Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 288/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_288/2008

Urteil vom 16. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Borella, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Parteien
A.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Haas, Winkelriedstrasse
35, 6002 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
18. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a A.________, geboren 1958, war vom 2. November 1990 bis 1. Oktober 2000
(letzter Arbeitstag: 9. März 2000) als Sortiererin bei der X.________ AG tätig.
Am 5. September 2000 meldete sie sich unter Hinweis auf Rückenschmerzen,
bestehend seit 1997, bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Luzern holte einen Bericht ein beim damaligen Hausarzt
Dr. med. S.________, FMH für Allgemeinmedizin, vom 22. September 2000 (dem
weitere Berichte der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y.________ vom 12.
September 2000 sowie des Kantonsspitals Z.________ vom 6. April und 5. Mai 2000
beilagen) und führte erwerbliche Abklärungen durch. Mit undatiertem
Verlaufsbericht (eingegangen bei der IV-Stelle am 10. April 2001) meldete Dr.
med. S.________, der Gesundheitszustand der A.________ habe sich nicht
verändert. Am 29. Mai 2001 fand eine Abklärung im Haushalt der A.________
statt. Das von der IV-Stelle veranlasste psychiatrische Gutachten des
Kantonsspitals Z.________ (Psychiatriezentrum) erging am 5. Juli 2002. Mit
Vorbescheid vom 5. August 2002 stellte die IV-Stelle die Abweisung des
Rentenbegehrens (bei einem Invaliditätsgrad von 33 %) in Aussicht und verfügte
am 16. August 2002 entsprechend. Die nunmehr anwaltlich vertretene A.________
führte hiegegen Beschwerde, welche das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
mit Entscheid vom 18. Dezember 2003 abwies.
A.b Mit Eingabe vom 2. August 2004 liess A.________ durch ihren Hausarzt eine
Verschlechterung des Gesundheitszustandes geltend machen. Die IV-Stelle trat
mit Verfügung vom 24. November 2004 auf das Leistungsbegehren nicht ein, da
keine neuen Tatsachen geltend gemacht würden.
A.c Am 10. November 2005 liess der neue Hausarzt der A.________, Dr. med.
E.________, Allgemeinmedizin FMH, der IV-Stelle einen Bericht der Frau Dr. med.
W.________, Rheumatologie FMH, vom 22. Dezember 2004, zukommen und führte aus,
der Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Die IV-Stelle trat auf die
Neuanmeldung ein und wies das Leistungsbegehren (bei einem Invaliditätsgrad von
18 %) mit Verfügung vom 12. Januar 2006 ab. Hiegegen erhob A.________
Einsprache. Im Verlauf des Einspracheverfahrens reichte Dr. med. R.________ ein
Schreiben vom 27. Juni 2006 zu den Akten, aus welchem hervorgeht, dass
A.________ seit 16. März 2006 bei ihm in türkischer Sprache neuro-psychiatrisch
behandelt wird. Mit Einspracheentscheid vom 7. September 2006 bestätigte die
IV-Stelle ihre Verfügung.

B.
Die erneut anwaltlich vertretene A.________ liess hiegegen Beschwerde erheben,
welche das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 18. Februar
2008 abwies.

C.
Serife A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie des
Einspracheentscheides die gerichtliche Anordnung einer Begutachtung bei einem
türkisch-sprachigen Psychiater beantragen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen Abgrenzung
von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art. 16 ATSG]
für die Ermittlung des rentenbegründenden Invaliditätsgrades [Art. 28 Abs. 1
IVG]).

2.
Verwaltungs- und kantonales Gerichtsverfahren sind vom Untersuchungsgrundsatz
beherrscht (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben IV-Stelle und
Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die
Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende
Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum ? auf
Verwaltungs- und Gerichtsstufe in gleicher Weise geltenden ? Prinzip der freien
Beweiswürdigung (vgl. Art. 61 lit. c in fine ATSG; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar,
Zürich/Basel/Genf 2003, N 26 zu Art. 43) auf (einschliesslich die antizipierte
Beweiswürdigung; vgl. BGE 124 V 90 E. 4b S. 94, 122 V 157 E. 1d S. 162): Führt
die pflichtgemässe, umfassende und sachbezogene Beweiswürdigung (BGE 125 V 351
E. 3a S. 352) den Versicherungsträger oder das Gericht zur Überzeugung, der
Sachverhalt sei hinreichend abgeklärt, darf von weiteren Untersuchungen
(Beweismassnahmen) abgesehen werden. Ergibt die Beweiswürdigung jedoch, dass
erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher
getroffenen Tatsachenfeststellungen bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit
von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu
erwarten sind. Die Einhaltung des Untersuchungsgrundsatzes ist als Rechtsfrage
frei überprüfbar (BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f., 125 V 193 E. 2 S. 195, je mit
Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts I 110/07 vom 25. Juni 2007, E. 4.2.2),
ebenso die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG (BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 697/06 vom 23.
November 2006, E. 1). Nur eingeschränkt überprüfbar ist demgegenüber die
konkrete Beweiswürdigung.

3.
Streitgegenstand ist der Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung nach
rechtskräftiger Leistungsverweigerung wegen eines zu geringen
Invaliditätsgrades (Art. 87 Abs. 4 IVV) und in diesem Zusammenhang
insbesondere, ob das kantonale Gericht in Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der
Beschwerdeführerin zwischen dem Erlass der Verfügung vom 16. August 2002 und
dem Einspracheentscheid vom 7. September 2006 (vgl. BGE 130 V 71 E. 3.2.3 S. 75
ff.) verneint hat.

4.
4.1 Die Vorinstanz schützte die Beurteilung der IV-Stelle, wonach die
Versicherte an einer psychischen Störung leide, welche die Leistungsfähigkeit
um durchschnittlich 25 % vermindere. Sie erwog, die IV-Stelle habe gestützt auf
die Einschätzungen ihres RAD, abweichend von der Empfehlung der Frau Dr. med.
W.________, zu Recht auf weitere Abklärungen verzichtet. Auf die vom
behandelnden Dr. med. R.________ diagnostizierte Depression könne nicht
abgestellt werden. Diesem Arzt fehle es bereits an einer psychiatrischen
Fachausbildung und er lege ? soweit seine Einschätzungen überhaupt
berücksichtigt werden könnten ? in keiner Weise dar, wie sich die depressive
Störung in den letzten Jahren zum Nachteil der Versicherten entwickelt haben
solle. Eine fachärztlich festgestellte, seit Jahren anhaltende somatoforme
Schmerzstörung sei nicht ausgewiesen, vielmehr werde insbesondere auch im
psychiatrischen Gutachten vom 5. Juli 2002 lediglich ein entsprechender
Verdacht geäussert. Eine anspruchsrelevante Verschlechterung könne somit ohne
weitere Abklärungen verneint werden.

4.2 Die Versicherte rügt, Vorinstanz und IV-Stelle hätten in Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (weiterhin) auf das psychiatrische Gutachten vom 5.
Juli 2002 abgestellt und von einer Exploration durch einen türkisch-sprachigen
Psychiater abgesehen, obwohl Frau Dr. med. W.________ eine solche empfohlen und
Dr. med. R.________ eine 70%ige Arbeitunfähigkeit trotz adäquater
antidepressiver Behandlung attestiert habe.

5.
5.1 Es trifft zu, dass Frau Dr. med. W.________ eine Neuanmeldung bei der IV
als "gerechtfertigt" erachtete und eine polydisziplinäre, insbesondere auch
eine psychiatrische Begutachtung anregte. Sie begründete die Notwendigkeit
einer erneuten Exploration indessen einzig mit dem "glaubhaften Leidensdruck
der Patientin und ihrer Familie", ohne die von der Versicherten subjektiv
empfundene Verschlechterung objektiv zu begründen. Was die Einschätzungen des
die Beschwerdeführerin seit 16. März 2006 behandelnden Dr. med. R.________
betrifft, stellte dieser zunächst das chronische Lumbovertebralsyndrom (mit
abnormer Schmerzverarbeitung und Symptomausweitung bei Diskushernie L4/L5 und
Diskusdegeneration L3/L4; Schreiben an Hausarzt Dr. med. E.________ vom 16. Mai
2006) in den Vordergrund. Er führte aus, es bestehe eine typische
Immigrationsproblematik (Spannungsverhältnis zwischen den einfachen
Herkunftsverhältnissen und dem tiefen Bildungsniveau einerseits sowie der
hiesigen hochentwickelten Gesellschaft und der fremden Kultur anderseits), die
im Verbund mit körperlichen Bagatellschädigungen eine allmähliche
Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes bewirke. Die Versicherte
sei eindeutig depressiv mit diversen Symptomen (reduzierte Belastbarkeit,
deutlich verminderte Freude-Lustempfindung, starke Konzentrationsstörung,
Reizbarkeit, Schlafstörung, Unruhe, Antriebsverlust, sozialer Rückzug,
Libidoverlust etc.). In der Folge berichtete er über eine (erste) Behandlung
mit einem Antidepressivum (Efexor, 37,5 mg täglich, was der halben Dosierung
der für leichte bis mittelschwere Depressionen empfohlenen Standarddosis
entspricht; vgl. Fachinformation des Arzneimittel-Kompendiums der Schweiz
2008), die wegen Nebenwirkungen fehlgeschlagen sei. Bei Linderung der
Beschwerden wäre medizinisch-theoretisch eine Arbeitstätigkeit in der freien
Wirtschaft im Umfang von 40-50 % möglich; bis dahin bestehe eine erhebliche
Arbeitsunfähigkeit von über 70 %, welche möglicherweise "in den nächsten
Monaten" fortbestehen werde (Schreiben an die IV-Stelle vom 27. Juni 2006).
Schliesslich erklärte Dr. med. R.________ auf entsprechende Fragen der
Rechtsvertreterin der Versicherten am 2. Oktober 2006, seine Patientin leide an
einer chronifizierten, mindestens mittelgradigen Depression, einer somatoformen
Schmerzstörung bzw. einem chronischen Lumbovertebralsyndrom mit abnormer
Schmerzverarbeitung und Symptomausweitung sowie einer ausgeprägten Blutarmut
(Eisenmangelanämie). Die depressive Symptomatik sei im Jahre 2002 aufgetreten
und habe sich seit der letzten Begutachtung vom 5. Juli 2002 insofern
verschlechtert, als "eindeutig" eine Chronifizierung eingetreten sei. Aktuell
könne man von einer mindestens mittelgradigen Depression und einer ausgeprägten
somatoformen Schmerzstörung ausgehen. Die Erwerbsunfähigkeit bestehe seit dem
Jahre 2002 und habe nach seiner Beurteilung allmählich zugenommen; derzeit sei
die Versicherte für jegliche körperliche Tätigkeiten in der freien Wirtschaft
zu über 70 % arbeitsunfähig.

5.2 Nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid waren die von
Dr. med. R.________ zur Begründung der Depression angeführten Symptome bereits
zum Zeitpunkt der psychiatrischen Begutachtung vom 5. Juli 2002 vorhanden. So
schilderte die Beschwerdeführerin im Rahmen der damaligen Anamnese ausführlich,
dass sie nicht mehr belastbar, freudlos, nervös und reizbar sei, die Beziehung
zu ihrem Ehemann unter ihrem Zustand leide und sie zwar einschlafen könne,
indessen nachts häufig aufwache und den Schlaf nicht mehr finde. Weitergehende
oder zusätzliche Einschränkungen und Symptome lassen sich den Beurteilungen des
Dr. med. R.________ nicht entnehmen, so dass die Vorinstanz zu Recht davon
ausgegangen ist, es handle sich um eine andere Einschätzung eines im
Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhaltes durch den behandelnden (nicht
über eine psychiatrische Fachausbildung verfügenden) Arzt. Etwas entscheidend
anderes ergibt sich auch nicht aus dem Bericht von Dr. med. R.________ vom 2.
Oktober 2006, dessen Nichtberücksichtigung durch die Vorinstanz die
Beschwerdeführerin rügt. In Würdigung, dass sich Frau Dr. med. W.________
weitgehend auf die Schilderung der von der Versicherten subjektiv empfundenen
Verschlechterung beschränkte sowie lediglich eine psychologische Betreuung,
nicht aber eine psychiatrische Behandlung anregte und Dr. med. R.________ die
Verschlimmerung einzig mit der bereits erwähnten, nicht näher präzisierten
Chronifizierung begründete und im Übrigen lediglich eine äusserst niedrig
dosierte medikamentöse Behandlung als adäquat erachtete (E. 5.1 hievor), hat
das kantonale Gericht kein Bundesrecht verletzt, wenn es auf zusätzliche
Abklärungen verzichtete und gestützt auf die Beurteilung des RAD vom 2. und 3.
Februar 2005 eine anspruchsrelevante Veränderung des Gesundheitszustandes
verneinte.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 16. Mai 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:

Borella Bollinger Hammerle