Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 109/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

9C_109/2008
{T 0/2}

Urteil vom 18. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
A._________, Beschwerdeführerin,
handelnd durch ihren Vater B.________, und dieser vertreten durch Rechtsanwalt
lic. iur. Markus Zimmermann, Dell'Olivo Frey & Pribnow, Stadtturmstrasse 10,
5400 Baden,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
18. Dezember 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1992 geborene A._________ wurde am 23. Januar 2006 wegen einer
idiopathischen Skoliose operiert. Ihre Eltern beantragten im Februar 2006 bei
der Invalidenversicherung medizinische Massnahmen. Nach Abklärungen und
Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle des Kantons
Aargau mit Verfügung vom 22. Dezember 2006 den Anspruch auf medizinische
Massnahmen, insbesondere die Operation vom 23. Januar 2006, und Physiotherapie
mit der Begründung, es handle sich um die Behandlung des Leidens an sich.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 18. Dezember 2007 ab.

C.
A._________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der Entscheid vom 18. Dezember 2007 sei aufzuheben und die
IV-Stelle sei anzuweisen, die versicherten Leistungen auszurichten;
eventualiter sei die Angelegenheit zur weiteren medizinischen Abklärung an die
Verwaltung zurückzuweisen.

Das kantonale Gericht äussert sich zur Beschwerde, ohne einen Antrag zu
stellen. Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist die Frage, ob die Beschwerdeführerin im Rahmen der
Invalidenversicherung Anspruch auf medizinische Massnahmen, insbesondere die
Operation vom 23. Januar 2006, und Physiotherapie hat.

3.
3.1 Nach Art. 12 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2007 in Kraft gestandenen
Fassung) hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht
auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche
Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und
wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um
Behandlung des Leidens an sich geht es in der Regel bei der Heilung oder
Linderung labilen pathologischen Geschehens. Die Invalidenversicherung
übernimmt grundsätzlich nur solche medizinische Vorkehren, die unmittelbar auf
die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder wenigstens relativ stabilisierter
Defektzustände oder Funktionsausfälle hinzielen und welche die Wesentlichkeit
und Beständigkeit des angestrebten Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG
voraussehen lassen (BGE 120 V 277 E. 3a S. 279 mit Hinweisen; AHI 2000 S. 64 E.
1 [I 181/99]).

Bei minderjährigen Versicherten ist zu beachten, dass diese als invalid gelten,
wenn ihr Gesundheitsschaden künftig wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit zur
Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können daher
medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen
Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters
von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine
Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch
die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden
(BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21).

3.2 Nach der Rechtsprechung haben - generell typisiert - an Verkrümmungen der
Wirbelsäule leidende Jugendliche bis zum Abschluss des Wachstumsalters Anspruch
auf jene medizinischen Massnahmen, welche notwendig sind, um dauernde
Skelettschäden zu verhüten, die ihre Berufsbildung oder ihre spätere
Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen würden. Es genügt, dass ein schwerer
Defektzustand mit Wahrscheinlichkeit droht für den Fall, dass die medizinischen
Vorkehren nicht durchgeführt werden (BGE 100 V 171 E. 2b S. 172; Urteil I 192/
01 vom 29. Januar 2002 E. 2c; vgl. auch BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21).

Dabei muss erstellt sein, dass ohne die Vorkehr in naher Zukunft mit
Wahrscheinlichkeit eine bleibende Beeinträchtigung eintreten würde.
Gleichzeitig muss durch die Massnahme ein so stabiler Zustand herbeigeführt
werden können, dass vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für
die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit bestehen (Urteil I 501/06 vom 29.
Juni 2007 E. 5.2). Der Anspruch auf medizinische Massnahmen ist aber auch bei
Jugendlichen zu verneinen, wenn ein auf längere Sicht labiles pathologisches
Geschehen vorliegt und mit der fraglichen Vorkehr dem drohenden Defekt in
absehbarer Zeit nicht eingliederungswirksam vorgebeugt werden kann (Urteil I
343/04 vom 3. Dezember 2004 E. 2.2). Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
herbeizuführenden Eingliederungserfolgs sind im Zeitpunkt vor Durchführung der
fraglichen Massnahme anhand des massgebenden medizinischen Sachverhalts
prognostisch zu beurteilen (Urteile I 32/06 vom 9. August 2007 E. 6.1.2; I 878/
05 vom 7. August 2006 E. 2.1).

4.
4.1 Die Vorinstanz hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf medizinische
Massnahmen sowie Physiotherapie mit der Begründung verneint, zwar lasse sich im
Lichte der Arztberichte des Hausarztes Dr. med. D.________ vom 3. November 2006
und des Operateurs Dr. med. E.________ vom 21. November 2006 allenfalls das
Vorliegen einer schwersten, nur noch operativ anzugehenden Skoliose bejahen.
Das vermöge jedoch nichts daran zu ändern, dass jedenfalls die zweite
Voraussetzung (voraussichtliche Ermöglichung einer beruflichen Ausbildung oder
die voraussichtliche wesentliche und dauernde Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit) nicht erfüllt sei. Auch wenn Dr. med. E.________ im Bericht
vom 21. November 2006 vermerkt habe, dass zurzeit keine weiteren Operationen
vorgesehen seien, habe er im unmittelbaren Anschluss daran ebenso ausdrücklich
festgehalten, die Skoliosebehandlung könne noch nicht abgeschlossen werden. Im
Bericht der Dres. med. E.________ und F.________ vom 24. August 2006 sei schon
eine postoperative Zunahme der thorakolumbalen Skoliose auf 48 % festgehalten
worden, bei deren weiteren Zunahme eine operative Korrektur besprochen werden
müsse. Unter diesen Umständen sei der Einschätzung des medizinischen Dienstes
der IV-Stelle vom 19. Dezember 2006 beizupflichten, dass bei der
Beschwerdeführerin auch nach der Operation ein instabiler Zustand mit unklarer
Prognose vorliege, weshalb die Voraussetzung der Dauerhaftigkeit der
durchgeführten medizinischen Massnahme nicht erfüllt sei.

4.2 Die Beschwerdeführerin hält dagegen, die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung, wonach auch nach der Operation vom 23. Januar 2006
ein instabiler Zustand vorgelegen habe, sei offensichtlich falsch. Die
medizinische Massnahme habe zum gewünschten Ergebnis geführt. Wie auch der
neueste Bericht der Dres. med. E.________ und G.________ vom 11. Januar 2008
bestätige, sei eine weitere Operation nicht notwendig, weshalb ein stabiler
Zustand vorgelegen habe. Die IV-Stelle sei selbst dann leistungspflichtig, wenn
durch die Operation vom 23. Januar 2006 noch kein stabiler Zustand erreicht
worden wäre. Die Massnahmen zur Verhütung einer Defektheilung oder des
Eintretens eines anderen stabilisierten Zustandes, welcher die Berufsbildung
oder die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich beeinträchtigen würde, könne sehr
wohl eine gewisse Zeit andauern. Damit die Invalidenversicherung dafür
aufzukommen habe, dürfe sie lediglich nicht Dauercharakter haben. Selbst wenn
weitere Operationen notwendig gewesen wären, um die spätere Erwerbsfähigkeit zu
erhalten, hätte die IV-Stelle dafür aufkommen müssen. Die Vorinstanz habe das
Leistungsbegehren der Beschwerdeführerin unter Verletzung von Bundesrecht
abgewiesen.

5.
Die vorinstanzliche Feststellung, wonach bei der Beschwerdeführerin auch nach
der Operation vom 23. Januar 2006 ein instabiler Zustand mit unklarer Prognose
vorliege, ist nicht offensichtlich unrichtig. Sie betrifft indessen bloss die
Verhältnisse nach dem bisherigen Eingriff, welche im Rahmen der prognostischen
Beurteilung (E. 3.2 in fine) lediglich insoweit von Bedeutung sind, als sie
Rückschlüsse für die Zeit davor erlauben. Dasselbe gilt für den in diesem
Verfahren eingereichten Bericht der Dres. med. E.________ und G.________ vom
11. Januar 2008, soweit er berücksichtigt werden kann (Art. 99 Abs. 1 BGG). Im
Übrigen schliesst ein allfälliger weiter andauernder labiler pathologischer
Zustand bei E.________derjährigen die Leistungspflicht der
Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des
Eingliederungserfolges jedenfalls nicht notwendigerweise aus. Das gilt selbst,
wenn aus Sicht der Verhältnisse vor der Operation vom 23. Januar 2006 unter
Berücksichtigung der medizinischen Erfahrung ein weiterer Eingriff nicht
auszuschliessen war, sofern er dasselbe Leiden betroffen hätte und innert einer
bestimmten Zeitspanne - vor Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres (Urteil I
242/94 vom 14. Dezember 1994 E. 3a) - durchzuführen gewesen wäre (vgl. Urteil I
651/00 vom 22. Mai 2001 E. 3a).
Die Akten erlauben keine zuverlässige Beurteilung der Wesentlichkeit und
Dauerhaftigkeit des durch die Operation vom 23. Januar 2006 und allenfalls
damit in Zusammenhang stehender weiterer Eingriffe herbeizuführenden
Eingliederungserfolgs. Die relevanten Fragen nach dem Beschwerdebild und der
Schwere des Leidens, des erwarteten Operationserfolgs und der zu erwartenden
Folgen eines Verzichts auf die Operation sind offen geblieben. Es sind weitere
Abklärungen durch die IV-Stelle erforderlich. Danach wird die Verwaltung über
den Anspruch auf medizinische Massnahmen, insbesondere die Operation vom 23.
Januar 2006, und Physiotherapie neu zu verfügen haben.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegenden und anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführerin hat sie zudem eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 18. Dezember 2007 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 22. Dezember 2006 aufgehoben
werden. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen,
damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch
auf medizinische Massnahmen und Physiotherapie neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann