Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 13/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_13/2008

Urteil vom 28. Juli 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Parteien
A.________, 1950, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Reinhold Nussmüller, Bahnhofstrasse 8, 8580
Amriswil,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid der
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 11. Dezember 2007.

Sachverhalt:

A.
A.________, geboren 1950, arbeitete seit dem Jahre 1991 teilzeitlich als
Raumpflegerin/Haushalthilfe, daneben war sie im eigenen Haushalt tätig. Ab 1.
März 2006 bezog sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung
(Vermittlungsfähigkeit: 50 %). Am 23. Oktober 2006 meldete sie sich unter
Hinweis auf chronische, bis in die Zehen ausstrahlende Rückenschmerzen und
Osteoporose, bestehend seit September 2005, bei der Invalidenversicherung zur
Arbeitsvermittlung an. Vom 11. September bis 20. November 2006 war A.________
in einem befristeten Einsatz beim Verein K.________, Arbeit und Schulung für
Erwerbslose zu 50 % tätig (wobei sie für die Reinigung von Kunststoffteilen
sowie für Zerlege-, Sortier- und Konfektionierungsarbeiten eingesetzt wurde).
Die IV-Stelle des Kantons Thurgau führte erwerbliche Abklärungen durch und
holte einen Bericht ein bei med. pract. L.________ vom 20. November 2006 (dem
zahlreiche weitere medizinische Unterlagen beilagen). Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren verfügte sie am 30. Mai 2007 die Abweisung des
Leistungsbegehrens.

B.
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau (im Folgenden:
Rekurskommission; neu ab 1. Januar 2008 Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau)
hiess die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ mit Entscheid vom 11.
Dezember 2007 teilweise gut, indem sie die Verfügung betreffend Abweisung der
beruflichen Massnahmen aufhob und die Sache zur weiteren Abklärung und
Neuverfügung an die IV-Stelle zurückwies. Die Abweisung des Rentenbegehrens
bestätigte sie.

C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich rechtlichen Angelegenheiten führen
und die Aufhebung des angefochtenen Entscheides beantragen, soweit darin der
Rentenanspruch verneint werde. Weiter seien ihr "sämtliche ihr zustehende
Leistungen der IV, namentlich eine ihrem Invaliditätsgrad angemessene IV-Rente"
zuzusprechen und ergänzende medizinische und berufliche Abklärungen zu tätigen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht (Art. 107 Abs. 1
BGG) nur zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in Anwendung der
massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem)
Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
Hiezu gehört insbesondere auch die unvollständige (gerichtliche) Feststellung
der rechtserheblichen Tatsachen und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteil 9C_534/2007 vom 27. Mai
2008, E. 1 mit Hinweis auf Ulrich Meyer, N 58-61 zu Art. 105, in: Niggli/
Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, Basel
2008). Das Bundesgericht ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde
alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese letztinstanzlich
nicht (mehr) vorgetragen wurden.

2.
Streitig ist einzig, ob der Beschwerdeführerin eine Rente der
Invalidenversicherung zusteht. Die Rekurskommission hat die zur Beurteilung
dieses Anspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz erwog, gestützt auf den Bericht der Klinik S.________ vom
17. August 2006, dem voller Beweiswert zukomme, könne in somatischer Sicht ohne
weitere Untersuchungen von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit für leichte
Tätigkeiten und einer Einschränkung von 50 % für angepasste mittelschwere
Arbeiten ausgegangen werden. Was die psychischen Beeinträchtigungen betreffe,
gehe aus den Akten (Bericht des Physiotherapeuten H.________ vom 26. Oktober
2005; Austrittsbericht der Klinik S.________ vom 17. August 2006; Berichte des
Hausarztes med. pract. L.________ vom 20. November 2006 und 23. April 2007)
hervor, dass die Beschwerdeführerin an einer Schmerzverarbeitungsstörung leide.
Hinweise auf eine schwere psychische Beeinträchtigung seien aber nicht
vorhanden, so dass angesichts der aktenkundig erheblichen psychosozialen
Belastungsfaktoren bei fehlenden konkreten Indizien, die für eine
invalidenversicherungsrechtlich relevante Schmerzverarbeitungsstörung sprächen,
ohne zusätzliche Abklärungen ein (schwerer) invalidisierender psychischer
Gesundheitsschaden verneint werden könne. Damit sei die IV-Stelle zu Recht von
einer vollen Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten leichten, und einer
hälftigen Arbeitsfähigkeit in einer mittelschweren Tätigkeit ausgegangen. Eine
Haushaltabklärung sei (vorläufig) nicht angezeigt, da selbst eine (rein
theoretische) Einschränkung im Haushalt von 50 % und eine hypothetische
Steigerung der Erwerbstätigkeit auf 100 % keinen rentenbegründenden
Invaliditätsgrad ergäben.

3.2 In ihrer Beschwerde, welche mit Ausnahme der letzten Ziffern einer nahezu
wörtlichen Wiederholung der Rechtsschrift im vorinstanzlichen Verfahren
entspricht, die eine Auseinandersetzung mit den vorinstanzlichen Erwägungen
weitgehend vermissen lässt, rügt die Versicherte sinngemäss, die
Rekurskommission habe den Sachverhalt unvollständig, unter Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) festgestellt, indem sie sowohl
auf eine interdisziplinäre Begutachtung als auch auf eine Haushaltabklärung
verzichtet habe.

4.
4.1 Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was die
Sachverhaltsfeststellungen der Rekurskommission als mangelhaft im Sinne von
Art. 97 Abs. 1 BGG erscheinen lassen könnte, zumal sich ihre Argumente
weitestgehend in einer letztinstanzlich unzulässigen, rein appellatorischen
Kritik an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung erschöpfen. Die Rüge, eine
interdisziplinäre Exploration sei zu Unrecht unterblieben, ist unbegründet. Die
Vorinstanz hat in pflichtgemässer (und zulässiger antizipierter)
Beweiswürdigung nachvollziehbar dargelegt, weshalb auf die beweistauglichen
Beurteilungen (BGE 130 V 61 E. 6.2 S. 62 f.) der Ärzte an der Klinik S.________
abzustellen ist und sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht keine
weiteren Untersuchungen angezeigt sind.

4.2 In somatischer Sicht stehen weder das von Dr. med. N.________, Leitender
Arzt an der Klinik S.________, im Konsiliarbericht vom 29. Juni 2006 erwähnte
mögliche "chirurgische Vorgehen" zur Behandlung des durch eine Diskushernie L 4
/5 sowie eine Rezessusstenose verursachten chronischen lumboradikulären
Reizsyndroms (von welchem in der Folge offenbar Abstand genommen wurde) noch
die unbestrittenermassen vorhandene Osteoporose einer vollen Arbeitsfähigkeit
in einer leichten bzw. einer 50%igen Arbeitsfähigkeit in einer mittelschweren,
angepassten Tätigkeit entgegen. Auch eine ausnahmsweise invalidisierende
somatoforme Schmerzstörung ist mit der Vorinstanz ohne Weiterungen zu
verneinen. Sämtlichen medizinischen Berichten lassen sich keinerlei Hinweise
entnehmen, die auf eine psychische Komorbidität von erheblicher Schwere,
Ausprägung und Dauer hindeuten. So bestätigte Dr. med. B.________, FMH für
Rheumatologie, am 23. Mai 2006 die Beobachtung des Physiotherapeuten H.________
vom 26. Oktober 2005, wonach psychosoziale Belastungsfaktoren (insbesondere die
Erkrankung des Ehegatten) mit dem Beginn der Schmerzen zeitlich zusammenfielen.
Insbesondere aber geht aus dem Bericht der Klinik S.________ vom 17. August
2006 nichts hervor, was auf eine relevante psychische Beeinträchtigung
schliessen liesse, obwohl die dortigen Ärzte die Versicherte im Rahmen der vom
19. Juli bis 9. August 2006 dauernden Hospitalisation durch ihren
psychologischen Dienst begleiten liessen und davon auszugehen ist, dass den mit
der Beschwerdeführerin befassten Fachpersonen diesbezügliche Anhaltspunkte
nicht entgangen wären. Der behandelnde med. pract. L.________ gab am 20.
November 2006 zwar an, nicht nur die angestammte, sondern auch leichte,
wechselbelastende Tätigkeiten seien "wahrscheinlich" nur halbtags möglich. Er
begründet diese (vage) Einschätzung indessen nicht näher, so dass - auch in
Würdigung der bei behandelnden Ärzten besonders sorgfältig zu prüfenden
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (statt vieler: Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichtes I 128/98 vom 24. Januar 2000 E. 3b/cc, publiziert in:
AHI 2001 S. 114) - nicht zu beanstanden ist, wenn die Vorinstanz hierauf nicht
abgestellt hat.

5.
5.1 Bei Anwendung der gemischten Methode zur Invaliditätsbemessung darf auf
eine Haushaltabklärung grundsätzlich nicht verzichtet werden. Davon abgesehen
werden kann nur, wenn der zur Erreichung einer rentenbegründenden
Gesamtinvalidität erforderliche IV-Grad im Haushaltbereich derart hoch
ausfallen müsste, dass eine entsprechende Einschränkung nach den Grundsätzen
der antizipierten Beweiswürdigung ausgeschlossen werden kann (Urteil 9C_596/
2007 vom 19. Mai 2008, E. 4.3 mit Hinweisen).

5.2 Die Vorinstanz hat den Verzicht der IV-Stelle auf eine Abklärung der
Haushaltverhältnisse vor Ort im Sinne von Art. 69 Abs. 2 IVV geschützt, in
Erwägung, dass selbst eine 50%ige Einschränkung im Haushalt oder eine
Ausdehnung der Erwerbstätigkeit von zuletzt 35 % auf 100 % nicht zu einem
rentenbegründenden Invaliditätsgrad führen würden (E. 3.1 hievor). Bei einer
mit 35 % gewichteten Erwerbstätigkeit (welche ohne weitere Einschränkungen
zumutbar ist; E. 4.2 hievor) müsste die Einschränkung im Haushalt in der Tat
rund 62 % betragen, damit ein rentenbegründender Gesamtinvaliditätsgrad
resultierte ([35 x 0 %] + [65 x X %] >= 40). Dies aber ist mit Blick auf die
weiterhin hälftige Arbeitsfähigkeit in der früheren Tätigkeit als Raumpflegerin
/Haushalthilfe und in Anbetracht der Tatsachen, dass die Auswirkungen des
Gesundheitsschadens auf die Leistungsfähigkeit durch geeignete organisatorische
Massnahmen - und im Rahmen der Verhältnismässigkeit durch die Mithilfe der
Familienangehörigen (namentlich der zu Hause lebenden erwachsenen Kinder) -
möglichst zu mildern sind (vgl. BGE 133 V 504) sowie im eigenen Haushalt mehr
Spielraum vorhanden ist für eine den gesundheitlichen Beeinträchtigungen
Rechnung tragende Einteilung der Arbeit (insbesondere für Pausen) als im Rahmen
der bezahlten hauswirtschaftlichen Erwerbstätigkeit, höchst unwahrscheinlich.
Das kantonale Gericht verstiess somit nicht gegen Bundesrecht, wenn es von
einer Abklärung vor Ort ausnahmsweise absah (zumal für die Berücksichtigung
nachteiliger Wechselwirkungen [hiezu BGE 134 V 9 E. 7] - vorerst - keine
Veranlassung besteht). Die Einschätzung des med. pract. L.________ vom 23.
April 2007 zuhanden der Rechtsvertreterin der Versicherten, wonach die
Beschwerdeführerin bei Haushaltarbeiten "ziemlich beeinträchtigt" sei, schwere
Haushaltarbeiten nicht mehr erledigen könne und von der Familie unterstützt
werden müsse, steht dieser Einschätzung nicht entgegen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 28. Juli 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Bollinger Hammerle