Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 230/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_230/2008, 9C_232/2008

Urteil vom 28. Juli 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Ettlin.

Parteien
9C_230/2008
G.________, Beschwerdeführerin,

und

9C_232/2008
D.________, Beschwerdeführer,
beide vertreten durch Fürsprecher Daniel Hadorn, Axenstrasse 3, 6440 Brunnen,

gegen

Schweizerische Ausgleichskasse, avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen die Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung III,
vom 30. Januar und 4. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügungen vom 19. April 2006 lehnte die Schweizerische Ausgleichskasse
die Gesuche der 1958 geborenen G.________ sowie des 1956 geborenen D.________
zum Beitritt zur freiwilligen Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung (AHV/IV) ab, da die Antragsteller unmittelbar vor dem
Ausscheiden aus der obligatorischen AHV/IV nicht während mindestens fünf
aufeinander folgenden Jahren obligatorisch versichert gewesen seien. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheiden vom 21. und 22. August 2006 fest.

B.
Die von G.________ und D.________ hiegegen erhobenen Beschwerden wies das
Bundesverwaltungsgericht mit Entscheiden vom 30. Januar und 4. Februar 2008 ab.

C.
G.________ und D.________ lassen Beschwerden in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten führen und beantragen, es sei, in Aufhebung der
vorinstanzlichen Entscheide, die Schweizerische Ausgleichskasse zu
verpflichten, sie in die freiwillige AHV/IV aufzunehmen.

Die Schweizerische Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerden. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Da den zwei Beschwerden derselbe Sachverhalt zugrunde liegt und sich die
gleichen Rechtsfragen stellen, rechtfertigt es sich, die Verfahren entsprechend
dem Antrag der Beschwerdeführenden zu vereinigen und in einem einzigen Urteil
zu erledigen, dies ungeachtet des Umstandes, dass zwei separate Entscheide
ergangen sind (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 192
E. 1 S. 194).

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Gemäss Art. 105 Abs. 1 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; Ausnahme: Beschwerden
gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG [Art. 105 Abs. 3 BGG]). Zu den Rechtsverletzungen
gemäss Art. 95 lit. a BGG gehören namentlich auch die unvollständige
(gerichtliche) Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen (Urteile 9C_40/2007
vom 31. Juli 2007, E. 1, 9C_360/2007 vom 30. August 2007, E. 3; Ulrich Meyer, N
25, 36 und 58-61 zu Art. 105, in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler
Kommentar Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008 [nachfolgend: BSK BGG]; Hansjörg
Seiler/Nicolas von Werdt/ Andreas Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern
2007, N 24 zu Art. 97) und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes als
einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteile 9C_539/2007 vom 31. Januar
2008, E. 1, 8C_364/2007 vom 19. November 2007, E. 3.3; BSK BGG-Meyer, N 60 zu
Art. 105; vgl. auch Markus Schott, N 17 zu Art. 97, in: BSK BGG).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen über den freiwilligen
Beitritt zur AHV/IV richtig wieder gegeben (Art. 2 Abs. 1 AHVG und Art. 8 VFV).
Darauf kann verwiesen werden. Zu ergänzen ist, dass gemäss Art. 1a Abs. 1 lit.
a AHVG die natürlichen Personen mit Wohnsitz in der Schweiz obligatorisch bei
der AHV/IV versichert sind.

3.2 Unbestritten sind die Beschwerdeführenden seit 22. September 2005 in
X.________ wohnhaft. Die Aufnahme in die freiwillige AHV setzt somit voraus,
dass sie seit September 2000 ununterbrochen obligatorisch versichert waren.

4.
4.1 Das Bundesverwaltungsgericht erwog, die Beschwerdeführer wiesen im
relevanten Zeitraum (April/September 2004 bis Ende Juni 2005) infolge Wegzuges
nach X.________ eine mehrmonatige Lücke in der Versichertenzeit auf.
Demgegenüber machen die Gesuchsteller geltend, den Wohnsitzwechsel erst im
September 2005 vollzogen und bis ins Jahr 2006 Beiträge an die obligatorische
AHV/IV entrichtet zu haben. Sie stellen sich mithin auf den Standpunkt,
gestützt auf Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG bis September 2005 obligatorisch
versichert gewesen zu sein.

4.2 Der Wohnsitz im Sinne von Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG bestimmt sich, von
hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nach den
Artikeln 23-26 des Zivilgesetzbuches (BGE 105 V 136; Hanspeter Käser,
Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2. Aufl., N 1.19;
Greber/Duc/Scartazzini, Commentaire des articles 1 à 16 de la loi fédérale sur
l'assurance-vieillesse et survivants, S. 53 N 90; vgl. auch Art. 95a AHVG, in
Kraft gestanden vom 1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2002, sowie Art. 13 Abs. 1
ATSG). Gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer Person an dem
Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Für die
Begründung eines Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: Ein
objektives äusseres, der Aufenthalt, und ein subjektives inneres, die Absicht
dauernden Verbleibens. Dabei kommt es nicht auf den inneren Willen an.
Entscheidend ist, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv
schliessen lassen. Die betreffende Person muss sich den Aufenthaltsort zum
Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen gemacht haben. Nicht massgebend ist, ob sie
eine fremdenpolizeiliche Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung besitzt
(BGE 125 V 76 E. 2a S. 77 f. mit Hinweisen, 133 V 309 E. 3.1 S. 312, Urteil I
486/00 vom 30. September 2004 E. 2.1 publiziert in: SVR 2005 IV Nr. 20 S. 79;
Urteil 9C_294/2007 E. 6.2.1 publiziert in: SVR 2008 IV Nr. 25 S. 76 und SZS
2008 S. 171). Der Wohnsitz bleibt an diesem Ort bestehen, solange nicht
anderswo ein neuer begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB).

4.3 Der Rechtsanspruch, der freiwilligen AHV/IV beitreten zu können, richtet
sich in der hier zu beurteilenden Sache entscheidend danach, ob die
Beschwerdeführenden mit dem ersten Aufenthalt in X.________ (April oder
September 2004 bis ca. Ende Juni 2005) einen neuen Wohnsitz begründet haben.
Falls es sich so verhielte, hätte die Vorinstanz zu Recht geschlossen, ein
Beitritt sei nicht möglich (Art. 2 Abs. 1 AHVG, Art. 8 Abs. 1 VFV). Wäre
hingegen ein Wohnsitzwechsel frühestens ab September 2005 anzunehmen, so gälte
die Fünfjahresfrist gemäss Art. 2 Abs. 1 AHVG wohl als erfüllt, wenn zugleich
für das Jahr 2005 - wie behauptet - Beiträge an die obligatorische AHV/IV
entrichtet worden sind. Ebenso hätten die beschwerdeführenden Eheleute
diesfalls mit der Beitrittserklärung zur AHV/IV vom 31. Januar 2006 (Eingang
bei der Auslandsvertretung am 14. Februar 2006) die Anmeldefrist von längstens
einem Jahr nach Ausscheiden aus der obligatorischen AHV/IV anscheinend
eingehalten (Art. 8 Abs. 1 VFV).

5.
Das Bundesverwaltungsgericht hat auf der Grundlage der Angaben der
Einwohnerkontrolle Y.________ die Feststellung getroffen, die Beschwerdeführer
seien vom 27. April 2004 bis Ende Juni 2005 nach X.________ gezogen. Damit ist
jedoch bloss die einwohnerkontrollmässige Behandlung, nicht aber der
zivilrechtliche Wohnsitz festgestellt, handelt es sich doch hiebei um nicht
mehr als ein Indiz für einen Wohnsitzwechsel. Aus den behördlichen Angaben
lässt sich folglich nicht zwingend eine Wohnsitznahme im Jahr 2004 in
X.________ ableiten (Urteil 2A.393/1999 vom 28. Januar 2000, E. 3c; ZAK 1990 S.
247 E. 3a). Unter diesen Umständen hat die Vorinstanz den rechtserheblichen
Sachverhalt unvollständig festgestellt (E. 2). Mit Blick auf die gesetzliche
Untersuchungspflicht war dieser indes von Amtes wegen zu erheben (Art. 37 VGG
in Verbindung mit Art. 12 VwVG), umso mehr als die Gesuchsteller bereits in den
Einsprachen gegen die Verfügungen vom 19. April 2006 geltend gemacht haben, der
erste Aufenthalt in X.________ (ab April oder September 2004) sei nicht
definitiv gewesen und sie hätten in der Zeit ihrer Abwesenheit weiterhin
Beiträge an die AHV/IV bezahlt. Letztes setzt voraus, dass die zuständige
Ausgleichskasse (SVA Zürich) vom Weiterbestehen der obligatorischen
Versicherung ausgegangen ist (vgl. Beitragsverfügungen vom 29. Januar 2004, 27.
Januar 2005 und 26. Januar 2006). Die Frage, ob die beschwerdeführenden
Eheleute ihren Wohnsitz über das Jahr 2004 hinaus in der Schweiz behalten
haben, ist folglich vom vorinstanzlichen Gericht von Amtes wegen zu prüfen.
Daher ist die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zur neuen Entscheidung
zurückzuweisen.

6.
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 68 Abs. 1 BGG) zu tragen und den Beschwerdeführenden eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 9C_230/2008 und 9C_232/2008 werden vereinigt.

2.
Die Beschwerden werden gutgeheissen und die Entscheide des
Bundesverwaltungsgerichtes, Abteilung III, vom 30. Januar und vom 4. Februar
2008 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie
über die Beschwerden gegen die Einspracheverfügungen vom 21. und 22. August
2006 der Schweizerischen Ausgleichskasse im Sinne der Erwägungen neu
entscheide.

3.
Die Gerichtskosten von insgesamt Fr. 1'000.- werden der Beschwerdegegnerin
auferlegt.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführenden für das bundesgerichtliche
Verfahren mit insgesamt Fr. 2'500.- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 28. Juli 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i.V. Kernen Ettlin