Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 26/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_26/2008

Urteil vom 26. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
B.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Schaffhauser, Seidenhofstrasse 14, 6003
Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 6. Dezember 2007.

Sachverhalt:

A.
B.________, geboren 1959, arbeitete als Rotationsdrucker in einem
Zeitungsverlag. Seit Februar 2002 leidet er an Multipler Sklerose (Ärztliches
Zeugnis Dr. med. Z.________, Facharzt FMH für Neurologie, vom 30. Juli 2003).
Am 17. Oktober 2003 meldete er sich bei der IV-Stelle Luzern zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Diese gewährte ihm Arbeitsvermittlung
und mit Verfügungen vom 2. September 2004, 13. Juni 2005, 7. November 2005 und
23. November 2006 erteilte sie Kostengutsprache für Amortisationsbeiträge an
das Motorfahrzeug, invaliditätsbedingte bauliche Änderungen am Wohnhaus
(Installation von Handläufen, Abgabe eines Treppenlifts) sowie die Abgabe eines
Elektrorollstuhles. Mit Verfügung vom 4. Januar 2005 verneinte sie den Anspruch
des Versicherten auf berufliche Massnahmen und Rente, weil er weiterhin zu 100
% bei seinem bisherigen Arbeitgeber tätig sei und einen unveränderten Lohn
ausgerichtet erhalte. Diese Verfügungen erwuchsen in Rechtskraft. B.________
reduzierte das Arbeitspensum als Drucker krankheitsbedingt zunächst auf 50 %
und wechselte auf Juni 2007 beim gleichen Beschäftigungsgrad als Allrounder in
den Hausdienst der Arbeitgeberin (Arbeitsvertrag vom 12. Februar 2007). Mit
Vorbescheid vom 31. Januar 2007 teilte die IV-Stelle mit, er habe ab dem 1.
September 2006 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Nach Einholung eines
weiteren Arbeitgeberberichts (vom 9. März 2007) sprach sie ihm mit Verfügungen
vom 10. Juli und 10. August 2007 ab 1. September 2006 bei einem
Invaliditätsgrad von 59 % eine halbe Rente zu.

B.
B.________ liess dagegen Beschwerde erheben und beantragen, die IV-Stelle sei
unter Aufhebung der angefochtenen Verfügungen zu verpflichten, ihm eine
Dreiviertels-, eventuell eine ganze Rente zuzusprechen; subeventuell sei die
Sache zur Aktenergänzung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 6.
Dezember 2007 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Beschwerde ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und erneuert die vorinstanzlich gestellten Begehren.
Vorinstanz und Verwaltung beantragen Abweisung der Beschwerde; das Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art.
16 ATSG] für die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 28 Abs. 1 IVG).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Umfang des Anspruchs auf Invalidenrente. In der
Sache wird vorgebracht, die Vorinstanz sei, ohne ausreichende Abklärungen
getätigt oder veranlasst zu haben, davon ausgegangen, der Beschwerdeführer
könne eine leidensangepasste Tätigkeit zu 50 % voll ausüben; hinsichtlich des
Valideneinkommens seien der Teuerungsausgleich und die Reallohnerhöhung nicht
richtig ermittelt und berücksichtigt worden; zudem habe sie beim Invalidenlohn
eine Soziallohnkomponente beim noch erzielten Verdienst zu Unrecht verneint.

3.
Dr. med. Z.________ attestierte dem Beschwerdeführer im Bericht vom 24.
November 2006 eine Arbeitsfähigkeit von 50 % ab September 2005. Er bezeichnete
die nach dem Stellenwechsel übernommene Tätigkeit (Abwartsarbeiten und
Kontrolle technischer Einrichtungen) als an sich optimal; andernorts sei keine
höhere Arbeitsfähigkeit zu erwarten; der gesundheitliche Zustand sei stabil,
längerfristig müsse krankheitsgemäss mit einer Verschlechterung gerechnet
werden. Der Beschwerdeführer rügt, auf Grund gesundheitlicher Erschwernisse
(vermehrte Ermüdbarkeit, reduzierte Gehfähigkeit, notwendige Ruhepausen) könne
bei der Berechnung des IV-Grades nicht von einer Arbeitsfähigkeit von 50 %
ausgegangen werden. Indessen ergibt sich aus dem Bericht von Dr. med.
Z.________ klar, dass die erwähnten Einschränkungen ("deswegen" Abliegen vor
dem Mittagessen und am Nachmittag) bereits in die reduzierte Zahl der
Arbeitsstunden (7-11 Uhr) eingeflossen sind. Der Beschwerdeführer macht auch
nicht geltend, sein Gesundheitszustand habe sich nach dem Attest vom 24.
November 2006 bis zum Erlass der Verfügungen im Sommer 2007 verschlechtert.
Dies ergibt sich auch nicht daraus, dass der Arzt eine künftige
Verschlechterung längerfristig erwartet. Wenn die Vorinstanz darum zum Schluss
gelangte, dem Beschwerdeführer sei die angepasste Erwerbstätigkeit weiterhin zu
50 % möglich und zumutbar und damit eine anspruchsrelevante Verschlimmerung des
Gesundheitszustandes verneint, beruht dies nicht auf einer mangelhaften
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts. Ob die effektiv geleisteten
vier täglichen Arbeitsstunden genau 50 % der im Betrieb üblichen Arbeitszeit
entsprechen, ändert daran nichts. Die (antizipierte) Beweiswürdigung verstösst
auch sonstwie nicht gegen Bundesrecht, zumal von einer willkürlichen
Beweiswürdigung nicht bereits dann gesprochen werden kann, wenn eine andere
Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst,
wenn der Entscheid offensichtlich unhaltbar ist und zur tatsächlichen Situation
in klarem Widerspruch steht (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56). So verhält es sich hier
nicht; insbesondere liegt auch keine von der Einschätzung von Dr. med.
Z.________ abweichende ärztliche Bewertung der Arbeitsfähigkeit vor.

4.
Hinsichtlich des anrechenbaren Valideneinkommens (hypothetisches Einkommen ohne
Gesundheitsschaden) bringt der Beschwerdeführer wie vor der kantonalen Instanz
vor, mutmassliche Lohnerhöhungen aus Reallohnzuwachs und Teuerungsausgleich
seien bis zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses im Juli/August 2007
aufzurechnen. Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, sind für den
Einkommensvergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt des Beginns des eventuellen
Rentenanspruchs massgebend, wobei das Valideneinkommen und das
Invalideneinkommen auf zeitidentischer Grundlage zu ermitteln und allfällige
rentenwirksame Änderungen der Vergleichseinkommen bis zum Verfügungserlass mit
einer zeitlich gestaffelten Leistungszusprechung zu berücksichtigen sind (BGE
129 V 222 E. 4.1 und 4.2; Urteil vom 15. April 2003 [I 1/03] E. 5.1, je mit
Hinweisen). Der Beschwerdeführer macht nicht das Letztere geltend, sondern
beantragt eine auf den Zeitpunkt des Auflebens des Anspruchs an die
Lohnentwicklung schematisch angepasste Rente. In den Akten finden sich keine
Anhaltspunkte dafür, dass sich das Einkommen in der neuen Tätigkeit anders
entwickelt hat als das hypothetische Einkommen in der angestammten Stelle als
Drucker. Bei der Ermittlung der Vergleichseinkommen auf zeitidentischer
Grundlage wären somit beide Löhne um den gleichen Prozentsatz anzuheben; so
wird der Effekt auf den IV-Grad durch eine Erhöhung auf der einen Seite durch
die Auswirkung auf der anderen neutralisiert. Jedoch genügt die vorinstanzliche
Ermittlung des Invaliditätsgrades dem Erfordernis der Gleichzeitigkeit der
Berechnungsgrundlage nicht: Zur Berechnung des Valideneinkommens wird in E. 4a
auf die Ausführungen im Schreiben des Verwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2007
verwiesen. Dort ist dargelegt, das betreffende Einkommen sei an die
Reallohnentwicklung der Jahre 2005 und 2006 anzupassen. Dem so errechneten
Betrag von Fr. 81'272.- per 1. September 2006 stellt das Gericht das ab 1. Juni
2007 vertraglich vereinbarte Invalideneinkommen von Fr. 33'150.- entgegen, was
einen IV-Grad von 59,21 % ergibt. Eine zeitidentische Grundlage erfordert, dass
hier das Invalideneinkommen auf das Jahr des Rentenbeginns 2006 indexiert wird.
Die Nominallohnerhöhung betrug im Jahre 2007 durchschnittlich 1,6 % gegenüber
2006 (Medienmitteilung des Bundesamtes für Statistik vom 30. April 2008). Das
im Jahre 2007 erzielte Einkommen ist entsprechend auf das Jahr 2006
zurückzurechnen. Bei dem so für den Zeitpunkt des Rentenbeginns errechneten
Invalideneinkommen von Fr. 32'628.- (= Fr. 33'150.- : 101.6 x 100) ergibt sich
im Vergleich mit dem vorinstanzlich festgesetzten Valideneinkommen von Fr.
81'272.- für das Jahr 2006 ein Invaliditätsgrad von 59,85 %, der nach der
Rechtsprechung (BGE 130 V 121 E. 3 S. 122 f.) auf 60 % aufzurunden ist und dem
Beschwerdeführer Anspruch auf eine Dreiviertelsrente verschafft.

5.
5.1 Wie die Vorinstanz richtig dargelegt hat, bildet der von invaliden
Versicherten tatsächlich erzielte Verdienst für sich allein betrachtet
grundsätzlich kein genügendes Kriterium für die Bestimmung der
Erwerbsunfähigkeit, d.h. des Invaliditätsgrades. Das Mass der tatsächlichen
Erwerbseinbusse stimmt mit dem Umfang der Invalidität vielmehr nur dann
überein, wenn - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse eine
Bezugnahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch erübrigen, wenn die
versicherte Person eine Tätigkeit ausübt, bei der anzunehmen ist, dass sie die
ihr verbliebene Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und wenn
das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn
erscheint (BGE 126 V 75 E. 3b/aa S. 76, 117 V E. 2c/aa S. 18 mit Hinweisen).
Nach Art. 25 Abs. 1 lit. b IVV gehören Lohnbestandteile, für die der
Arbeitnehmer nachgewiesenermassen wegen beschränkter Arbeitsfähigkeit keine
Gegenleistung erbringen kann, nicht zu dem für die Invaliditätsbemessung
massgebenden Erwerbseinkommen. Praxisgemäss sind an den Nachweis von Soziallohn
indessen strenge Anforderungen zu stellen, da vom Grundsatz ausgegangen werden
muss, dass ausbezahlte Löhne normalerweise das Äquivalent einer entsprechenden
Arbeitsleistung sind (BGE 117 V 18).

5.2 Der Beschwerdeführer verlangt sinngemäss die Senkung des bei der Berechnung
des IV-Grades massgebenden Invalideneinkommens, da es sich hier um Soziallohn
handle. Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass aus den Akten keine
Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die Einkünfte am neuen Arbeitsplatz
nicht den effektiven Leistungen entsprochen haben. Wie sie zu Recht darauf
hingewiesen hat, erscheint das auf ein volles Pensum aufgerechnete Salär von
Fr. 5100.- - verglichen mit dem Lohn als Drucker von Fr. 6213.- im Jahr 2005 -
als angemessen und nicht zu hoch (Differenz 18 %). Diese Einschätzung bestätigt
sich auf Grund der Tabellenlöhne der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes
für Statistik (hier: LSE 2006, Tabelle TA1, Anforderungsniveau 3). Im Bereich
"Verlag, Druck, Vervielfältigung" betrug der standardisierte Monatslohn der
Männer Fr. 6599.-, im Total aller Wirtschaftszweige Fr. 5608.-. Die Differenz
ist hier mit 15 % sogar kleiner als im Vergleich der in den konkreten
Anstellungen des Beschwerdeführers erzielten Einkommen, was ebenfalls gegen
einen Soziallohn nach dem Arbeitsplatzwechsel spricht.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG), die zudem dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung auszurichten hat (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern vom 6. Dezember 2007 und die Verfügungen der IV-Stelle Luzern
vom 10. Juli und 10. August 2007 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass
der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Dreiviertelsrente hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Abgaberechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse der graphischen und
papierverarbeitenden Industrie der Schweiz und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 26. Mai 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz