Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 22/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_22/2008

Urteil vom 20. August 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Ettlin.

Parteien
M.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecherin Daniela Mathys, Sulgeneckstrasse 37, 3007 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 20. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 1. November 2005 sprach die IV-Stelle Bern der 1952 geborenen
M.________ ab 1. November 2005 eine halbe Rente der Invalidenversicherung bei
einem Invaliditätsgrad von 50 % zu. Am 3. Januar 2006 verfügte sie ab 1. Juli
2000 bis 31. Oktober 2005 einen Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Daran
hielt die IV-Stelle auf erhobene Einsprachen hin fest (Entscheid vom 12. März
2007).

B.
Die von M.________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 20. November 2007 in dem
Sinne teilweise gut, als es ab 1. Januar 2004 bis 31. Juli 2005 eine
Dreiviertelsrente und ab 1. August 2005 bis 31. Dezember 2005 eine ganze
Invalidenrente zusprach.

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, die IV-Stelle sei zu verpflichten, ab 1. Juli 2000 bis 31. Juli
2005 und ab 1. Januar 2006 höhere Rentenleistungen auszurichten.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG).
Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es
kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 8
ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruches
(Art. 28 Abs. 1 IVG sowohl in der bis zum 31. Dezember 2003 als auch in der bis
zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung) und die Bemessung des
Invaliditätsgrades nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) richtig
wieder gegeben. Weiter lässt sich dem angefochtenen Entscheid korrekt
entnehmen, nach welchen Grundsätzen das Validen- und Invalideneinkommen zu
ermitteln ist (BGE 129 V 222 E. 4.3.1 S. 224, 129 V 472 E. 4.2.1, 124 V 321 E.
3b/bb S. 323 f.). Darauf kann verwiesen werden.

3.
Streitig und zu prüfen ist die Frage, ob die Vorinstanz zur Bestimmung des
Invalideneinkommens die Tabelle TA7, Tätigkeit 23 (andere
kaufmännisch-administrative Tätigkeiten), Anforderungsniveau 4, der
Lohnstrukturerhebung des Bundes (LSE) heranziehen durfte oder ob die Tabelle
TA1, Anforderungsniveau 4, Total Frauen, massgeblich ist.

4.
4.1 Als Rechtsfragen charakterisieren sich die gesetzlichen und
rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des Einkommensvergleichs
(BGE 130 V 348 E. 3.4, 128 V 30 E. 1, 104 V 136 E. 2a und b), einschliesslich
derjenigen über die Anwendung der LSE (BGE 129 V 475 f. E. 4.2.1, 126 V 77 E.
3b/bb, 124 V 322 f. E. 3b/aa). In dieser Sicht stellt sich die Feststellung der
beiden hypothetischen Vergleichseinkommen als Tatfrage dar, soweit sie auf
konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der
Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letztes betrifft etwa
die Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind, welches die massgebliche Tabelle
ist und ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Leidensabzug
vorzunehmen sei. Demgegenüber beschlägt der Umgang mit den Zahlen in der
massgeblichen LSE-Tabelle Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

4.2 Die Vorinstanz stellte fest, die Beschwerdeführerin sei vom 15. Februar
1988 bis Ende Februar 2000 als Innendienstmitarbeiterin einer
Versicherungsgesellschaft angestellt gewesen und sie habe allgemeine
Büroarbeiten verrichtet. Eine zumutbare Verweistätigkeit habe sie bis anhin
keine aufgenommen. Mit Blick auf das ärztlich attestierte Zumutbarkeitsprofil
sowie den Umstand, dass die Versicherte während Jahren in der
Versicherungsbranche gearbeitet habe, sei davon auszugehen, ihr stünden in
erster Linie Tätigkeiten in diesem angestammten Tätigkeitsfeld offen, weshalb
sich ihre Stellensuche als Invalide vermutungsweise auf diesen Bereich
konzentrieren werde. Dies rechtfertige, das Invalideneinkommen auf der Basis
der Tabelle TA7, Tätigkeit 23, Anforderungsniveau 4, zu ermitteln.
Die Beschwerdeführerin bestätigt die vom kantonalen Gericht festgestellten
beruflichen Verhältnisse hinsichtlich Arbeitgeber, Dauer und Branche als
richtig. Sie rügt indes, die Vorinstanz gehe im Rahmen einer auf einer
offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsfeststellung beruhenden Würdigung davon
aus, es stünden ihr vor allem Tätigkeiten im angestammten Bereich offen, da sie
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Valide heute noch im
Versicherungsgewerbe tätig wäre. Weiter trägt sie vor, von ihrem ehemaligen
Arbeitgeber ausschliesslich für Archivierungsarbeiten eingesetzt worden zu sein
und über keine breite und allgemeine Erfahrung im Bürobereich zu verfügen. Eine
entsprechende Beschäftigung lasse sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr finden.
4.2.1 Zwar ist im Rahmen der Ermittlung des Invalidenlohnes für die Auswahl der
LSE-Tabelle von vornherein unmassgeblich, welcher Tätigkeit die Versicherte im
Gesundheitsfall nachginge, beschlägt dies doch allein die Frage des
Validenlohnes. Im angefochtenen Entscheid ist allerdings auch die nicht
offensichtlich unrichtig festgestellte und daher das Bundesgericht bindende
(Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 BGG) Zumutbarkeitseinschätzung von
ausschlaggebendem Gewicht, wonach die Tätigkeit der Bürohilfe gleich wie jede
andere körperlich leichte bis mittelschwere Beschäftigung im Umfang von 60 %
zumutbar ist. Im Lichte dessen ist das mit der Tabelle TA7, Tätigkeit 23,
gewählte kaufmännisch-administrative Berufsfeld den Leiden angepasst und die
Tabelle entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten.
4.2.2 Das vorinstanzliche Gericht stellte fest, die Beschwerdeführerin habe
allgemeine Büroarbeiten verrichtet. Für die zu entscheidenden Belange reicht
diese Feststellung aus, da die Einordnung der vormals ausgeübten Arbeit als
eine Beschäftigung gemäss LSE-Tabelle TA7, Tätigkeit 23, Anforderungsniveau 4,
aus rechtlicher Sicht auch dann nicht zu beanstanden ist, wenn die Darstellung
der Versicherten zutreffen sollte, wonach sie ausschliesslich
Archivierungsarbeiten ausgeführt habe. Denn das Anforderungsniveau 4
kennzeichnet sich durch einfache und repetitive Arbeiten, welche gerade keine
breite Berufserfahrung bedingen (anders Anforderungsniveau 3). Mit der
rechtskonformen Zuordnung der angestammten Arbeit unter die LSE-Tabelle TA7,
Tätigkeit 23, ist die von der Beschwerdeführerin vertretene Sichtweise
widerlegt, der ausgeglichene Arbeitsmarkt kenne die Beschäftigung der Bürohilfe
- wie sie vor Eintritt der Gesundheitsbeeinträchtigung ausgeübt worden ist -
nicht mehr. Sämtliche Tätigkeitsfelder, die im Rahmen der LSE-Tabellen
statistisch ausgewertet werden, sind auf dem Arbeitsmarkt vorhanden, ansonsten
Lohnerhebungen nicht möglich wären. Da die Verwendung der LSE-Tabellen die
Bezugnahme zur ehemals innegehabten Arbeitsstelle obsolet macht, ist nicht von
Belang, ob das Arbeitsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen aufgelöst worden
ist und der Arbeitsplatz heute noch besteht. Die Umstände, welche zur Auflösung
eines bestimmten Arbeitsverhältnisses geführt haben, lassen - entgegen der
Ansicht der Beschwerdeführerin - ohnehin keinen Schluss auf die Existenz einer
ganzen Berufssparte zu, so dass die Vorinstanz die Wahl der LSE-Tabelle
vornehmen konnte, ohne Feststellungen zum Weiterbestand der früheren
Arbeitsstelle oder zum Grund der Beendigung des Arbeitsvertrages treffen zu
müssen. Ausserdem hat das kantonale Gericht das Valideneinkommen auf der Basis
der angestammten Beschäftigung der Bürohilfe in der Versicherungsbranche
ermittelt, was von der Beschwerdeführerin nicht bemängelt wird. In dieser
Hinsicht gilt der Grundsatz, dass von demjenigen Lohn auszugehen ist, den die
versicherte Person im Gesundheitsfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
verdienen würde (vgl. zur Publikation vorgesehenes Urteil 8C_255/2007 vom 12.
Juni 2008 E. 4.1). Es wäre in sich widersprüchlich, für das Valideneinkommen
eine einfache Bürotätigkeit zur Grundlage zu nehmen, sie indes bei der
Festlegung des Invalidenlohnes als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht
vorhanden auszuschliessen.
4.2.3 Das Bundesgericht hat im Urteil 9C_237/2007 vom 24. August 2007 (nicht
veröffentliche E. 5 von BGE 134 V 545) festgehalten, auf den Wert "Total
Privater Sektor" abzustellen rechtfertige sich namentlich dort, wo der
versicherten Person die angestammte Tätigkeit nicht mehr zumutbar sei und sie
darauf angewiesen ist, ein neues Betätigungsfeld zu suchen, wobei grundsätzlich
der ganze Bereich des Arbeitsmarktes zur Verfügung stehe. Auch könne es sich
nach den konkreten Umständen des Einzelfalls rechtfertigen, anstatt auf die
Tabelle TA1 ("Privater Sektor") auf die Tabelle TA7 ("Privater Sektor und
öffentlicher Sektor [Bund] zusammen") abzustellen, wenn dies eine genauere
Festsetzung des Invalideneinkommens erlaube und dem Versicherten der
entsprechende Sektor offen stehe und zumutbar sei (RKUV 2000 Nr. U 405 S. 399
[Urteil U 66/00 vom 19. September 2000 E. 3b]; vgl. auch Urteil 9C_87/2007 vom
25. Juli 2007 E. 3.4).
Nach Massgabe dieser Rechtsprechung durfte die Vorinstanz die Tabelle TA7
verwenden - welche nicht nach Wirtschaftszweigen, sondern nach Tätigkeiten
gegliedert ist - ohne eine Verletzung von Bundesrecht zu begehen. Die in der
genannten Tabelle ausgewiesene kaufmännisch-administrative Tätigkeit (Tätigkeit
23, Anforderungsniveau 4) ist zumutbar und das kantonale Gericht schloss
korrekt, die Versicherte werde im Hinblick auf die zurückgelegte Berufskarriere
vermutungsweise in diesem angestammten Betätigungsfeld einen Arbeitsplatz
suchen. Die Wahl der LSE-Tabelle ist rechtlich nicht zu beanstanden.

5.
5.1 Die Beschwerdeführerin dringt mit der Rüge nicht durch, die Vorinstanz habe
den Gehörsanspruch verletzt, indem sie im Gegensatz zur IV-Stelle nicht die
LSE-Tabelle TA1, sondern die Tabelle TA7 beigezogen habe, ohne ihr Gelegenheit
zu geben, sich vorgängig dazu zu äussern. Bei der Wahl der LSE-Tabelle handelt
es sich um eine Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). Die Behörden wenden
das Recht von Amtes wegen an (Art. 51 Abs. 1 des Gesetzes über die
Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern [VRPG], Art. 106 Abs. 1 BGG). Daher
besteht im Allgemeinen kein Anspruch der Parteien, sich vorgängig zur
rechtlichen Beurteilung der Sachlage zu äussern. Falls indes die Behörde einen
Entscheid auf eine Norm oder eine rechtliche Begründung abstützen will, welche
im Verfahren bis anhin nicht aufgeworfen worden ist und mit deren Anwendung die
Parteien nicht rechnen mussten, so ist ihnen Gelegenheit zu geben, sich
vorgängig dazu zu äussern (BGE 115 Ia 94 E. 1b S. 96).
Die Versicherte vertrat im vorinstanzlichen Verfahren in genereller Weise den
Standpunkt, das Invalideneinkommen sei gestützt auf die LSE-Tabellen zu
ermitteln. Unter diesen Umständen und mit Blick auf die Tatsache, dass bei der
Wahl der massgeblichen Tabelle von vornherein ein gewisser
Beurteilungsspielraum besteht (Urteil 9C_237/2007 vom 24. August 2007 a.a.O.),
findet mit dem Beizug einer anderen als der Tabelle TA1 nicht eine
Rechtsanwendung statt, mit welcher schlechthin nicht zu rechnen war. Das
vorinstanzliche Gericht beging daher keine Gehörsverletzung, indem es der
Beschwerdeführerin nicht Gelegenheit gab, sich vorgängig zum Entscheid zur
gewählten Tabelle TA7 zu äussern.

5.2 Unbegründet ist schliesslich die Rüge der Beschwerdeführerin, das Vorgehen
der Vorinstanz verletze mit dem Abstellen auf ein branchenspezifisches
Lohnniveau die bundesrechtlichen Grundsätze über den Einbezug von den
Streitgegenstand bestimmender, aber nicht beanstandeter Elemente in die
verwaltungsgerichtliche Überprüfung. Da die Frage der anwendbaren Tabellen eine
Rechtsfrage ist, kann das Gerichte diese Frage von Amtes wegen auch dann
aufgreifen, wenn sie nicht von den Parteien thematisiert worden ist.

6.
Nicht einzutreten ist auf das Begehren, der angefochtene Entscheid sei
aufzuheben, soweit damit die Beschwerdegegnerin im vorinstanzlichen Verfahren
von Verfahrenskosten befreit worden sei. Das Erfordernis des besonderen
Berührtseins, als Eintretensvoraussetzung, ist hiebei nicht erfüllt (Art. 89
Abs. 1 lit. b BGG).

7.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 65 Abs. 4 lit. a, Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, der
Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 20. August 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Ettlin