Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 275/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_275/2008

Urteil vom 24. Juli 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Parteien
V.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Pierre Heusser,
Kernstrasse 8, 8026 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 8. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Vorbescheid vom 22. August 2007 teilte die IV-Stelle des Kantons Zürich
V.________ (geboren 1947) mit, dass sie ab 1. Juni 2005 Anspruch auf eine ganze
Rente habe. Gleichzeitig stellte sie der Versicherten ein Schreiben vom 21.
August 2007 zu, worin sie im Sinne der Schadenminderungspflicht einen
stationären Aufenthalt zwecks intensiver Psychotherapie und eine Erhöhung der
Psychopharmaka-Dosis ab sofort verlangte. Daraufhin gelangte der
Rechtsvertreter von V.________ an die IV-Stelle mit dem Begehren, es sei auf
die auferlegten Anordnungen zu verzichten. Ferner beantragte er die
unentgeltliche Verbeiständung für das Verwaltungsverfahren. Mit Verfügung vom
20. Dezember 2007 wies die IV-Stelle das Gesuch um unentgeltlichen
Rechtsbeistand ab. Zur Begründung führte sie an, das Auferlegen der
Schadenminderung stelle keine anfechtbare Verfügung dar. Zu einer solchen werde
es erst kommen, falls sie eine Verletzung der Pflicht zur Selbsteingliederung
feststellen und androhungsgemäss im Sinne von Art. 21 Abs. 4 ATSG die Rente
entziehen oder herabsetzen sollte. Das Begehren sei somit als aussichtslos
anzusehen, weshalb das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung abzuweisen
sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher V.________ die unentgeltliche
Verbeiständung für das Verwaltungsverfahren, eventuell die Rückweisung der
Sache an die IV-Stelle zum Erlass einer Verfügung über die auferlegten
Anordnungen, beantragte, wies der Einzelrichter der IV. Kammer des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich mit Entscheid vom 8. Februar
2008 ab.

C.
V.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, in Aufhebung des Entscheides vom 8. Februar 2008 sei das
Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese einen neuen Entscheid
im Kollegialgericht fälle. Eventuell sei die IV-Stelle zu verpflichten, die
auferlegten Anordnungen in Form einer einsprachefähigen Verfügung zu erlassen
und für das Verwaltungsverfahren die unentgeltliche Rechtsvertretung zu
bewilligen. Ferner sei ihr für das vorinstanzliche und das letztinstanzliche
Verfahren die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
In formeller Hinsicht wird beanstandet, dass der angefochtene Entscheid als
einzelrichterlicher Entscheid erging. Diese Rüge der funktionellen
Unzuständigkeit des Einzelrichters ist vorab zu prüfen, da bei deren
Begründetheit der angefochtene Entscheid ohne Prüfung der materiell streitigen
Fragen aufzuheben ist (vgl. BGE 125 V 499 E. 2c S. 502).

2.
2.1 Die Rechtspflegebestimmung des Art. 61 ATSG enthält keine Vorschrift über
die Zusammensetzung der kantonalen Versicherungsgerichte. Die Regelung dieser
Frage obliegt somit den Kantonen. Sowohl Art. 30 Abs. 1 BV als auch Art. 6
Ziff. 1 EMRK geben dem Einzelnen Anspruch auf richtige Besetzung des Gerichts
und Einhaltung der jeweils geltenden staatlichen Zuständigkeitsordnung (BGE 129
V 335 E. 1.3.1 S. 338, 128 V 82 E. 2a S. 84, 127 I 128 E. 3c S. 130, S. 196 E.
2b S. 198, 126 I 168 E. 2b S. 170; SVR 2000 UV Nr. 21 S. 72 E. 2a).

2.2 Die Verletzung von Grundrechten (einschliesslich der willkürlichen
Anwendung von kantonalem Recht und Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung,
BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 255) prüft das Bundesgericht nicht von Amtes wegen,
sondern nur insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254 mit
Hinweisen).

2.3 Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 lit. a und b BGG prüft das
Bundesgericht grundsätzlich frei, einschliesslich die Frage, ob die Auslegung
und Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im
Übrigen prüft das Bundesgericht die Handhabung kantonalen Rechts -
vorbehältlich der in Art. 95 lit. c und d BGG genannten Fälle - bloss auf
Willkür hin (Art. 9 BV; vgl. BGE 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f.). Mit freier
Kognition beurteilt es indessen die Frage, ob die als vertretbar erkannte
Auslegung des kantonalen Prozessrechts mit den genannten Garantien der Art. 30
Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist.

3.
3.1 Gemäss § 9 Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes über das
Sozialversicherungsgericht vom 7. März 1993 (GSVGer; LS 212.81) wird das
Gericht für seine Entscheide mit drei Richtern besetzt. Die voll- und
teilamtlichen Mitglieder des Gerichts entscheiden laut § 11 GSVGer als
Einzelrichterinnen und Einzelrichter Streitigkeiten, deren Streitwert Fr.
20'000.- nicht übersteigt (Abs. 1). Sie können das Verfahren in Fällen von
grundsätzlicher Bedeutung dem Gericht zur Behandlung in ordentlicher Besetzung
überweisen (Abs. 3). Aus dieser gesetzlichen Zuständigkeitsordnung ergibt sich
im Umkehrschluss, dass Verhandlung, Beratung und Urteilsfindung in
Dreierbesetzung zu erfolgen haben, wenn der Streitwert den Betrag von Fr.
20'000.- übersteigt oder wenn er nicht bestimmbar ist (Urteil A. vom 21.
Oktober 1999, I 494/98).

3.2 Der Einzelrichter sah sich für die Beurteilung der Beschwerde als zuständig
an mit der Begründung, der Streitwert übersteige Fr. 20'000.- nicht. Die
Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, in der vorliegenden
Streitsache handle es sich um einen nicht bestimmbaren Streitwert.
Streitgegenstand seien keine Leistungen oder Beiträge, sondern die an sie
gerichtete Anordnung, sich einer stationären Psychotherapie zu unterziehen und
die Dosis der Psychopharmaka zu erhöhen. Von diesem Streitgegenstand könne kein
Streitwert abgeleitet werden. Folglich liege auch kein Anwendungsfall für die
einzelrichterliche Zuständigkeit vor (Hinweis auf Christian Zünd, Kommentar zum
Gesetz über das Sozialversicherungsgericht vom 7. März 1993, Rz. 4 zu § 11).

3.3 Gegenstand der Verfügung der IV-Stelle vom 20. Dezember 2007 ist der
Anspruch der Beschwerdeführerin auf unentgeltlichen Rechtsbeistand im
IV-rechtlichen Abklärungsverfahren. Dementsprechend hat die IV-Stelle im
Dispositiv ihrer Verfügung das Gesuch um unentgeltlichen Rechtsbeistand
abgewiesen. In der vorinstanzlichen Beschwerde vom 30. Januar 2008 hat der
Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin den Antrag gestellt, es sei der
Beschwerdeführerin für das Verwaltungsverfahren bis zum Erlass der Verfügung
vom 20. Dezember 2007 die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Im
Eventualstandpunkt beantragte er, es sei das Verfahren an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit diese in Verfügungsform über die der Beschwerdeführerin
auferlegten Anordnungen entscheide. Im angefochtenen Entscheid vom 8. Februar
2008 hat der Einzelrichter ausgeführt, die Beschwerde richte sich zur
Hauptsache im Sinne einer Rechtsverweigerungsbeschwerde gegen die Weigerung der
IV-Stelle, in Verfügungsform über die der Beschwerdeführerin auferlegten
Anordnungen zu entscheiden. Er kam zum Schluss, die
Rechtsverweigerungsbeschwerde sei unbegründet und ohne weiteres abzuweisen. Die
Behandlung der Rechtsverweigerungsbeschwerde hätte jedoch mangels bestimmbaren
Streitwerts nicht einzelrichterlich erfolgen dürfen, sondern durch das
Kollegialgericht. Dies entspricht denn auch der Praxis der Vorinstanz (vgl.
Urteil der IV. Kammer des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom
14. Mai 2003 in Sachen A., UV.2002.00176). Der angefochtene Entscheid ist daher
aufzuheben, ohne dass zu den materiellen Streitfragen (Anspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren, Rechtsverweigerung im
Zusammenhang mit Anordnungen gestützt auf die Schadenminderungspflicht)
Stellung zu nehmen ist. Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden,
ob es sich bei einer vorinstanzlichen Beschwerde gegen die Verweigerung der
unentgeltlichen Verbeiständung für das Verwaltungsverfahren als solche
überhaupt um einen Gegenstand mit bestimmbarem Streitwert handelt.

4.
Als unterliegende Partei hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art.
66 Abs. 1 BGG) und überdies die Beschwerdeführerin zu entschädigen (Art. 68
Abs. 2 BGG). Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege
für das letztinstanzliche Verfahren ist daher gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der vorinstanzliche Entscheid vom 8. Februar
2008 aufgehoben und die Sache an das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich zurückgewiesen, damit dieses in richtiger Besetzung über die Beschwerde
vom 30. Januar 2008 gegen die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom
20. Dezember 2007 neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 24. Juli 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i. V. Lustenberger Nussbaumer