Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 193/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_193/2008

Urteil vom 2. Juli 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Kernen, Seiler,
nebenamtlicher Bundesrichter Bühler,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Parteien
Vorsorgestiftung der X.________ AG in Liquidation, Beschwerdeführer, handelnd
durch K.________, und diese vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Isabelle
Vetter-Schreiber, Seestrasse 6, 8002 Zürich,

gegen

S.________, Beschwerdegegner.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden
vom 23. April 2007.

Sachverhalt:

A.
Die im Jahre 1974 gegründete Vorsorgestiftung der X.________ AG (im Folgenden:
Vorsorgestiftung) erliess am 12. Juli 1999 eine neue Stiftungsurkunde, welche
diejenige vom 7. November 1995 ersetzte, und verlegte im Jahre 1999 ihren Sitz
nach H.________. Mit Verfügung des Amtes für berufliche Vorsorge und
Stiftungsaufsicht des Kantons Zug vom 14. Mai 2003 wurden die drei
Stiftungsräte, darunter Rechtsanwalt lic. iur. S.________ ihres Amtes enthoben
und als kommissarische Verwalterin der Vorsorgestiftung Frau K.________
eingesetzt. Mit Verfügung der Zentralschweizer BVG- und Stiftungsaufsicht vom
8. Februar 2006 wurde die Vorsorgestiftung in Liquidation versetzt und Frau
K.________ als Liquidatorin ernannt.

B.
Am 3. Februar 2006 liess die Vorsorgestiftung Klage erheben mit dem
Rechtsbegehren, der Beklagte sei zu verpflichten, ihr Fr. 489'462.- zuzüglich
Zins von 5 % seit 10. Juli 2003 zu bezahlen. Das Verwaltungsgericht des Kantons
Nidwalden führte einen doppelten Schriftenwechsel durch, verkündete O.________
und U.________ den Streit (Verfügungen vom 14. März 2006), verlangte von der
Vorsorgestiftung die Edition zusätzlicher Akten und trat mit Entscheid vom 23.
April 2007, zugestellt am 21. Februar 2008, auf die Klage nicht ein.

C.
Die Vorsorgestiftung lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und
die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Rechtsanwalt S.________ beantragt Abweisung der Klage, hat aber auf eine
Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat
keine Vernehmlassung erstattet.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 132 II 257
E. 2.5 S. 262, 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht,
unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die
rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1
S. 254).

1.2 Das von einer Vorsorgeeinrichtung reglementarisch oder statutarisch (unter
Einschluss der Stiftungsurkunde) erlassene Berufsvorsorgerecht im engeren und
weiteren Sinn stellt frei überprüfbares Bundesrecht dar, sofern es - wie
nachstehend darzulegen im vorliegenden Fall von der Vorsorgestiftung - gestützt
auf eine öffentlich-rechtliche Ermächtigung (vgl. Art. 50 BVG) erlassen worden
ist (vgl. in BGE 132 V 149 nicht publ. E. 2 [B 113/03], 116 V 333 E. 2b S. 335;
Ulrich Meyer, Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008, N. 10 zu
Art. 106; Markus Schott, Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008,
N. 46 zu Art. 95; Hansjörg Seiler, in: Seiler/von Werdt/Güngerich,
Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, N. 27 zu Art. 95).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmung von Art. 73 Abs. 1 Satz 1 BVG über die
persönliche und die Rechtsprechung zur sachlichen Zuständigkeit der kantonalen
Berufsvorsorgegerichte zutreffend wiedergegeben, wonach diese zur Beurteilung
von Streitigkeiten zwischen "Anspruchsberechtigten" und nicht registrierten
Personalfürsorgestiftungen zuständig sind, die im Bereich der Berufsvorsorge im
engeren Sinn tätig sind. Darauf und auf BGE 130 V 80 E. 3.3.3 S. 85, 127 V 29
E. 3b S. 35 f. je mit Hinweisen kann verwiesen werden. Richtig festgehalten hat
die Vorinstanz ferner, dass die kantonalen Berufsvorsorgegerichte nicht
zuständig sind für Streitigkeiten mit sog. patronalen Wohlfahrtsstiftungen,
welche reine Ermessensleistungen, das heisst keine rechtsverbindlichen
Leistungen ausrichten und sich ohne Beiträge der Destinatäre finanzieren (vgl.
auch Ulrich Meyer, Der Einfluss des BGG auf die Sozialrechtspflege, SZS 2007 S.
231 f.; Hans Michael Riemer, Die patronalen Wohlfahrtsfonds nach der 1.
BVG-Revision, SZS 2007 S. 553 f.).

Zu ergänzen ist, dass die Zuständigkeitsbestimmung von Art. 73 Abs. 1 BVG
gestützt auf Art. 89bis Abs. 6 Ziff. 19 ZGB und damit die persönliche und
sachliche Zuständigkeit der kantonalen Berufsvorsorgegerichte auch für
Streitigkeiten mit nicht registrierten Personalfürsorgestiftungen gegeben ist,
wenn diese im Gebiet der beruflichen Vorsorge im engeren Sinn tätig sind, also
ausserobligatorisch die Risiken Alter, Tod oder Invalidität versichern; und
zwar auch dann, wenn sie sich ohne Beiträge der Destinatäre finanzieren (BGE
117 V 214 E. 1c S. 217; SZS 2001 S. 191 f. E. 1a, SZS 2000 S. 149, SZS 1999 S.
49 f. E. 3b).

3.
3.1 Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, dass in den Jahresrechnungen 1998 und
1999 der Vorsorgestiftung festgehalten worden sei, diese sei als patronaler
Wohlfahrtsfonds konzipiert, hingegen ergäben sich daraus (und ebenso wenig aus
den übrigen Akten) "keinerlei Hinweise auf Arbeitnehmerbeiträge". Im Anhang zu
diesen beiden Jahresrechnungen sei festgehalten, dass die Vorsorgestiftung
"keine direkte Vorsorge" betreibe und "keine Zusagen an Begünstigte" gemacht
habe. In ihrer Korrespondenz habe die Vorsorgestiftung sich selbst als
"patronale Vorsorgestiftung" bezeichnet. In Ziff. 2.1 der Stiftungsurkunde
werde als Stiftungszweck u.a. die freiwillige berufliche Vorsorge genannt und
die Vorsorgestiftung habe auch kein Reglement erlassen, weshalb keine
reglementarischen "Leistungsverpflichtungen" bestünden. Schliesslich weise auch
das Gesuch der Stifterfirma um Bezahlung der Löhne, somit als
"à-fonds-perdu-Beiträge an die Destinatäre", auf eine patronale
Wohlfahrtsstiftung hin.

3.2 Die Rechtsfrage, ob eine Personalfürsorgestiftung ein patronaler
Wohlfahrtsfonds oder eine Vorsorgeeinrichtung im Sinne von Art. 73 Abs. 1 BVG
ist, beurteilt sich nicht nach den dazu von den Stiftungsorganen oder den
Revisoren in den Jahresrechnungen, Jahres- und Revisionsberichten oder
korrespondenzweise abgegebenen Verlautbarungen, sondern nach dem
reglementarisch oder statutarisch umschriebenen Stiftungszweck und der
stiftungsrechtlich vorgesehenen Finanzierung der Stiftungsaufgaben. In der
Stiftungsurkunde der Vorsorgestiftung vom 12. Juli 1999 lauten die
entsprechenden Bestimmungen wie folgt:
"Art. 2 Zweck
1. Die Stiftung bezweckt die freiwillige berufliche Vorsorge für die
Arbeitnehmer der Firma sowie für deren Angehörigen und Hinterlassenen gegen die
wirtschaftlichen Folgen von Alter, Tod und Invalidität sowie in Notlagen wie
bei Krankheit, Unfall, Invalidität oder Arbeitslosigkeit. .......
3. Der Stiftungsrat kann ein Reglement über die Leistungen erlassen, die
Organisation, die Verwaltung und Finanzierung sowie über die Kontrolle der
Stiftung. Er legt im Reglement das Verhältnis zu den Versicherten und zu den
Anspruchsberechtigten fest. .......
Art. 3 Vermögen

3.1 Die Stifterfirma widmete der Stiftung ein Anfangsvermögen von Fr.
200'000.-.
Das Stiftungsvermögen wird geäufnet durch allfällige reglementarische
Arbeitnehmerbeiträge, freiwillige Zuwendungen des Arbeitgebers und Dritter
sowie durch allfällige Überschüsse aus Versicherungsverträgen und durch die
Erträgnisse des Stiftungsvermögens.

3.2 Aus dem Stiftungsvermögen dürfen ausser zu Vorsorgezwecken keine Leistungen
entrichtet werden, zu denen der Arbeitgeber rechtlich verpflichtet ist.

3.3 Das Stiftungsvermögen ist unter Beachtung der bundesrechtlichen Anlage- und
Ausscheidungsvorschriften (Art. 89bis Abs. 6 ZGB in Verbindung mit Art. 49 ff.
BVV2) nach anerkannten Grundsätzen zu verwalten.
Art. 6 Rechtsnachfolge, Aufhebung, Liquidation
.........................
.........................
.........................

6.5 Ein Rückfall von Stiftungsmitteln an die Firma oder deren Rechtsnachfolger
sowie andere Verwendung als zu Zwecken der beruflichen Vorsorge ist
ausgeschlossen."
Aus diesen statutarischen Bestimmungen geht unmissverständlich hervor, dass das
Stiftungsvermögen u.a. durch reglementarische Arbeitnehmerbeiträge geäufnet
wurde oder zumindest geäufnet werden konnte, dieses ausschliesslich zum Zwecke
der Berufsvorsorge verwendet werden durfte sowie den Destinatären
reglementarisch festgelegte, aus dem Stiftungsvermögen finanzierte,
rechtsverbindliche Vorsorgeansprüche zustanden. Dass das hiefür statutarisch
vorgesehene Reglement noch nicht erlassen und von den Arbeitnehmern der
Stifterfirma die reglementarisch festzulegenden Beiträge noch nicht erhoben
worden waren, ändert nichts daran, dass die Vorsorgestiftung jenes
Wesensmerkmal aufwies, welches eine nicht registrierte Personalfürsorgestiftung
im Sinne von Art. 89bis Abs. 6 ZGB von einem sog. patronalen Wohlfahrtsfonds
unterscheidet: Rechtsansprüche der Destinatäre. Zusätzlich sind
Finanzierungsbeiträge der Arbeitnehmer statutarisch vorgesehen, was für eine
Personalfürsorgestiftung mit Versicherungscharakter typisch ist. Auch der
statutarische Verweis auf Art. 89bis Abs. 6 ZGB und die Bestimmungen von Art.
49 ff. BVV2 im Zusammenhang mit der Vermögensverwaltung machen deutlich, dass
die Vorsorgestiftung dem in Art. 89bis Abs. 6 Ziff. 1 - 23 ZGB vorbehaltenen
zwingenden Berufsvorsorgerecht unterstand, dessen Sinn und Zweck es u.a. ist,
das Vorsorgevermögen und die Rechte der Versicherten auch im Verhältnis zur
Stifterfirma zu schützen.

3.3 Entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanz handelt es sich somit bei der
Beschwerdeführerin nicht um einen patronalen Wohlfahrtsfonds, sondern um eine
nicht registrierte Personalvorsorgestiftung, deren Organe
verantwortlichkeitsrechtlich nach Art. 52 BVG für Bestand und Erhalt des
Stiftungsvermögens haften (Art. 89bis Abs. 6 Ziff. 6 ZGB). Das
Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden ist zur Beurteilung der entsprechenden
Klage sachlich zuständig (Art. 89bis Abs. 6 Ziff. 6 und 19 ZGB i.V.m. Art. 73
Abs. 1 lit. c BVG) und die Sache ist zu diesem Zweck an die Vorinstanz
zurückzuweisen.
4. Der unterliegende Beschwerdegegner trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1
BGG) und hat der Beschwerdeführerin - da es sich um einen Schadenersatzprozess
nach Art. 52 BVG handelt - eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2
BGG; BGE 128 V 124 E. 5b S. 133 f.).

erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Nidwalden vom 23. April 2007 aufgehoben und die Streitsache zur
materiellen Beurteilung der Klage vom 3. Februar 2006 an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2000.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.

Der Beschwerdegegner hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'842.95 (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden,
Abteilung Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 2. Juli 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Nussbaumer