirbelerkrankungen nicht gesehen. Der Gesundheitszustand habe sich seither
verschlechtert. Im Weitern seien zu Unrecht weder der psychische
Gesundheitszustand noch die Übergewichtigkeit und deren mögliche Auswirkungen
auf die Arbeitsfähigkeit abgeklärt worden.

3.1 Einem ärztlichen Bericht ist (voller) Beweiswert zuzuerkennen, wenn er für
die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht,
auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen
Situation und Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes
begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; Urteil 9C_178/2007 vom 25. Oktober
2007 E. 3.1).

Liegen eineinander widersprechende medizinische Berichte vor, darf das
kantonale Versicherungsgericht im Rahmen der Rechtsanwendung (unter Einschluss
der Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts) von Amtes wegen (Art.
61 lit. c und d ATSG) den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte
Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, weshalb es auf die eine
und nicht auf die andere medizinische These abstellt (BGE 125 V 351 E. 3a S.
352; RKUV 2003 Nr. U 487 S. 345 E. 5.1 [U 38/01]; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 90/07 vom 28. August 2007 E. 2.2).
3.2
3.2.1 Dr. med. S.________ stellte in seinem Gutachten vom 17. September 2005
folgende Diagnosen: «Chronifiziertes Lumbo-Vertebral-Syndrom bei leichter
Torsionsskoliose der LWS und Osteochondrosen L3/L4, (- keine Ischialgie; keine
Zeichen einer Nervenwurzelkompression); - Massive Adipositas mit BMI von 34; -
Depressives Zustandsbild». Er erachtete eine leichte Tätigkeit mit
Wechselbelastung (teilweise sitzend, teilweise stehend und teilweise gehend)
mit zusätzlichen Pausen von je zwei Viertelstunden am Vormittag und am
Nachmittag als zumutbar. Im Weitern hielt der Gutachter fest, das schwerfällige
und lethargische Bewegungsmuster mit depressiver Verstimmung habe er nicht zu
beurteilen.
3.2.2 Im Gutachten der Universitätsklinik X.________, Abteilung Orthopädie, vom
29. Dezember 2003 wurde eine Lumboischialgie links mit Verdacht auf
Nervenwurzelkompression L4 links bei Osteochondrose vom Typ Modic 1 L3/L4 mit
Discusprotrusion, Segmentdegeneration L2/L3, L4/L5 und L5/S1 sowie
degenerativen Veränderungen der Iliosakralgelenke beidseits diagnostiziert.
Aufgrund der Beschwerden wurden Arbeiten mit körperlicher Anstrengung als nicht
mehr zumutbar bezeichnet. Weiter hielten die Experten fest, die Explorandin
habe sich während der Untersuchung adäquat verhalten und die geschilderten
Beschwerden liessen sich weitestgehend mit den degenerativen Veränderungen in
Einklang bringen. Eine eigentliche Aggravationstendenz sei nicht erkennbar
gewesen.
3.3
3.3.1 Die beiden fachärztlichen Gutachten vom 17. September 2005 und vom 29.
Dezember 2003 weichen in Diagnose und Befund erheblich voneinander ab. Während
Dr. med. S.________ eine Ischialgie verneinte, gingen die Ärzte der
Universitätsklinik X.________ von einer chronischen Lumboischialgie links aus.
Im Weitern stellte Dr. med. S.________ aufgrund eines selber erstellten
konventionellen Röntgenbildes der LWS abgesehen von der Osteochondrose L3/L4 im
Wesentlichen keine signifikanten degenerativen Veränderungen fest. Über andere
Röntgenbilder hatte der Gutachter offenbar nicht verfügt. Demgegenüber konnten
sich die Ärzte der Universitätsklinik X.________ u.a. auf zwei MRI und ein CT
der LWS stützen. Ihr Wirbelsäulebefund war denn auch viel ausführlicher und
differenzierter. Danach bestanden ausgedehnte degenerative Veränderungen. Als
einzige therapeutische Massnahme wurde eine langstreckige ventrale und dorsale
Spondylodese von L2 bis S1 genannt. Allerdings äusserten die Experten Zweifel,
ob dadurch die angegebenen Beschwerden gelindert und die Arbeitsfähigkeit
gesteigert werden könnte. Schliesslich wurden im Gutachten der
Universitätsklinik X.________ auch degenerative Veränderungen der
Iliosakralgelenke beidseits erwähnt, welche Diagnose im Gutachten des Dr. med.
S.________ vom 17. September 2005 fehlte.
3.3.2 Unter diesen Umständen durfte das kantonale Gericht die Frage der
Arbeitsfähigkeit nicht im Sinne der Einschätzung im Gutachten des Dr. med.
S.________ vom 17. September 2005 entscheiden, ohne das Gutachten der
Universitätsklinik X.________ vom 29. Dezember 2003 in kritischer
Auseinandersetzung in die Würdigung miteinzubeziehen. Dazu bestand umso mehr
Anlass, als die Vorinstanz im Entscheid vom 31. März 2005 das Gutachten der
Universitätsklinik X.________ vom 29. Dezember 2003 bis auf die Frage der
Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit, wozu sich die Ärzte
nicht geäussert hatten, als schlüssig bezeichnete und überdies festhielt, dass
«weitere Ausführungen im Gutachten eher für eine weitgehende Arbeitsunfähigkeit
auch in einer leidensangepassten Tätigkeit» sprächen. Insoweit beruht die
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung auf einer qualifiziert unrichtigen
Beweiswürdigung und ist daher für das Bundesgericht nicht verbindlich (E. 1).
Dies gilt nicht in Bezug auf ein allfälliges psychisches Leiden sowie die
Adipositas. Daran ändert die weitgehend appellatorische Kritik in der
Beschwerde nichts. Das Vorbringen, die Beschwerdeführerin sei wegen starken
psychischen Beschwerden in ärztlicher Behandlung gestanden, ist im Übrigen neu
und daher unzulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG).

Die beiden Gutachten vom 29. Dezember 2003 und 17. September 2005 erlauben
keine zuverlässige Beurteilung der trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung aus
orthopädischer Sicht zumutbaren Arbeitsfähigkeit. Die Sache ist daher an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie ein Gerichtsgutachten einhole und
anschliessend über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu entscheide. In diesem Sinne ist die Beschwerde
begründet.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat bei diesem Verfahrensausgang die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. November 2007
aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne
der Erwägungen ein Gerichtsgutachten einhole und anschliessend über den
Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung neu
entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 14. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Meyer Fessler