Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 20/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_20/2008

Urteil vom 21. August 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
H.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Suppiger,
Mühlenplatz 10, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle für Versicherte im Ausland, avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Oktober
2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 16. Juni 2005 stellte die IV-Stelle für Versicherte im
Ausland die Auszahlung der H.________ (geboren 1960) zugesprochenen halben
Invalidenrente auf den 1. November 1995 ein. Zur Begründung wurde festgehalten,
dass H.________ seit 4. Oktober 1995 in Italien inhaftiert gewesen sei.
H.________, der sich vor dem Ende des Strafvollzugs, das auf Februar 2008
vorgesehen war, während eines Hafturlaubs am 16. Juli 2002 dem weiteren Vollzug
der Gefängnisstrafe durch Flucht in seine Heimat Kosovo entzogen hatte, führte
Einsprache. Die IV-Stelle hielt mit Entscheid vom 13. Oktober 2005 an ihrem
Standpunkt fest.

B.
Die von H.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies das
Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 26. Oktober 2007 ab.

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm das
rückwirkend ab 1. November 1995 aufgelaufene Invalidenrentenguthaben mit einer
Verzinsung von 5% ab jeweiliger Fälligkeit auszuzahlen. Ferner ersucht er um
die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Verfügung und Einspracheentscheid betreffen die Einstellung der Invalidenrente
für den Zeitraum vom 1. November 1995 bis Januar 2008. Art. 21 Abs. 5 ATSG,
wonach die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbscharakter ganz oder
teilweise eingestellt werden kann, wenn sich die versicherte Person im Straf-
oder Massnahmenvollzug befindet, wobei Geldleistungen für Angehörige
ausgenommen sind, ist auf den 1. Januar 2003 in Kraft getreten. Für die Zeit
bis Ende 2002 ist auf die Rechtsprechung abzustellen, laut welcher auch ohne
ausdrückliche gesetzliche Grundlage die Invalidenrente während des Straf- und
Massnahmenvollzugs zu sistieren war (BGE 113 V 273, 114 V 225 E. 3a; AHI 1998
S. 182; SVR 1995 IV Nr. 35 S. 93; vgl. auch BGE 133 V 1 E. 3.1 S. 3).

2.
Der Beschwerdeführer rügt die rückwirkende Sistierung der Invalidenrente. Die
IV-Stelle hat die Einstellung der Rente erst am 16. Juni 2005 verfügt, diese
aber bereits viel früher formlos eingestellt, wobei der genaue Zeitpunkt unklar
ist (gemäss Aktennotiz der IV-Stelle Luzern vom 25. Juni 1996 ab April 1996;
laut Einspracheentscheid ab Februar 1998). Zwar hätte die Rentensistierung
formell verfügt werden müssen (aArt. 58 IVG; Art. 49 Abs. 1 ATSG). Aber nach
Treu und Glauben hätte der Beschwerdeführer binnen nützlicher Frist reagieren
müssen, nachdem er gemerkt hatte, dass die Rente nicht mehr bezahlt wurde (BGE
122 V 367 E. 3 S. 368 f., 126 V 23 E. 4b). Die Frage, ob die Nichtauszahlung
formelle Rechtskraft erlangt hat, stellt sich jedoch nicht, da es nicht darum
geht, das formlos Angeordnete abzuändern, sondern im Gegenteil zu bestätigen.
Es wurde auch keine Rückerstattung verfügt, sodass die Verwirkung eines
Rückforderungsanspruchs gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG nicht zu prüfen ist.

3.
Soweit der Beschwerdeführer einwendet, ab 1. Oktober 1993 zwei Jahre in
Untersuchungshaft verbracht zu haben, ist dies unerheblich, da die Rente gemäss
Verfügung vom 16. Juni 2005 erst ab 1. November 1995 sistiert wurde. Abgesehen
davon wäre auch Untersuchungshaft von einer gewissen Dauer ein
Einstellungsgrund (BGE 116 V 323).

4.
Der Beschwerdeführer macht sodann geltend, während eines Strafvollzugs im
Ausland könne die Invalidenrente nicht eingestellt werden. Weder die frühere
Praxis noch Art. 21 Abs. 5 ATSG unterscheiden danach, ob die Strafe in der
Schweiz oder im Ausland vollzogen wird. Eine solche Unterscheidung entspräche
auch nicht dem Sinn der Sistierung: es geht um Gleichbehandlung mit den
Nicht-Invaliden, denen die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während des
Strafvollzugs untersagt ist; die Unmöglichkeit, ein Erwerbseinkommen zu
erzielen, ist während der Dauer des Strafvollzugs nicht durch die
gesundheitlichen Einschränkungen bedingt, sondern bereits aufgrund der
Inhaftierung (BGE 133 V 1 E. 4.2.4.1 S. 6 f., 113 V 273 E. 2b S. 277). Dies
gilt unabhängig davon, wo die Strafe oder Massnahme vollzogen wird.

5.
Schliesslich bringt der Beschwerdeführer vor, nach seiner Flucht aus dem
Strafvollzug sei die Sistierung der Invalidenrente nicht mehr gerechtfertigt.
Rechtlich befindet sich eine Person im Strafvollzug, bis sie daraus entlassen
wird. Gemäss dem deutschen Wortlaut von Art. 21 Abs. 5 ATSG ("befindet sich die
versicherte Person im Straf- oder Massnahmevollzug") wäre es nicht
ausgeschlossen, das faktische sich befinden als massgeblich zu betrachten. Auch
der Umstand, dass für die Sistierung massgebend ist, ob nach dem Vollzugsregime
eine Erwerbstätigkeit möglich wäre (BGE 116 V 20 E. 5b S. 23; SZS 2008 IV Nr.
32 S. 104 E. 3), könnte für diese Betrachtung sprechen, weil es dem
Beschwerdeführer nach gelungener Flucht möglich wäre, wieder zu arbeiten, wenn
er gesund wäre. Der französische ("si l'assuré subit une mesure ou une peine
privative de liberté") und der italienische Wortlaut ("se l'assicurato subisce
una pena o una misura") von Art. 21 Abs. 5 ATSG zeigen jedoch, dass nicht in
erster Linie die tatsächliche Inhaftierung, sondern der Straf- und
Massnahmevollzug aus rechtlicher Sicht gemeint ist. Das entspricht auch dem
Sinn und Zweck der Bestimmung: Die Flucht aus dem Strafvollzug ist eine
rechtswidrige Handlung, ungeachtet ihrer Strafbarkeit (vgl. Art. 286 und 305
StGB und BGE 133 IV 97 E. 6 S. 102). Der faktische Zustand nach rechtswidriger
Flucht kann nicht als Vollzugsregime betrachtet werden, das eine
Erwerbstätigkeit zulässt. Es wäre stossend und stünde im Widerspruch zum
allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken, wenn jemand aus einer rechtswidrigen
Handlung Nutzen ziehen könnte. Ob - wie die Vorinstanz annimmt - das
Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (SR 0.353.1) zu
dieser Folgerung führt, ist unerheblich, da das Ergebnis schon aus dem
schweizerischen Recht resultiert. Anders würde es sich verhalten, wenn eine
vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug fest stünde. Der blosse Hinweis
darauf, dass eine Amnestie hätte erfolgen können, genügt dazu jedoch nicht.

6.
Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die gesetzlichen
Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der Beschwerdeführer
wird jedoch ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht. Danach hat
er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Hans Suppiger, Luzern, wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'000.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, der
Ausgleichskasse Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.
Luzern, 21. August 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer