Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 1002/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_1002/2008

Urteil vom 16. Februar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
K.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch B.________,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 15. Oktober 2008.

Sachverhalt:

A.
K.________ (geboren 1959) meldete sich im August 2006 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
sprach ihm vorerst Hilfsmittel und Berufsberatung zu und verneinte einen
Anspruch auf Wartezeittaggeld. Mit der Begründung, geeignete Tätigkeiten seien
ihm nunmehr ganztags zumutbar, gewährte sie ihm mit Verfügung vom 18. April
2008 die Fortsetzung der Berufsberatung.

B.
K.________ erhob Beschwerde mit verschiedenen Anträgen, welche das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, soweit es darauf eintrat, mit
Entscheid vom 15. Oktober 2008 abwies.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, die Sache sei zur
Ergänzung des rechtserheblichen Sachverhalts an die Vorinstanz bzw. an die
Verwaltung zurückzuweisen und in der Folge sei über den Leistungsanspruch,
namentlich über Eingliederungs- und Rentenleistungen, neu zu verfügen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und
das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
1.1 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente
noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus
einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (Urteil 9C_294/
2007 vom 10. Oktober 2007 E. 2 mit Hinweis; vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262;
130 III 136 E. 1.4 S. 140).

1.2 Nach ständiger Rechtsprechung prüft das Bundesgericht von Amtes wegen die
formellen Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens, insbesondere auch die Frage,
ob die Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde eingetreten ist. Hat die
Vorinstanz übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlt oder das
Vorliegen einer solchen zu Unrecht bejaht und materiell entschieden, ist dies
im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass
der angefochtene Entscheid aufgehoben wird (BGE 132 V 93 E. 1.2 S. 95 mit
Hinweis; Urteil 9C_414/2007 vom 25. Juli 2008 E. 1).

2.
2.1 In der zutreffenden Auffassung, der Versicherte habe die von der Verwaltung
mit Verfügung vom 18. April 2008 zugesprochene Berufsberatung nicht
beanstandet, hat das kantonale Gericht diese Massnahme nicht näher geprüft.
Auch auf die Anträge betreffend die Abklärung über das Vorliegen eines
Kunstfehlers, den Anspruch auf ein Wartezeittaggeld und die Prüfung (weiterer)
beruflicher Eingliederungsmassnahmen ist die Vorinstanz - zu Recht - nicht
eingetreten. Hingegen hat sie die Anträge des Beschwerdeführers betreffend
IV-Rente, Rechtsverzögerung und Verletzung der Offizialmaxime resp. des
Untersuchungsgrundsatzes geprüft und abgewiesen.

2.2 Anfechtbar ist prinzipiell nur, was Gegenstand einer Verfügung - oder, bei
Durchführung des Einspracheverfahrens, des Einspracheentscheids - bildet (vgl.
BGE 125 V 413 E. 1a S. 414). Das verwaltungsgerichtliche Verfahren darf
allerdings aus prozessökonomischen Gründen auf eine ausserhalb des
Anfechtungsgegenstandes - das heisst ausserhalb des durch die Verfügung oder
den Einspracheentscheid bestimmten Rechtsverhältnisses liegende - spruchreife
Frage ausgedehnt werden, wenn diese mit dem bisherigen Streitgegenstand derart
eng zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann;
die Verwaltung muss sich zudem mindestens in Form einer Prozesserklärung zu
dieser Streitfrage geäussert haben (BGE 122 V 34 E. 2a S. 36 mit Hinweisen).
Grundsätzlich jederzeit zulässig ist dagegen eine Beschwerde wegen
Rechtsverweigerung oder -verzögerung. Diese ist allerdings formeller Natur,
materielle Rechte und Pflichten bilden nicht deren Streitgegenstand (Urteil I
37/05 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 131 V 407, aber in: SVR 2006 IV Nr. 33 S.
119).

2.3 Mit der angefochtenen Verfügung beurteilte die IV-Stelle einzig den
Anspruch auf Berufsberatung. Im Gegensatz zur Auffassung des kantonalen
Gerichts kann dessen Zusammenhang mit dem an andere Anspruchsvoraussetzungen
gebundenen Rentenanspruch nicht als derart eng bezeichnet werden, dass von
einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen und das Verfahren diesbezüglich
ausgedehnt werden könnte (vgl. den umgekehrten Fall bei beurteiltem
Rentenanspruch SVR 2003 IV Nr. 11 S. 31, I 761/01 E. 4.3). Die IV-Stelle machte
in ihrer Vernehmlassung vor der Vorinstanz geltend, in Bezug auf die
Rentenfrage liege noch keine entscheidreife Aktenlage vor, und sie habe mit der
Verfügung vom 4. April 2008 keinen Rentenentscheid gefällt. Überdies scheint
die Vorinstanz selber die Frage nach einem Rentenanspruch nicht für spruchreif
gehalten zu haben: Im angefochtenen Entscheid hat sie nur auf ihres Erachtens
vor Erlass des Rentenentscheids durchzuführende weitere berufliche und
medizinische Massnahmen hingewiesen, hingegen fehlen Sachverhaltsfeststellungen
bezüglich der Anspruchsgrundlagen ebenso wie eine materielle Begründung für die
Verneinung des Anspruchs. Die Vorinstanz ist daher zu Unrecht auf das
ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes liegende Begehren um Zusprechung einer
höheren Invalidenrente eingetreten.
Die Erteilung einer Rüge stellt eine aufsichtsrechtliche Disziplinarmassnahme
dar. Die fachliche Aufsicht über die IV-Stellen obliegt dem Bundesamt für
Sozialversicherungen (Art. 64 Abs. 2 IVG und Art. 92 Abs. 1 IVV je in der bis
31. Dezember 2007 gültig gewesenen und Art. 64a Abs. 1 in der seit 1. Januar
2008 geltenden Fassung). Die Vorinstanz ist mangels sachlicher Zuständigkeit
ebenfalls zu Unrecht auf das Begehren betreffend Rügeerteilung eingetreten. Die
geltend gemachten Verletzungen von Offizialmaxime und Untersuchungsgrundsatz
hat die Vorinstanz jedoch richtigerweise im Zusammenhang mit der Beurteilung
der Rechtsverzögerungsbeschwerde berücksichtigt.
Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid, soweit er nicht die
Rechtsverzögerung betrifft, aufzuheben.

2.4 Die vor dem kantonalen Gericht vorgebrachte Beschwerde wegen
Rechtsverzögerung betrifft keinen materiellen Anspruch (E. 2.2), und deren
Abweisung wird vom Beschwerdeführer in seinem Rechtsbegehren zwar (mit)
angefochten, jedoch ohne sachbezogene Begründung, weshalb insoweit auf die
Beschwerde nicht einzutreten ist (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG).
Auf die Ausführungen in der Beschwerde zur Würdigung der medizinischen Sachlage
ist angesichts des Gesagten nicht weiter einzugehen. Es ist Sache der IV-Stelle
(E. 2.3), über den Anspruch auf eine Rente während des gesamten in Betracht
fallenden Zeitraums (vgl. Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG in der bis 31. Dezember
2007 gültig gewesenen Fassung) sowie allfällige weitere
Eingliederungsmassnahmen zu verfügen. Dabei hat sie zu beachten, dass diese
Ansprüche - zumindest nach der bis 31. Dezember 2007 geltenden Rechtslage und
trotz des bereits damals zu berücksichtigenden Grundsatzes "Eingliederung vor
Rente" (vgl. Urteil 9C_494/2007 vom 6. Mai 2008 E. 3.1) - unabhängig
voneinander beurteilbar sind (BGE 121 V 195 E. 2 S. 197; Urteile 8C_236/2008
vom 14. Oktober 2008 E. 7.1; I 428/04 vom 7. Juni 2006 E. 5.1; I 581/05 vom 6.
Januar 2006 E. 1).

3.
Die Gerichtskosten sind entsprechend dem Ausmass des Obsiegens und Unterliegens
aufzuteilen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der teilweise obsiegende Beschwerdeführer hat
Anspruch auf eine entsprechend reduzierte Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG). Es rechtfertigt sich, diese der Vorinstanz als Kostenverursacherin
resp. dem Kanton Aargau aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 15. Oktober 2008 wird
aufgehoben, soweit er nicht die Rechtsverzögerungsbeschwerde betrifft.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin Fr. 350.-
und dem Beschwerdeführer Fr. 150.- auferlegt.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Februar 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann