Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 19/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_19/2008

Urteil vom 29. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

J.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Braun, Oberdorfstrasse
6, 8887 Mels.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 4. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 12. März 2003 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen der
1958 geborenen J.________ ab 1. Februar 2002 eine halbe Rente der
Invalidenversicherung zu. Unter Hinweis auf die im Gutachten der Klinik
X.________ vom 20. Juli 2004 ausgewiesene Arbeitsunfähigkeit von 100 % ersuchte
J.________ am 9. September 2004 um Überprüfung der Rente. Nach Abklärungen hob
die IV-Stelle mit Verfügung vom 23. Mai 2006 die Rente auf Ende Juni 2006
revisionsweise auf mit der Begründung, der Gesundheitszustand der Versicherten
habe sich verbessert und die Erzielung eines rentenausschliessenden Einkommens
sei möglich. Mit Einspracheentscheid vom 15. September 2006 bestätigte die
Verwaltung die Rentenaufhebung mit der substituierten Begründung, die
Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Verfügung vom 12. März 2003 seien
erfüllt.

B.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der J.________ hob das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 4. Oktober 2007
den Einspracheentscheid vom 15. September 2006 auf und wies die Sache zur
Behandlung der Einsprache im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 4. Oktober 2007 sei
aufzuheben.

J.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen und um unentgeltliche
Rechtspflege ersuchen. Das kantonale Gericht beantragt die Abweisung der
Beschwerde, das Bundesamt für Sozialversicherungen deren Gutheissung.

Erwägungen:

1.
1.1 Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin
für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs.
1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den
tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit
den Rentenanspruch zu beeinflussen (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349; Urteil U 35/07
vom 28. Januar 2008 E. 3).

1.2 Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1
IVG kann die IV-Stelle auf formell rechtskräftige Verfügungen oder
Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und
wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung im
Sinne dieser Bestimmung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen
Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung
des Sachverhalts (BGE 117 V 8 E. 2c S. 17 mit Hinweis; Urteil 9C_215/2007 vom
2. Juli 2007 E. 3.1).

1.3 Die Wiedererwägung ist in den Schranken von Art. 53 Abs. 3 ATSG jederzeit
möglich, insbesondere auch wenn die Voraussetzungen einer Revision nach Art. 17
Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der
ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Gericht festgestellt, so kann es die im
Revisionsverfahren verfügte Aufhebung der Rente mit dieser substituierten
Begründung schützen (BGE 125 V 368 E. 2 S. 369; Urteil I 61/2007 vom 4. Mai
2007 E. 3). Im Urteil 9C_11/2008 vom heutigen Tag hat das Bundesgericht diese
Rechtsprechung bestätigt und sie auch im Verwaltungsverfahren als anwendbar
erklärt.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanz hat die IV-Stelle somit nicht
Bundesrecht verletzt, indem sie die Substitution der Begründung als zulässig
erachtete.

2.
Gemäss Vorinstanz ist der Einspracheentscheid vom 15. September 2006 dennoch
aufzuheben. Entgegen der Auffassung der IV-Stelle mache eine unzureichende
Sachverhaltsabklärung allein eine formell rechtskräftige Rentenzusprache nicht
zweifellos unrichtig. Dieser Mangel biete nur Anlass, ein
Wiedererwägungsverfahren zu eröffnen. Dabei sei ein materieller Entscheid über
die Aufhebung der ursprünglichen Rente erst möglich, wenn die damals zu Unrecht
unterbliebenen Sachverhaltsabkärungen nachgeholt würden. Daraus könne sich auch
ergeben, dass die formell rechtskräftige Rentenzusprache eben doch richtig
gewesen sei.

2.1 Zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung kann auch bei
unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts gegeben sein
(E. 1.2). Darunter fällt insbesondere eine unvollständige Sachverhaltsabklärung
aufgrund einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43
Abs. 1 ATSG und Art. 61 lit. c ATSG). Trifft dies zu, erübrigt es sich, den
damals rechtserheblichen Sachverhalt weiter abzuklären und auf dieser nunmehr
hinreichenden tatsächlichen Grundlage den Invaliditätsgrad zu ermitteln.
Abgesehen davon, dass einen weiter zurückliegenden Zeitraum betreffende
Abklärungen häufig keine verwertbaren Ergebnisse zu liefern vermögen, geht es
im Kontext darum, mit Wirkung ex nunc et pro futuro einen rechtskonformen
Zustand herzustellen (Urteil 9C_11/2008 vom heutigen Tag E. 4.2.1).

2.2 Aufgrund der Akten stützte sich die Rentenverfügung vom 12. März 2003 in
medizinischer Hinsicht einzig auf den Bericht des behandelnden Psychiaters Dr.
med. S.________ vom 18. Dezember 2002. Dieser stellte die Diagnose einer
posttraumatischen Belastungsstörung nach einem Verkehrsunfall und erachtete
eine leichte, körperlich angepasste, stressfreie Tätigkeit während vier Stunden
pro Tag als zumutbar. Dieser Bericht allein stellt keine genügende Grundlage
für eine Rentenzusprache dar, wie die IV-Stelle zu Recht geltend macht. Davon
geht letztlich auch die Vorinstanz aus, wenn sie die zweifellose Unrichtigkeit
der ursprünglichen Rentenzusprache verneint, da diese erst anhand
nachzuholender Sachverhaltsfeststellungen zu beurteilen sei.

Die Diagnose wurde einzig aufgrund der Angaben der Beschwerdegegnerin gestellt,
und die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit erfolgte ohne nähere Begründung.
Weitere Abklärungen wären zwingend erforderlich gewesen, insbesondere in Bezug
auf die Diagnose. Dass solche unterblieben, stellt eine klare Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes dar. In diesem Sinne ist die ursprüngliche
Rentenzusprache vom 12. März 2003 zweifellos unrichtig.

Die Vorinstanz hat somit zu Unrecht den Einspracheentscheid vom 15. September
2006 aufgehoben und die Aufhebung der halben Rente pro futuro durch die
IV-Stelle nicht materiell geprüft. Das wird sie nachzuholen haben.

3.
Dem Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) kann entsprochen werden, weil die Bedürftigkeit auf
Grund der eingereichten Unterlagen als ausgewiesen gelten kann, die Vertretung
durch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin als geboten erscheint und die
Rechtsbegehren nicht als aussichtslos bezeichnet werden können (BGE 129 I 129
E. 2.3.1 S. 135, 128 I 225 E. 2.5.3 S. 235). Die Beschwerdegegnerin wird der
Gerichtskasse jedoch Ersatz zu leisten haben, wenn sie später dazu in der Lage
ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. Oktober 2007 aufgehoben und
die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie über die
wiedererwägungsweise Aufhebung der Rente durch die IV-Stelle entscheide.

2.
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Rainer Braun wird als unentgeltlicher Anwalt der
Beschwerdegegnerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1000.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 29. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

i.V. Lustenberger Dormann