Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 28/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_28/2008

Urteil vom 21. Juli 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
M._______, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Elda Bugada Aebli, Postfach, 8026 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 31. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1947 geborene, an Adipositas permagna, Status nach Magenbanding 1997,
chronischer Bronchitis bei Nikotinabusus, einer Herzkrankheit, einem Diabetes
mellitus und einer depressiven Erkrankung leidende M._______ bezog vom 1.
September bis 31. Dezember 2003 eine halbe und ab 1. Januar 2004 eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung. Das Gesuch um Zusprechung einer
Hilflosenentschädigung lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung
vom 13. Juli 2005 ab, woran sie mit Einspracheentscheid vom 21. März 2006
festhielt.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher M._______ die Aufhebung des
Einspracheentscheides und die Zusprechung einer Entschädigung für leichte
Hilflosigkeit, eventuell einer Entschädigung für lebenspraktische Begleitung,
beantragen liess, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit
Entscheid vom 31. Oktober 2007 ab.

C.
M._______ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit
dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr
rückwirkend ab 1. Januar 2004 eine Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit
für lebenspraktische Begleitung zuzusprechen. Ferner ersucht sie um die
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Gemäss Art. 42 Abs. 1 IVG haben Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem
Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung. Als hilflos gilt nach Art. 9 ATSG eine Person, die
wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen
dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Das Gesetz
unterscheidet zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit
(Art. 42 Abs. 2 IVG). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause
lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische
Begleitung angewiesen ist. Ist nur die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so
muss für die Annahme einer Hilflosigkeit mindestens ein Anspruch auf eine
Viertelsrente gegeben sein. Ist eine Person lediglich dauernd auf
lebenspraktische Begleitung angewiesen, so liegt immer eine leichte
Hilflosigkeit vor (Art. 42 Abs. 3 IVG). Die Hilflosigkeit gilt u.a. als
mittelschwer, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in
mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher
Weise auf die Hilfe Dritter und überdies dauernd auf lebenspraktische
Begleitung im Sinne von Art. 38 angewiesen ist (Art. 37 Abs. 2 lit. c IVV).
Nach Art. 38 Abs. 1 IVV liegt ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im
Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG auch vor, wenn eine volljährige versicherte Person
ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit für
Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer
Drittperson angewiesen ist (lit. b) oder ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd
von der Aussenwelt zu isolieren (lit.c). Zu berücksichtigen ist nur diejenige
lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit den in
Abs. 1 erwähnten Situationen erforderlich ist. Nicht darunter fallen
insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen
vormundschaftlicher Massnahmen nach Art. 398 bis 419 ZGB (Art. 38 Abs. 3 IVV).

2.2 In BGE 133 V 450 (vgl. auch BGE 133 V 472) hat sich das Bundesgericht mit
dem Begriff der lebenspraktischen Begleitung im Sinne der vorstehend zitierten,
seit 1. Januar 2004 in Kraft stehenden Bestimmungen befasst. Danach beinhaltet
die lebenspraktische Begleitung weder die (direkte oder indirekte) "Dritthilfe
bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen" noch die Pflege oder
Überwachung. Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und eigenständiges Institut
der Hilfe dar. Des Weiteren hat das Gericht die vom BSV in den
Verwaltungsweisungen vorgenommene Konkretisierung der Anwendungsfälle der
lebenspraktischen Begleitung als sachlich gerechtfertigt und damit als
gesetzes- und verordnungskonform erachtet (BGE 133 V 450 E. 9 S. 466). Sodann
ist gemäss dem nämlichen Urteil im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung nach
Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV die direkte und indirekte Dritthilfe zu
berücksichtigen. Demnach kann die Begleitperson die notwendigerweise
anfallenden Tätigkeiten auch selber ausführen, wenn die versicherte Person dazu
gesundheitsbedingt trotz Anleitung oder Überwachung/Kontrolle nicht in der Lage
ist (E. 10.2 S. 467).

3.
Streitig ist einzig, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Entschädigung
für leichte Hilflosigkeit hat, weil sie dauernd auf lebenspraktische Begleitung
angewiesen ist.

3.1 Die Vorinstanz hat die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 38 Abs. 1 lit.
a-c IVV verneint, weil nur Versicherte mit Beeinträchtigungen der psychischen
und geistigen Gesundheit Anspruch auf lebenspraktische Begleitung hätten. Da
die Beschwerdeführerin wegen ihres invalidisierenden Übergewichts auf
Dritthilfe bei bestimmten Verrichtungen und Kontakten ausser Haus angewiesen
ist und nicht in erster Linie aus psychischen Gründen, entfalle der Anspruch.
Die diagnostizierte depressive Erkrankung bedürfe offenbar keiner
medikamentösen Behandlung. Sodann bestünden keine Hinweise auf eine
Isolationsgefahr aus psychischen Gründen, verfüge doch die Beschwerdeführerin
nach wie vor über ein kleines, aber intaktes soziales Umfeld.

3.2 In BGE 133 V 450 E. 2.2.3 S. 455 und im Urteil I 317/06 vom 23. Oktober
2007 (SVR 2008 IV Nr. 26 S. 79) unter Hinweis auf den Wortlaut von Art. 42 Abs.
3 IVG und Art. 38 Abs. 1 und 2 IVV sowie die Entstehungsgeschichte der neuen
Gesetzesbestimmung hat das Bundesgericht erkannt, dass sich die Beschränkung
der lebenspraktischen Begleitung auf Versicherte mit psychischen oder geistigen
Behinderungen nicht begründen lässt. Soweit die Vorinstanz den Anspruch auf
lebenspraktische Begleitung wegen Fehlens einer psychischen oder geistigen
Behinderung ablehnt, kann ihr somit nicht gefolgt werden. Das
Sozialversicherungsgericht verneint den geltend gemachten Anspruch im Weiteren
mit dem Argument, bei der Beschwerdeführerin liege keine hinreichend schwere
psychische Erkrankung vor, welche eine fachärztliche Behandlung mit
Medikamenten notwendig macht. Wie es sich damit verhält und ob der Anspruch auf
lebenspraktische Begleitung infolge eines psychischen Leidens eine
medikamentöse Therapie und fachärztliche Behandlung erfordert, was die
Vorinstanz bejaht, die Beschwerdeführerin hingegen bezweifelt, braucht nicht
abschliessend geprüft zu werden. Denn der Schweregrad der psychischen
Erkrankung spielt im vorliegenden Fall keine entscheidende Rolle, wie aus den
nachstehenden Erwägungen erhellt.
3.3
3.3.1 Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf die in BGE 133 V 450 als gesetzes-
und verordnungskonform erachtete Verwaltungspraxis (Rz. 8051 des
Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der
Invalidenversicherung [KSIH] in der seit 1. Januar 2004 gültigen Fassung)
festgehalten, dass ein Bedarf an Begleitung bei ausserhäuslichen Verrichtungen
im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV dann angenommen werden kann, wenn eine
Person ohne Begleitung nicht in der Lage ist, das Haus für bestimmte notwendige
Verrichtungen und Kontakte (Einkaufen, Freizeitaktivitäten, Kontakte mit
Amtsstellen oder Medizinalpersonen) zu verlassen.
3.3.2 Das Sozialversicherungsgericht hat für das Bundesgericht verbindlich
(vgl. E. 1 hievor) festgestellt, dass die Beschwerdeführerin wegen ihres
invalidisierenden Übergewichts (Adipositas permagna mit BMI 57) für bestimmte
notwendige Verrichtungen und Kontakte ausser Haus auf Dritthilfe angewiesen ist
und hat für Einzelheiten auf den Abklärungsbericht für Hilflosenentschädigung
vom 11. Februar 2005 Bezug genommen. Die Abklärungsperson hat dazu
festgehalten, dass die Versicherte zu allen Terminen gefahren werden müsse; das
selbstständige Benützen öffentlicher Verkehrsmittel sei nicht mehr möglich. Mit
Bezug auf den Bereich Fortbewegung sei der Anspruch auf lebenspraktische
Begleitung ausgewiesen.

3.4 Aufgrund dieser Feststellungen ist der Bedarf an Begleitung bei
äusserhäuslichen Verrichtungen im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV
ausgewiesen, ist die Versicherte doch ausserstande, das Haus ohne Begleitung
für die erwähnten Besorgungen und Kontakte zu verlassen. Bei der vorinstanzlich
festgestellten Notwendigkeit einer Dritthilfe ist nach allgemeiner
Lebenserfahrung der Aufwand von mindestens zwei Stunden pro Woche für die
Besorgung von Einkäufen, die Einhaltung von Arztterminen, Pedicure, Coiffeur,
Post- und Bankbesuchen, zusammengenommen erfüllt. Damit kann offenbleiben, ob
auch die Voraussetzungen von Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV erfüllt wären.

4.
Art. 42 Abs. 3 IVG und die dazugehörenden Verordnungsbestimmungen (Art. 37 Abs.
3 lit. e und 38 IVV) sind am 1. Januar 2004 in Kraft getreten. Mit Blick auf
Art. 42 Abs. 4 Satz 2 IVG, wonach sich der Anspruchsbeginn nach Art. 29 Abs. 1
IVG richtet, und Art. 35 IVV sowie Art. 48 Abs. 2 IVG (betreffend die
Nachzahlung von Leistungen), die Anmeldung für eine Hilflosenentschädigung vom
14. Juli 2004 und den Umstand, dass die Beschwerdeführerin gemäss den
Feststellungen des kantonalen Gerichts und den diesen zugrunde liegenden
Arztberichten bereits seit vielen Jahren an der invalidisierenden Adipositas
permagna leidet, ist der Leistungsbeginn entsprechend dem Beschwerdeantrag auf
den 1. Januar 2004 festzusetzen.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der obsiegenden
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich
Verbeiständung, ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. Oktober 2007 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 21. März 2006
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Januar 2004
Anspruch auf eine Entschädigung für leichte Hilflosigkeit hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 21. Juli 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer