Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.971/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_971/2008

Urteil vom 23. März 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Parteien
S.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Patrick F. Wagner,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
13. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1946 geborene S.________ war bei der X.________ GmbH als Gerantin tätig und
bei der Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Allianz) gegen
die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 29. November 1999
stolperte sie im Einkaufszentrum vor der Kasse über eine Röhre und brach sich
beim Sturz beide Arme. Sie wurde gleichentags ins Kantonsspital Y.________
eingeliefert, wo die distale Radiusfraktur am rechten Handgelenk konservativ
therapiert und die linksseitige Radiusköpfchenmeisselfraktur operiert wurden.
In der Folge verheilte die Fraktur am linken Ellbogengelenk problemlos, während
am rechten Handgelenk wegen einer leichten Fehlstellung bewegungs- und
belastungsabhängige Schmerzen persistierten. Da die Versicherte aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr alle Arbeiten selber ausführen konnte, gab
sie den Restaurantbetrieb Ende Juni 2002 auf. Die Allianz holte unter anderem
die handchirurgischen Gutachten des Dr. med. R.________ vom 7. Juni 2002 und
vom 11. Januar 2006 ein. Gestützt auf die durchgeführten medizinischen und
erwerblichen Abklärungen ergab sich gemäss den Ermittlungen der Allianz keine
gesundheitsbedingte Erwerbseinbusse, weshalb sie mit Verfügung vom 9. November
2006 einen Anspruch auf Invalidenrente verneinte; hingegen sprach sie der
Versicherten eine Integritätsentschädigung entsprechend einer
Integritätseinbusse von 30 Prozent und die Übernahme von Heilbehandlungen zu.
Daran hielt der Unfallversicherer mit Einspracheentscheid vom 26. Juni 2007
fest.

B.
In Gutheissung der von S.________ eingereichten Beschwerde hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau den Einspracheentscheid vom 26. Juni
2007 auf und sprach der Versicherten ab 1. Dezember 2001 eine Invalidenrente
auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 15 Prozent zu (Entscheid vom 13.
August 2008).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt S.________
beantragen, es sei ihr mit Wirkung ab 1. Dezember 2001 eine Rente entsprechend
einem Invaliditätsgrad von 100 Prozent oder eventuell von 58 Prozent
zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz oder
die Allianz zurückzuweisen.

Die Allianz schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für
Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Im
Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der
Militär- oder der Unfallversicherung ist das Bundesgericht - anders als in den
übrigen Sozialversicherungsbereichen (Art. 97 Abs. 1 BGG) - nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art.
97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
2.1 Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch ab 1. Dezember 2001. Damit
ist teilweise ein Sachverhalt zu beurteilen, der sich vor dem Inkrafttreten des
ATSG und der ATSV am 1. Januar 2003 verwirklicht hat. Daher und auf Grund
dessen, dass der Rechtsstreit eine Dauerleistung betrifft, über welche noch
nicht rechtskräftig verfügt wurde, ist entsprechend den allgemeinen
intertemporalrechtlichen Regeln für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf die
damals geltenden Bestimmungen abzustellen (BGE 130 V 445). Diese
übergangsrechtliche Lage zeitigt indessen - wie das kantonale Gericht
zutreffend dargelegt hat - keine materiellrechtlichen Folgen, da das ATSG
hinsichtlich des Begriffs und der Bemessung der Invalidität keine
substantiellen Änderungen gegenüber der bis Ende 2002 gültig gewesenen
Rechtslage gebracht hat.

2.2 Das kantonale Gericht hat die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch
(Art. 18 Abs. 1 UVG), die Begriffe der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG)
und der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG) sowie die Invaliditätsbemessung nach
der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt, worauf
verwiesen wird.

3.
Bezüglich der gesundheitlichen Beeinträchtigung und der daraus resultierenden
Arbeitsunfähigkeit hat das kantonale Gericht im Wesentlichen gestützt auf die
beiden Gutachten des Dr. med. R.________ vom 7. Juni 2002 und 11. Januar 2006
festgestellt, dass der Beschwerdeführerin wegen der Unfallfolgen mit
arthrotischem Verlauf im rechten Handgelenk und der damit verbundenen
Einschränkung der Belastbarkeit der rechten oberen Extremität als Gerantin
eines Restaurants die Ausübung aller manuellen Tätigkeiten, die beide Hände
erfordern, nicht mehr möglich ist, dass sie hingegen voll arbeitsfähig ist für
Tätigkeiten, welche keine schweren manuellen Verrichtungen und keine
nennenswerte manuelle Geschicklichkeit erfordern und bei welcher die
eingeschränkte Belastbarkeit der rechten Hand berücksichtigt werden kann. Diese
Sachverhaltsdarstellung wird in der Beschwerde ebenso wenig bestritten wie der
von der Vorinstanz auf den 1. Dezember 2001 festgesetzte Rentenbeginn.

4.
Zu prüfen ist, wie sich der Umstand, dass die Versicherte als Gerantin zwar
noch Führungs-, Überwachungs- und leichtere Serviceaufgaben übernehmen, jedoch
keine manuellen Arbeiten verrichten kann, welche den Einsatz beider Hände
erfordern, in erwerblicher Hinsicht auswirkt.

4.1 Der Jahresverdienst von Fr. 46'878.- für 2001, welchen das kantonale
Gericht als hypothetisches Valideneinkommen der Invaliditätsbemessung zugrunde
gelegt hat, ist unbestritten geblieben, und es besteht auch aufgrund der Akten
kein Anlass, davon abzuweichen.
4.2
4.2.1 Grundlage für die Ermittlung des Invalideneinkommens bildete der
monatliche Bruttolohn (Zentralwert) im privaten Sektor für Arbeitnehmerinnen
mit einfachen und repetitiven Tätigkeiten (Anforderungsniveau 4) von Fr.
3'658.- gemäss Tabelle TA1 der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für
Statistik des Jahres 2000 (TA1, privater Sektor), der sich nach Aufrechnung auf
41.7 Arbeitsstunden wöchentlich und Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung
2001 von 2.5 Prozent auf Fr. 46'905.- im Jahr belief und unter Vornahme eines
leidensbedingten Abzugs von 15 Prozent ein hypothetisches Invalideneinkommen
von Fr. 39'869.- ergab.
4.2.2 Die Beschwerdeführerin beanstandet das Vorgehen des kantonalen Gerichts
mit dem Argument, dem Umstand sei nicht Rechnung getragen worden, dass sie
gemäss Gutachten des Dr. med. R.________ als einhändig zu betrachten sei. Es
sei praxisfremd anzunehmen, dass eine im Zeitpunkt des Rentenbeginns 55 Jahre
alte, der deutschen Sprache nur rudimentär mächtige Arbeitnehmerin, welche als
Berufsabschluss einzig über das Wirtepatent verfüge und ausschliesslich
einhändige Tätigkeiten mit der nichtdominanten linken Hand verrichten könne,
auf dem massgebenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise noch ein
Einkommen erzielen könne und falls doch, dann höchstens im Umfang einer 50
prozentigen Arbeitsfähigkeit als Wirtin.
4.2.3 Laut Gutachten des Dr. med. R.________ vom 7. Juni 2002 ist die rechte
Hand für schwere manuelle Tätigkeiten unbrauchbar. Aus diesem Grund betrachtete
er die Arbeitsfähigkeit als Wirtin gesamthaft zu 50 Prozent eingeschränkt. Im
Gutachten vom 11. Januar 2006 hielt er bezüglich der Behinderung bei einer
Tätigkeit als Gerantin eines Restaurationsbetriebes fest, die Patientin sei in
diesem Beruf bei allen manuellen Arbeiten, die beide Hände erfordern, nicht in
der Lage, diese auszuführen und müsse als einhändig betrachtet werden. Alle
Tätigkeiten, welche nicht beidhändig ausgeführt werden müssten und weder eine
nennenswerte Geschicklichkeit noch Kraft brauchten, seien jedoch ganztags
zumutbar.
4.2.4 Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist primär von der
beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person
konkret steht. Ist jedoch kein tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben,
weil sie - wie die Beschwerdeführerin - nach Eintritt des Gesundheitsschadens
keine neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung
Tabellenlöhne gemäss LSE herangezogen werden (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit
Hinweisen). Indem die Vorinstanz in diesem Sinne vorgegangen ist, hat sie nicht
gegen Bundesrecht verstossen.
4.2.5 Das trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise
erzielbare Einkommen ist bezogen auf einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu
ermitteln, worauf bereits die Vorinstanz zutreffend hingewiesen hat. Ein
solcher Arbeitsmarkt ist gekennzeichnet durch ein gewisses Gleichgewicht
zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften und weist einen Fächer
verschiedenster Tätigkeiten auf und zwar sowohl bezüglich der dafür verlangten
beruflichen und intellektuellen Voraussetzungen wie auch hinsichtlich des
körperlichen Einsatzes (BGE 110 V 273 E. 4b S. 276; ZAK 1991 S. 318, I 350/89
E. 3b). Bei der Bestimmung des im Einzelfall in Betracht fallenden, dem
gesundheitlichen Anforderungsprofil entsprechenden Arbeitsmarktes ist nicht von
realitätsfremden Einsatzmöglichkeiten auszugehen. Es können nur Vorkehren
verlangt werden, die unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und
subjektiven Gegebenheiten zumutbar sind. Anderseits sind an die Konkretisierung
von Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten keine übermässigen
Anforderungen zu stellen (Urteil 9C_418/2008 vom 17. September 2008, E. 3.2.1).
Wie die Rechtsprechung wiederholt bestätigt hat, gibt es auf einem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt genügend realistische Betätigungsmöglichkeiten für
Personen, welche funktionell als Einarmige zu betrachten sind und überdies nur
noch leichte Arbeit verrichten können. Längst nicht alle im Arbeitsprozess im
weitesten Sinne notwendigen Aufgaben und Funktionen im Rahmen der Überwachung
und Prüfung werden durch Computer und automatische Maschinen ausgeführt.
Abgesehen davon müssen solche Geräte auch bedient und ihr Einsatz ebenfalls
überwacht und kontrolliert werden. Die Gerichtspraxis ist bisher regelmässig
bei Versicherten, welche ihre dominante Hand gesundheitlich bedingt nur sehr
eingeschränkt als unbelastete Zudienhand einsetzen können, von einem
hinreichend grossen Arbeitsmarkt mit realistischen Betätigungsmöglichkeiten
ausgegangen (Urteil 9C_418/2008 vom 17. September 2008, E. 3.2.2). Soweit die
Beschwerdeführerin geltend macht, das Finden einer Arbeitsstelle sei ihr
aufgrund mangelhafter Deutschkenntnisse erschwert, fällt auf, dass sie sich mit
dem Berufsberater recht gut auf Schweizerdeutsch verständigen konnte (Bericht
vom 5. Oktober 2004) und keine Hinweise dafür bestehen, dass sie ihre
unfallfremden Sprachschwierigkeiten vor dem Unfall aktiv angegangen wäre. Es
verletzt daher Bundesrecht nicht, dass das kantonale Gericht das
Invalideneinkommen auf der Grundlage der LSE ermittelt hat, ausgehend vom
durchschnittlichen monatlichen Bruttolohn ("Total") von Frauen in einfachen und
repetitiven Tätigkeiten des privaten Sektors.
4.2.6
4.2.6.1 Mit einem Abzug vom Tabellenlohn soll der Tatsache Rechnung getragen
werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der
Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie
und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V
321 E. 3b/aa S. 323) und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die
verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit
unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/
aa in fine S. 80). Der Abzug ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall
nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen. Er darf 25 Prozent nicht
übersteigen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80).

4.2.6.2 Seit BGE 126 V 75 hat die Praxis bei Versicherten, welche ihre
dominante Hand gesundheitlich bedingt nur sehr eingeschränkt, beispielsweise
als Zudienhand, einsetzen können, verschiedentlich einen Abzug von 20 Prozent
oder sogar 25 Prozent als angemessen bezeichnet (Urteil 9C_418/208 vom 17.
September 2008 E. 3.3.2 mit Hinweisen). Dies bedeutet indessen noch nicht, dass
die Vorinstanz ihr Ermessen rechtsfehlerhaft ausübte, wenn sie weniger als 20
Prozent annahm, zumal in den Urteilen I 348/04 vom 19. November 2004 und U 122/
05 vom 30. August 2005 ein Abzug von 10 Prozent bis 15 Prozent als angemessen
bezeichnet wurde und in BGE 129 V 472, mit Blick auf die Beeinträchtigungen
einer im Zeitpunkt des Rentenbeginns 55 Jahre alten versicherten Person nach
dislozierter Radiusfraktur rechts, ein solcher von 15 Prozent angenommen wurde.
Im Urteil U 147/00 vom 5. November 2003 wurde bei einem bei Beginn des
Rentenanspruchs 55 Jahre alten Versicherten, der wegen der Beeinträchtigung im
Gebrauch der dominanten rechten Hand auch im Rahmen einer geeigneten
leichteren, ganztags zumutbaren Beschäftigung in der Leistungsfähigkeit
beeinträchtigt war, der Abzug ebenfalls auf 15 Prozent festgelegt. Indem
Beschwerdegegnerin und kantonales Gericht am Tabellenlohn einen Abzug von
insgesamt 15 Prozent vorgenommen haben, ist dies nicht zu beanstanden, zumal zu
Recht von keiner Seite geltend gemacht wird, sie hätten ihr Ermessen
rechtsfehlerhaft missbraucht, über- oder unterschritten.

4.3 Zusammenfassend hat es beim unbestrittenen Valideneinkommen und dem aus der
Gegenüberstellung mit dem von der Vorinstanz als massgebend erachteten
Invalideneinkommen resultierenden Anspruch auf eine Invalidenrente von 15
Prozent ab 1. Dezember 2001 zu bleiben.

5.
Entsprechend dem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten von der
Beschwerdeführerin als unterliegender Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Das Bundesgericht erkennt:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. März 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Hofer