Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 264/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_264/2008

Urteil vom 16. Oktober 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Borella, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
D.________
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marc F. Suter, Zentralstrasse 47,
2502 Biel,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 12. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
Am 2. Juli 2003 wurde dem 1946 geborenen und seit 1968 in der Schweiz als
Bau-Hilfsarbeiter tätigen D.________ an L4/5 eine Bandscheibenprothese
eingesetzt. Wegen Rückenbeschwerden meldete er sich am 16. Oktober 2003 bei der
IV-Stelle Bern zum Bezug von Leistungen an. Diese holte den Bericht des
behandelnden Arztes Dr. med. S.________, Facharzt FMH für Innere Medizin, (vom
19. November 2003) sowie des Arbeitgebers ein. Zunächst sprach sie D.________
Massnahmen in Form von Berufsberatung zu (Verfügung vom 5. Dezember 2003). Mit
Verfügung vom 16. September 2004 gewährte sie ihm vom 1. September bis 30.
November 2004 eine Wiedereingliederung beim bisherigen Arbeitgeber. Im
Schlussbericht vom 20. Dezember 2004 hielt ihre Abteilung für berufliche
Eingliederung fest, dass der Versicherte beim angestammten Arbeitgeber als
Allrounder in einem Pensum von 30 % angestellt bleibe, und beantragte die
Prüfung weiterer Leistungsansprüche. In der Folge liess die IV-Stelle
D.________ von Dr. med. R.________, Spezialarzt FMH für Neurochirurgie,
untersuchen und begutachten (Expertise vom 1. Februar 2006). Gestützt darauf
sprach sie dem Versicherten mit Verfügung vom 16. Mai 2006 für die Zeit vom 1.
Oktober 2003 bis 29. Februar 2004 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine
ganze Rente zu. Sie stellte fest, ab dem 1. März 2004 bestehe bei einem
Invaliditätsgrad von 22 % kein Leistungsanspruch mehr. D.________ erhob
Einsprache, worauf die IV-Stelle nach Einholen eines Berichts des Operateurs
Dr. med. C.________, Spezialarzt FMH für orthopädische Chirurgie und
Traumatologie des Bewegungsapparates (vom 18. September 2006) eine
Nachbegutachtung durch Dr. med. R.________ anordnete (Gutachten vom 5. Februar
2007). Mit Einspracheentscheid vom 18. Juli 2007 hielt die IV-Stelle nach
Ermittlung eines Invaliditätsgrades von 35,4 % an der Zusprechung der wie
bisher befristeten Rente fest.

B.
Hiegegen liess D.________ Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern
führen und beantragen, es sei ihm ab 1. März 2004 eine ganze Rente
auszurichten; eventuell sei die Sache zum Neuentscheid an die Verwaltung
zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 12. Februar 2008 wies das Verwaltungsgericht
die Beschwerde ab.

C.
D.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und erneuert die vorinstanzlich gestellten Anträge.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde; das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art.
16 ATSG] für die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 28 Abs. 2 IVG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die zugesprochene ganze Rente zu Recht mit
Wirkung ab 1. März 2004 aufgehoben wurde. Vorinstanz und Verwaltung haben in
formell-, materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht die für die Beurteilung des
Leistungsanspruchs massgeblichen Grundlagen sowie die diesbezügliche
Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Der Beschwerdeführer rügt, Vorinstanz und Verwaltung hätten den
rechtserheblichen medizinischen Sachverhalt unvollständig festgestellt und
unrichtig gewürdigt. Zu prüfen ist somit, ob die vorhandenen medizinischen
Akten beweiskräftig sind und die Beantwortung der Frage nach Art und Ausmass
der Arbeitsunfähigkeit und - für den Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung massgebend - nach dem Grad der Erwerbsunfähigkeit
gestatten.

4.
4.1 Was die in der Beschwerde geäusserte Kritik an der medizinischen
Beurteilung durch Dr. med. R.________ betrifft, ist vorab anzumerken, dass es
sich bei den Stellungnahmen der Dres. med. S.________ und C.________ nicht um
Expertisen handelt, die den gleichen Beweiswert haben wie ein
Administrativgutachten, sondern um Berichte behandelnder Ärzte. Nach der
Rechtsprechung sind solche auf Grund der Verschiedenheit von Expertise und
Therapie (zuletzt Urteil 9C_705/2007 vom 18. August 2008 E. 4.1.1 mit
zahlreichen Hinweisen) grundsätzlich mit Vorbehalt zu würdigen (BGE 125 V 351
E. 3b/cc S. 353). Dem Experten Dr. med. R.________ standen alle ärztlichen
Berichte zur Verfügung, so auch die der behandelnden Ärzte, die umgekehrt
offenbar nicht Einsicht in das Gutachten hatten. Auch hat er sich mit den
Berichten auseinandergesetzt, wobei er sich im ersten Gutachten vom 1. Februar
2006 zu den späteren Stellungnahmen des Dr. med. C.________ vom 30. Mai und 12.
Juni 2006 noch nicht äussern konnte; aber im zweiten Gutachten vom 5. Februar
2007 begründete er, warum die von jenem neu diagnostizierte Diskushernie L5/S1
keine weiteren Untersuchungen rechtfertige. Er legte auch dar, dass die in den
Dokumenten erwähnte Gonarthrose keine Rolle spiele. Ferner setzte er sich mit
dem Lumboischialgie-Rezidiv auseinander, das für Dr. med. C.________ bei der
Festlegung des Grades der Arbeitsfähigkeit ausschlaggebend war. Die Angaben des
Dr. med. R.________ zur Entwicklung der Arbeitsfähigkeit in der angestammten
und einer leidensangepassten Tätigkeit sind stimmig. Das Administrativgutachten
wird sämtlichen von der Rechtsprechung (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis)
gestellten Anforderungen gerecht und die Vorinstanz hat zu Recht darauf
abgestellt.

4.2 Zu den konkreten Vorbringen in der Beschwerde bleibt anzumerken: Es war Dr.
med. R.________ bekannt, dass es um eine Wiedereingliederung gemäss Verfügung
der Invalidenversicherung ging. Da der Gutachter ohnehin von einer vollen
Arbeitsunfähigkeit im Baugewerbe ausging, hatte der Arbeitsversuch in eben
diesem Gewerbe bei der Erstattung des Gutachtens keine Bedeutung. Da sich die
in Art. 3 lit. b der Beschwerde angegebenen Bescheinigungen der
Arbeitsunfähigkeit auf die bisherige Tätigkeit bezogen, ist der auf
leidensangepasste Tätigkeiten gemünzte Einwand irrelevant. Entgegen den
Ausführungen des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz auch nicht auf den
Bericht des Dr. med. S.________ vom 13. November 2003 abgestellt, sondern auf
die Gutachten des Dr. med. R.________. Der Einwand, Verwaltung und Vorinstanz
würden aus dem erwähnten Hausarztbericht Folgerungen ableiten, die darin nicht
enthalten seien, ist damit nicht erheblich. Der Gutachter Dr. med. R.________
hat sich entgegen den beschwerdeführerischen Angaben mit der
Krankheitsentwicklung und den entsprechenden Angaben der behandelnden Ärzte
auseinandergesetzt. Aus dem zweiten Gutachten geht hervor, dass Dr. med.
R.________ über die Berichte der Dres. med. S.________ und C.________ verfügte.

4.3 Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung einer medizinisch-theoretisch
vollen Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit ist nicht offensichtlich
unrichtig und daher für das Bundesgericht verbindlich. Hingegen ist der Beginn
der Arbeitsfähigkeit unklar. Gemäss dem Bericht des Dr. med. S.________ vom 13.
November 2003 bestand volle Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit ab dem
Zeitpunkt der "Genesung". Der Experte Dr. med. R.________ äusserte sich nicht
zu den Verhältnissen in der Zeit vor der Begutachtung. Gemäss der Empfehlung
des Operateurs Dr. med. C.________ arbeitete der Beschwerdeführer soweit
ersichtlich bis August 2004 nicht. Offenbar bezog er zunächst bis Oktober 2003
den Lohn vom Arbeitgeber und danach Krankentaggeld. Die Frage nach dem genauen
Beginn der vollen Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit kann aber
offen bleiben (vgl. unten E. 5).

5.
Von der Vorinstanz unvollständig festgestellt sind die erwerblichen
Auswirkungen des Leidens, indem die konkreten Umstände nicht berücksichtigt
wurden:

5.1 Der Beschwerdeführer erhielt am 5. Dezember 2003 Eingliederungsmassnahmen
zugesprochen. Später arbeitete er von der Invalidenversicherung vermittelt von
September bis November 2004 beim bisherigen Arbeitgeber. Offenbar hatte die
IV-Berufsberatung zumindest faktisch die Empfehlung des Operateurs Dr. med.
C.________ akzeptiert, der Beschwerdeführer solle bis Beginn September 2004
nicht arbeiten; sie hat ihm keine angepasste Arbeit vermittelt und soweit
ersichtlich auch keine solche Tätigkeit von ihm verlangt. Darum kann nach Treu
und Glauben später im Rentenverfahren nicht verlangt werden, dass er in dieser
Zeit eine angepasste Arbeit hätte suchen sollen, um ihm mit dieser Begründung
eine Rente zu verweigern.

5.2 Kein Anspruch mehr auf eine Invalidenrente bestand aber in der
Zwischenphase von September bis November 2004 während der
Eingliederungsmassnahme beim bisherigen Arbeitgeber und dem Bezug von
Invalidentaggeld (Art. 43 Abs. 2 IVG).

5.3 Für die Zeit nach dem 1. Januar 2005 hielt die IV-Abteilung für berufliche
Eingliederung im Schlussbericht vom 20. Dezember 2004 fest, der Versicherte
bleibe beim bisherigen Arbeitgeber in einem Pensum von 30 % als Allrounder
angestellt. Sie betrachtete dies offenbar als befriedigende Lösung, denn sie
beantragte die Prüfung weiterer Leistungsansprüche. In der Folge hat der
Beschwerdeführer anscheinend in einem 20-Prozent-Pensum gearbeitet, aber
offenbar mit einem Zeitaufwand von vier bis fünf Stunden täglich, wie dem
zweiten Gutachten des Dr. med. R.________ zu entnehmen ist. Wenn der
Beschwerdeführer jedoch zu einem nur 20-prozentigen Lohn einen halben Tag
arbeitete, kann nicht erwartet werden, dass daneben noch ein Einkommen erzielt
wird, welches insgesamt das von der Vorinstanz ermittelte Invalideneinkommen
ergab. Nachdem die IV-Berufsberatung selber die Lösung mit der teilzeitlichen
Beschäftigung beim früheren Arbeitgeber empfohlen hatte, wäre es
widersprüchlich, vom Beschwerdeführer nachträglich zu verlangen, er hätte
anstatt dieser Arbeit eine angepasste Vollzeitstelle finden sollen, hat er doch
diese Teilzeittätigkeit in guten Treuen ausgeübt. Zumutbar gewesen wäre
höchstens, dass er neben der halbtätigen Beschäftigung beim bisherigen
Arbeitgeber einen weiteren halben Tag einer angepassten leichten Tätigkeit
nachgekommen wäre. Mit seinem Lohn von 20 % beim ehemaligen Arbeitgeber und
einem solchen von 50 % in einer angepassten Tätigkeit hätte er
höchstwahrscheinlich Anspruch auf eine Teilrente gehabt.

5.4 Im angefochtenen Entscheid finden sich keine näheren Angaben über die
erwerblichen Verhältnisse bis zum späteren Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem
Betrieb des bisherigen Arbeitgebers (vermutlich in der Zeit nach der
Bescheinigung der vollständigen Arbeitsunfähigkeit ab 24. April 2006). Dies ist
noch abzuklären. Für die anschliessende Phase ist angesichts der konkreten
Umstände - der ehemalige Bauarbeiter war schon über 60 Jahre alt - näher zu
prüfen, welche Arbeiten für ihn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch in Frage
kamen.

6.
Zusammenfassend ist von der nicht offensichtlich unrichtigen und daher für das
Bundesgericht verbindlichen Feststellung auszugehen, dass der Beschwerdeführer
ungefähr ab Jahresbeginn 2004 in einer angepassten Tätigkeit grundsätzlich voll
arbeitsfähig war. Wegen der damals laufenden Begleitung bei der beruflichen
Eingliederung und entsprechenden Mitverantwortung der Beschwerdegegnerin
bestand der Anspruch auf eine ganze Rente zunächst bis Ende August 2004, unter
Vorbehalt eines allfälligen Drittauszahlungsanspruches des
Krankentaggeldversicherers. Während der Monate September bis November 2004 fiel
der Rentenanspruch wegen der IV-Taggeldzahlungen dahin. Für die Zeit ab
Dezember 2004 sind die erwerblichen Auswirkungen noch im Sinne der Erwägungen
abzuklären; danach ist über den Rentenanspruch neu zu verfügen.

7.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG), die zudem dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung auszurichten hat (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 12. Februar 2008 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle
Bern vom 18. Juli 2007 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Bern
zurückgewiesen, damit sie nach ergänzenden Abklärungen im Sinne der Erwägungen
über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Invalidenrente neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, der
Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Oktober 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:

Borella Schmutz