Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 156/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_156/2008

Urteil vom 18. November 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

Parteien
IV-Stelle Schaffhausen, Oberstadt 9, 8200 Schaffhausen,
Beschwerdeführerin,

gegen

Z.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom
25. Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Bei Z.________, geboren 2005, war seit der Geburt der linke Hoden nicht
palpabel und es wurde die Verdachtsdiagnose Hodenhochstand (Kryptorchismus)
links gestellt, weswegen ihn sein Vater am 17. März 2007 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug anmeldete. Mit Verfügung vom 31.
Oktober 2007 verneinte die IV-Stelle Schaffhausen einen Anspruch auf
medizinische Massnahmen, da die am 5. Juni 2007 durchgeführte Laparoskopie
(Bauchspiegelung) keinen Hodenhochstand, sondern einen fehlenden Hoden
(Monorchie) ergeben hat, womit das Geburtsgebrechen Nr. 355 (Kryptorchismus)
nicht vorliege.

B.
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hiess die hiegegen erhobene Beschwerde
mit Entscheid vom 25. Januar 2008 teilweise gut und verpflichtete die
IV-Stelle, Z.________ die Kosten für die Laparoskopie zu erstattten.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde mit dem Antrag, der angefochten Entscheid sei
aufzuheben und ihre Verfügung vom 31. Oktober 2007 sei zu bestätigen.

Während der Vater von Z.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst,
beantragt das Bundesamt für Sozialversicherungen deren Gutheissung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95
lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von
Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Streitig ist, ob der Beschwerdegegner Anspruch auf die durchgeführte
medizinische Massnahme hat. Dabei ist unbestritten, dass Monorchie - im
Gegensatz zu Kryptorchismus (siehe Ziff. 355 GgV Anhang) - kein von der
Invalidenversicherung anerkanntes Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 Abs. 2
IVG i.V.m. der gestützt auf Art. 1 Abs. 2 GgV erlassenen Liste im Anhang der
GgV ist und daher grundsätzlich für die Behandlung dieses Leidens zu Lasten der
Invalidenversicherung keine iv-rechtliche Grundlage besteht (vorbehältlich
Ziff. 466 GgV Anhang: Störungen der Funktion der Gonaden). Die Vorinstanz
bejaht trotzdem die Leistungspflicht der IV-Stelle, dies im Wesentlichen mit
der Begründung, es sei auf den Sachverhalt abzustellen, wie er im Zeitpunkt der
Durchführung der Massnahme bestanden habe, sei doch die Leistungsgewährung in
der Invalidenversicherung prognostisch aufgrund der vor der Behandlung
gestellten Diagnose und Prognose und nicht nach ihrem eingetretenen Erfolg zu
beurteilen. Diese Begründung hält einer Überprüfung durch das Bundesgericht
nicht Stand.

3.
3.1 Es trifft zwar zu, dass das Bundesgericht in den vom kantonalen Gericht
zitierten Urteilen (BGE 110 V 99 E. 2 S. 101 f.; Urteil I 120/04 vom 16. Mai
2006 E. 4.2.2, in: SVR 2007 IV Nr. 12 S. 43) festgehalten hat, dass die Frage
nach der Leistungsgewährung in der Invalidenversicherung stets prognostisch und
nicht nach dem eingetretenen Erfolg zu beurteilen ist. In jenen Fällen ging es
indessen um Massnahmen bei Sachverhalten, die als solche unbestritten bei der
Invalidenversicherung versichert waren. Umstritten war dort, ob die Massnahmen
als solche die gesetzlichen Anforderungen (dauernde und wesentliche
Verbesserung der Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen im Sinne von
Art. 12 Abs. 1 IVG, beachtliche Gründe zur Durchführung einer
Eingliederungsmassnahme im Ausland im Sinne von Art. 23bis Abs. 3 IVV)
erfüllten. Dies kann in der Tat sinnvollerweise nur prognostisch beurteilt
werden, würde doch sonst die Leistungspflicht der Invalidenversicherung davon
abhängen, ob das sachimmanente Risiko des Misslingens einer Massnahme eintritt
oder nicht.

3.2 Im hier zu beurteilenden Fall geht es hingegen um die Frage, ob überhaupt
ein versicherter Sachverhalt vorliegt oder nicht. Die Existenz einer auf der
Liste der Geburtsgebrechen im Anhang der GgV enthaltenen Diagnose ist bei einem
Geburtsgebrechen Anspruchsvoraussetzung (Art. 13 Abs. 2 IVG i.V.m. Art. 3 IVV
und Art. 1 Abs. 1 GgV). Es verhält sich dabei gleich wie zum Beispiel mit dem
Erfordernissen des Erfüllens der versicherungsmässigen Voraussetzungen oder des
Vorliegens einer Invalidität.

3.3 Im Verwaltungs- und gegebenenfalls im Gerichtsverfahren ist zu prüfen, ob
ein Geburtsgebrechen vorliegt oder nicht. Selbst wenn anfänglich eine
entsprechende (Verdachts-)Diagnose gestellt worden ist, sind - vorbehältlich
des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes nach Art. 9 BV - die Leistungen
zu verweigern, wenn sich diese später beweisrechtlich nicht bestätigen lässt
(zu Ziff. 404 GgV Anhang siehe Urteil I 756/03 vom 3. Mai 2004 E. 3.4, in: SVR
2005 IV Nr. 2 S. 8). Im Urteil I 572/03 vom 15. März 2004 E. 2.7, welches
ebenfalls Ziff. 404 GgV Anhang betraf, wurde unter Hinweis auf BGE 122 V 113 E.
3c/bb S. 122 festgehalten, dass auf eine eindeutige, rechtzeitig vor dem 9.
Altersjahr gestellte Diagnose eines POS nicht verzichtet werden kann, ist sie
doch eine Anspruchsvoraussetzung für Leistungen der Invalidenversicherung nach
Ziff. 404 GgV Anhang. Die Leistungsvoraussetzungen sind nach der Rechtsprechung
nicht erfüllt, wenn zwar ursprünglich eine Geburtsgebrechen-Diagnose gestellt
wurde, diese sich aber nachträglich als falsch erweist. Dasselbe muss gelten,
wenn - wie hier - ursprünglich nicht eindeutig klar ist, ob eine
Geburtsgebrechen-Diagnose vorliegt und sich erst anlässlich eines operativen
Eingriffs herausstellt, dass dies nicht der Fall ist. Umgekehrt wird auch
(unter Vorbehalt derjenigen Fälle, in denen für die Diagnosestellung eine Frist
gesetzt wird [z.B. Ziff. 404 GgV Anhang]) die Leistungspflicht bejaht, wenn
sich erst im Nachhinein erweist, dass ein Geburtsgebrechen vorliegt, selbst
wenn anfänglich keine solche Diagnose gestellt wurde(vgl. z.B. Urteil I 93/02
vom 22. Juli 2002 E. 2). Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts muss
somit die Frage, ob ein Geburtsgebrechen vorliegt, nicht prognostisch, sondern
ex post beurteilt werden, dies im Gegensatz zur Frage der Eignung der zur
Behandlung eingesetzten Massnahme (dazu siehe E. 3.1).

3.4 Steht fest, dass die Frage, ob ein auf der in der Liste im Anhang
aufgeführtes Geburtsgebrechen vorliegt, nicht prognostisch, sondern
retrospektiv zu beurteilen ist, hat die IV-Stelle nach dem Gesagten zu Recht
ihre Leistungspflicht verneint, was zur Gutheissung der Beschwerde und zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt.

4.
Als unterliegende Partei hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen
(Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Schaffhausen vom 25. Januar 2008 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Obergericht des Kantons Schaffhausen zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. November 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard