Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 236/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_236/2008

Urteil vom 4. August 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Borella, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
J.________, 1962, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Franz P. Oesch, Pestalozzistrasse 2, 9000 St.
Gallen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 14. Februar 2004 (recte: 2008).

Sachverhalt:

A.
Die 1962 geborene J.________ meldete sich im März 2002 bei der
Invalidenversicherung an und ersuchte um eine Rente. Nach Abklärungen und
Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihr die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen mit Verfügungen vom 16. März und 25. April 2007 bei einem
Invaliditätsgrad von 47 % ab 1. März 2002 eine Viertelsrente zu.

B.
Die Beschwerden der J.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen nach Vereinigung der Verfahren mit Entscheid vom 14. Februar 2004
(recte: 2008) ab.

C.
J.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 14. Februar 2004 (recte: 2008) sei
aufzuheben und es sei festzustellen, dass ihre Arbeitsfähigkeit weniger und
demzufolge der Invaliditätsgrad mehr als 60 % betrage; eventuell sei
festzustellen, dass das zumutbare Invalideneinkommen weniger als Fr. 24'000.-
und damit der Invaliditätsgrad mehr als 60 % betrage; sodann sei die Sache zur
Neufestlegung der Rente an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und
das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann
nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom
Bundesgericht ebenfalls zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95
lit. a BGG dar (Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz,
Bern 20 N. 24 zu Art. 97 BGG).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Begriffe
der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG in
der bis 31. Dezember 2007 gültigen Fassung), die Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG), den Umfang des Rentenanspruchs
(Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2007 gültigen Fassung), die Aufgabe
des Arztes oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256
E. 4 S. 261) sowie den Beweiswert und die Würdigung medizinischer Berichte und
Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 und 122 V 157 E. 1c S. 161) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2 Streitig ist der Umfang des Rentenanspruchs resp. die Bemessung des diesem
zugrunde liegenden Invaliditätsgrades.

3.
Die Vorinstanz hat in Bestätigung der Verfügungen vom 16. März und 25. April
2007 einen Invaliditätsgrad von mindestens 50 % und damit einen Anspruch auf
mehr als eine Viertelsrente ausgeschlossen. Dabei hat sie dem Gutachten des
Ärztlichen Instituts X.________ vom 22. Januar 2004, welches für eine
adaptierte Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 75 % ausweist, vollen Beweiswert
beigemessen. Die im Bericht des Dr. med. G.________ vom 5. Mai 2006 erwähnte
Depression habe sich nicht erst nach Erstellung des Gutachtens des Ärztlichen
Instituts X.________ manifestiert. Vielmehr sei die psychische Problematik
bereits knapp ein Jahr nach dem Autounfall vom 31. März 2001 zum Vorschein
gekommen und habe im Vergleich zu den somatischen Beeinträchtigungen auch ein
erhebliches Gewicht. Konkrete Hinweise auf eine Verschlechterung der
psychischen oder somatischen Situation seither lägen nicht vor, vielmehr
schienen die Beschwerden seit längerem unverändert. Daher sei weiterhin davon
auszugehen, dass die Beschwerdeführerin in einer adaptierten Tätigkeit zu 75 %
arbeitsfähig sei. In Bezug auf die Verwertbarkeit der verbleibenden
Arbeitsfähigkeit hat das kantonale Gericht auf die Erwägung 3g seines
Entscheids vom 25. Januar 2006 betreffend Leistungen der Unfallversicherung
verwiesen (vgl. Verfahren U 129/06 des Eidg. Versicherungsgerichts). Damals
hatte es die Verwertung der Restarbeitsfähigkeit für zumutbar gehalten und dem
Gesundheitsschaden angepasste Arbeitsstellen als in zureichender Zahl vorhanden
erachtet. Schliesslich ist es der Auffassung, die Verwaltung habe bei der
Festsetzung des Invalideneinkommens zu Recht auf die Tabellenlöhne der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) abgestellt. Hievon habe sie einen
Abzug von 10 % anerkannt, was im Rahmen des Ermessens liege und dem Fall
angemessen sei.

4.
4.1 Die Versicherte räumt ein, sie habe sich mit der im Gutachten des
Ärztlichen Instituts X.________ vom 22. Januar 2004 ausgewiesenen
Arbeitsfähigkeit von 75 % für diesen Zeitpunkt abzufinden. Hingegen macht sie
geltend, ihr Gesundheitszustand habe sich seither verschlechtert, weshalb
weitere medizinische Untersuchungen geboten seien.

Die vorinstanzliche Feststellung, wonach keine konkreten Hinweise auf eine
Verschlechterung der psychischen oder somatischen Situation seit Januar 2004
vorlägen, ist nicht offensichtlich unrichtig. Sie beruht auf der Würdigung
mehrerer ärztlicher Berichte (Dr. med. G.________ vom 5. Mai und 20. September
2006, Dr. med. H.________ vom 23. September 2004, Klinik R.________ vom 18.
Oktober und 9. November 2005 sowie 24. Februar 2006). Auch aus den übrigen
Akten ergibt sich nichts anderes. So liess die Beschwerdeführerin am 20. März
2006 mitteilen, nach Überzeugung der behandelnden Ärzte sei ihr Zustand stabil.
Gemäss Bericht der Ergotherapeutin vom 5. April 2006 hat sie nach eigener
Angabe mehr im Haushalt gemacht, bei immer gleichen Schmerzen. In der Klinik
R.________ (Bericht vom 4. Oktober 2006) sprach sie von einem unveränderten
Zustand, sie habe noch genau die gleichen Schmerzen und sei fortlaufend wenig
belastbar. Dr. med. G.________ sprach im Bericht vom 5. Mai 2006 von einer
geplanten "Verstärkung" der psychotherapeutischen Behandlung; dass eine solche
Therapie aber überhaupt stattgefunden hat, geht aus den Akten nicht hervor.
Gesundheitliche Probleme des Ehemannes, schulische Schwierigkeiten des Sohnes
und eine angespannte finanzielle Situation mögen wohl belastend wirken. Diese
Tatsachen stellen aber auch keine genügenden Anhaltspunkte für eine
Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin dar. Der
Verzicht auf weitere medizinische Abklärungen erfolgt somit in pflichtgemässer
antizipierter Beweiswürdigung (BGE 122 V 157 E. 1d S. 162). Weder beruht die
Feststellung des kantonalen Gerichts, wonach die Beschwerdeführerin in einer
adaptierten Tätigkeit zu 75 % arbeitsfähig sei, auf einer Rechtsverletzung noch
ist sie offensichtlich unrichtig.

4.2 Die Beschwerdeführerin bringt weiter vor, sie habe keine berufliche
Ausbildung und könne daher nur körperliche oder einfache, repetitive
Tätigkeiten ausführen. Als Strickerin sei sie arbeitsunfähig und eine andere
körperlich leichte Arbeit sei nicht erkennbar. Bei repetitiven Aufgaben sei
zwingend ein vorgegebener Rhythmus einzuhalten. Fände sie tatsächlich eine
Arbeitsstelle mit frei einteilbarer Arbeit, entspreche dies jedenfalls nicht
einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage.

Dass die Vorinstanz unter Verweis auf ein früheres Urteil von der
Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen ausgeglichenen
Arbeitsmarkt ausgegangen ist, beruht weder auf einer mangelhaften Feststellung
des Sachverhalts noch verstösst es sonst wie gegen Bundesrecht (vgl. Urteil
8C_489/2007 vom 28. Dezember 2007 E. 4.1; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 350/89 vom 30. April 1991 E. 3b [ZAK 1991 S. 318 ff.]).
Das Finden einer zumutbaren Stelle erscheint nicht zum Vornherein als
ausgeschlossen. Insbesondere gibt es keine Hinweise, dass die Versicherte nur
eine frei einteilbare Arbeit ausüben kann, zumal ihr gemäss Gutachten des
Ärztlichen Instituts X.________ vom 22. Januar 2004 eine Tätigkeit im Umfang
von sechs bis acht Stunden täglich zumutbar ist. In Industrie und Gewerbe
werden Arbeiten, die physische Kraft erfordern, in zunehmendem Mass durch
Maschinen verrichtet, während den körperlich weniger belastenden Bedienungs-
und Überwachungsfunktionen eine stetig wachsende Bedeutung zukommt. Auch im
Dienstleistungssektor gibt es entsprechende Stellen. Ausserdem sind an die
Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten praxisgemäss
nicht übermässige Anforderungen zu stellen (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 349/01 vom 3. Dezember 2003 E. 6.1).

4.3 Schliesslich macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung der
Begründungspflicht geltend. Es sei unklar, inwiefern bei der Festlegung des
Invalideneinkommens auf die Tabellenlöhne der LSE abgestellt worden sei. Bei
Anwendung eines Tabellenlohnes sei aufgrund der vorliegenden Umstände ein Abzug
von 25 % angemessen. Bereits die Annahme eines Jahreseinkommens von Fr.
24'000.- sei optimistisch.
4.3.1 Auf der beruflich-erwerblichen Stufe der Invaliditätsbemessung
charakterisieren sich als Rechtsfragen die Regeln über die Durchführung des
Einkommensvergleichs (BGE 130 V 348 Erw. 3.4, 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw.
2a und b), einschliesslich derjenigen über die Anwendung der LSE (BGE 129 V 475
f. Erw. 4.2.1, 126 V 77 Erw. 3b/bb, 124 V 322 f. Erw. 3b/aa). Die Feststellung
der beiden hypothetischen Vergleichseinkommen stellt sich als Tatfrage dar,
soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage,
soweit sich der Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet.
Letzteres betrifft etwa die Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind, welches die
massgebliche Tabelle ist und ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig
begründeter) Abzug vorzunehmen sei. Demgegenüber beschlägt der Umgang mit den
Zahlen in der massgeblichen LSE-Tabelle eine Tatfrage. Schliesslich ist die
Frage nach der Höhe des Abzuges eine typische Ermessensfrage, deren
Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das
kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat (BGE 132 V 393 E.
3.3 S. 399).
4.3.2 Es wird nicht geltend gemacht, dass die Beschwerdeführerin seit Eintritt
des Gesundheitsschadens eine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe. Es ist daher
nicht zu beanstanden, wenn mangels eines tatsächlich erzielten Verdienstes zur
Ermittlung des - hypothetischen - Invalideneinkommens Tabellenlöhne der LSE
herangezogen werden (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475).
4.3.3 Ob und in welchem Ausmass Tabellenlöhne herabzusetzen sind, ist von
sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des konkreten Einzelfalls
(leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/
Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) abhängig. Der Einfluss sämtlicher
Merkmale auf das Invalideneinkommen ist nach pflichtgemässem Ermessen
gesamthaft zu schätzen, wobei der Abzug auf höchstens 25 % zu begrenzen ist
(BGE 129 V 472 E. 4.3.2. S. 481, 126 V 75). Inwiefern der von der Verwaltung
vorgenommene und von der Vorinstanz bestätigte Abzug von 10 % eine
rechtsfehlerhafte Ermessensausübung (Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder
-unterschreitung) darstellen soll, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht
dargelegt (vgl. Urteil 9C_382/2007 vom 13. November 2007 E. 6).
4.3.4 In den Verfügungen vom 16. März und 25. April 2007 wurde das
Invalideneinkommen zwar nicht näher begründet, doch wendete die IV-Stelle
offensichtlich usanzgemäss LSE-Tabellen an.

Den Betrag von Fr. 32'036.- (für das Jahr 2006) setzte die Verwaltung
jedenfalls nicht zu hoch an, ergibt sich doch bereits für das Jahr 2002 unter
Berücksichtigung der Tabelle 1 Niveau 4 Total Frauen, der betriebsüblichen
höheren wöchentlichen Arbeitszeit und der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit (Fr.
3'820 x 12 : 40 x 41,7 x 0,75 x 0,9) ein höheres Invalideneinkommen. In Bezug
auf das bereits vor Vorinstanz nicht mehr umstrittene Valideneinkommen erhebt
die Beschwerdeführerin keine Rüge. Ein Invaliditätsgrad von mehr als 47 % ist
daher auszuschliessen. Selbst wenn eine - substanziiert gerügte (Art. 106 Abs.
2 BGG) - Verletzung der Begründungspflicht vorläge, könnte dies für den Ausgang
des Verfahrens nicht entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).

4.4 Nach dem Gesagten verletzt der angefochtene Entscheid Bundesrecht nicht;
die Beschwerde ist unbegründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. August 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:

Borella Dormann