Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 186/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_186/2008

Urteil vom 4. Juni 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
J.________, 1966, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Züst, Bahnhofstrasse 14, 9430 St.
Margrethen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 21. Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1966 geborene J.________ meldete sich im Juni 2006 wegen eines chronischen
Schmerzsyndroms bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Abklärungen verneinte die IV-Stelle mit Vorbescheid vom 8. Mai 2007 einen
Rentenanspruch. Am 21. Mai 2007 erhob J.________ schriftlich Einwand und
stellte weitere Berichte und zusätzliche Beweismittel in Aussicht. Mit
Verfügung vom 15. Juni 2007 wies die Verwaltung das Leistungsbegehren ab.

Mit Schreiben vom 4. Juli 2007 an die IV-Stelle wiederholte J.________ unter
Bezugnahme auf die "Mahnung vom 15. 06. 2007" den Einwand gegen den
Vorbescheid, bat unter Hinweis auf den für den 11. Juli 2007 vereinbarten
Termin beim Spezialisten um Geduld und kündigte an, medizinische Berichte nach
Erhalt weiterzuleiten. Am 12. Juli 2007 teilte ihr die IV-Stelle mit, die Frist
für das Einreichen von Einwänden sei nun abgelaufen; sie habe die Möglichkeit,
gegen die Verfügung vom 15. Juni 2007 Beschwerde beim Versicherungsgericht
einzureichen.

B.
Am 17. Oktober 2007 liess J.________ Beschwerde beim Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen erheben, welches mit Entscheid vom 21. Januar 2008 darauf
nicht eintrat.

C.
J.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 21. Januar 2008 sei aufzuheben und
die Sache sei an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Versicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Streitig und als Rechtsfrage frei zu prüfen ist, ob die Vorinstanz das
Verbot des überspitzten Formalismus verletzte, indem sie die Frist zur
Anfechtung der Verfügung vom 15. Juni 2007 als versäumt betrachtet und
insbesondere das an die IV-Stelle gerichtete Schreiben der Versicherten vom 4.
Juli 2007 nicht als Beschwerde gegen die Verfügung vom 15. Juni 2007 aufgefasst
hat.

1.2 Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung.
Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften
aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn
die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an
Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Bürgern und
Bürgerinnen den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im
Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und
rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen
Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit
Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben,
wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen
Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die
Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder
verhindert. Er kann in den Verhaltensvorgaben an die Rechtsuchenden oder in den
daran geknüpften Rechtsfolgen begründet sein (BGE 132 I 249 E. 5 S. 253; 130 V
177 E. 5.4.1 S. 183).

2.
2.1 Die Beschwerde muss eine gedrängte Darstellung des Sachverhaltes, ein
Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt sie diesen
Anforderungen nicht, so setzt das Versicherungsgericht der Beschwerde führenden
Person eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die
Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten wird (Art. 61 lit. b
ATSG). Dabei wird vorausgesetzt, dass ein Beschwerdeverfahren überhaupt
anhängig gemacht wurde, indem der Anfechtungswille rechtzeitig und in
prozessual gehöriger Form klar bekundet worden ist (BGE 116 V 353 E. 2b S. 356;
Urteile 9C_853/2007 vom 15. April 2008 E. 2 und 8C_442/2007 vom 5. Mai 2008 E.
1.1).

Gelangt eine rechtzeitig erhobene Beschwerde an eine unzuständige Behörde, ist
sie von dieser ohne Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen
(Art. 58 Abs. 3 ATSG) und die Beschwerdefrist gilt als gewahrt (Art. 60 Abs. 2
in Verbindung mit Art. 39 Abs. 2 ATSG). Die unzuständige Behörde ist auch bei
zweifelhaftem Anfechtungswillen grundsätzlich zur Weiterleitung der Eingabe
verpflichtet, denn es ist Sache des zuständigen Gerichts zu entscheiden, ob
eine Eingabe den rechtlichen Anforderungen an eine Beschwerde entspricht
(Urteil 8C_442/2007 vom 5. Mai 2008 E. 2.3). Die Verletzung der
Weiterleitungspflicht ändert - bei gegebenem Anfechtungswillen - nichts an der
fristwahrenden Wirkung der rechtzeitig erhobenen Beschwerde.

2.2 Vorab ist festzuhalten, dass die Verfügung vom 15. Juni 2006 mit einer
korrekten Rechtsmittelbelehrung versehen war. Mit dem als "Antwort auf Ihre
Mahnung vom 15. 06. 2007" betitelten Schreiben vom 4. Juli 2007 an die
IV-Stelle wiederholte die Beschwerdeführerin ihren bereits gegen den
Vorbescheid erhobenen Einwand und bat um etwas Geduld für die Einreichung
weiterer Beweismittel. Nach Auffassung der Vorinstanz kann dies nur als Gesuch
um Verlängerung der Einwandfrist gegenüber der IV-Stelle verstanden werden. Es
ist fraglich, ob die Beschwerdeführerin damit nicht ihren Anfechtungswillen
hinreichend klar bekundet hat und das Schreiben vom 4. Juli 2007 daher als bei
einer unzuständigen Behörde eingereichte Beschwerde aufzufassen ist. Dies kann
indessen offen bleiben, da es am Ergebnis nichts ändert (E. 2.3). Jedenfalls
hätte die IV-Stelle auch bei diesbezüglichen Zweifeln die Eingabe vom 4. Juli
2007 an das zuständige Gericht weiterleiten müssen. Stattdessen teilte sie der
Beschwerdeführerin am 12. Juli 2007 mit, die Frist für das Einreichen von
Einwänden sei nun abgelaufen. Sie habe die Möglichkeit, gegen die Verfügung vom
15. Juni 2007 Beschwerde beim Versicherungsgericht einzureichen.

2.3 Der Verfassungsgrundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV), der
Behörden und Private gleichermassen bindet, gilt insbesondere auch im Prozess
(BGE 125 V 373 E. 2b/aa S. 375; Urteil 8C_738/2007 vom 26. März 2008 E. 6.2).
Danach konnte die Mitteilung der IV-Stelle vom 12. Juli 2007 auch von der
offensichtlich rechtsunkundigen Versicherten nur so verstanden werden, dass sie
die Verfügung vom 15. Juni 2007 - rechtzeitig - beim kantonalen
Versicherungsgericht anfechten kann und muss. Sie beauftragte denn auch Ende
August 2007 einen Rechtsanwalt mit der Wahrung ihrer Interessen.

Nach unbestrittener Feststellung der Vorinstanz dauerte die Frist zur
Anfechtung der Verfügung vom 15. Juni 2007 bei Erhalt des Schreibens vom 12.
Juli 2007 noch über einen Monat und lief "ca." Mitte August 2007 ab. Bis zu
diesem Zeitpunkt blieb die Beschwerdeführerin untätig. Ist zu Gunsten der
Versicherten davon auszugehen, dass mit Erhalt der Mitteilung vom 12. Juli 2007
eine neue 30-tägige Anfechtungsfrist ausgelöst wurde, so lief diese unter
Berücksichtigung der Gerichtsferien spätestens am 17. September 2007 ab (Art.
60 Abs. 2 in Verbindung mit 38 Abs. 4 lit. b ATSG). Nachdem dem Rechtsvertreter
die Akten bereits am 5. September 2007 zugestellt worden sind, erhob er die
Beschwerde, mit welcher u.a. die Verletzung der Weiterleitungspflicht gerügt
wird, erst am 17. Oktober 2007. Dies muss als verspätet bezeichnet werden. Der
vorinstanzliche Nichteintretensentscheid verletzt somit im Ergebnis Bundesrecht
nicht.

3.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse EXFOUR, Basel, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. Juni 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann