Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.933/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_933/2008

Urteil vom 27. April 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Grunder.

Parteien
S.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Franz Mattmann,

gegen

Regionales Arbeitsvermittlungszentrum
Obwalden Nidwalden (RAV), Landweg 3,
6052 Hergiswil, Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden
vom 9. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1953 geborene S.________ arbeitete seit 1984 - zuletzt als Direktor - bei
der Bank W.________, welche Anstellung aus wirtschaftlichen Gründen Ende
September 2006 gekündigt wurde. Die Arbeitgeberin zahlte im Oktober 2006 eine
Summe von Fr. 60'000.- und im Januar 2007 von Fr. 200'000.-
(Abgangsentschädigung) aus. Die Arbeitslosenkasse Ob- und Nidwalden lehnte mit
einer unangefochten rechtskräftig gewordenen Verfügung vom 31. Mai 2007 einen
am 2. Mai 2007 geltend gemachten Leistungsanspruch für den Zeitraum bis 20.
November 2007 mangels anrechenbaren Arbeitsausfalls ab. Am 22. November 2007
meldete sich S.________ bei der Einwohnergemeinde zur Arbeitsvermittlung an und
beantragte am 23. November 2007 die Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung.
Das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum Obwalden Nidwalden (im Folgenden:
RAV), verneinte mit Verfügung vom 17. Dezember 2007 die Vermittlungsfähigkeit
und damit einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, weil das Engagement bei
der Firma Q.________ AG es als aussichtslos erscheinen lasse, eine
unselbständige Erwerbstätigkeit finden oder an arbeitsmarktlichen Massnahmen
teilnehmen zu können. Daran hielt das RAV auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 11. Januar 2008).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher neue Unterlagen eingereicht
wurden, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden ab (Entscheid vom 9.
Juni 2008).

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt S.________ u.a.
ein vom Rechtsvertreter an das kantonale Gericht zugesandtes Schreiben vom 2.
Juli 2008 einreichen und beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheids sei festzustellen, dass er vermittlungsfähig sei und Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung ab 22. November 2007 bis 20. Juni 2008 habe;
eventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz
zurückzuweisen und "die Arbeitslosenkasse ist entsprechend anzuweisen".
Das RAV und das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) verzichten auf
Vernehmlassungen.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG kann die Feststellung des Sachverhalts nur gerügt
werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang
des Verfahrens entscheidend sein kann. Laut Art. 105 Abs. 1 BGG muss das
Bundesgericht dementsprechend seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde legen, den
die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 BGG). Neue
Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgetragen werden, als erst der
vorinstanzliche Entscheid dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Das
Bundesgericht wendet zudem das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2.
Ob das beim kantonalen Gericht eingereichte Schreiben des Rechtsvertreters des
Beschwerdeführers vom 2. Juli 2008 neue unzulässige Tatsachen im Sinne von Art.
99 Abs. 1 BGG enthält, kann mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens
offenbleiben.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer ab 22. November 2007
vermittlungsfähig war und daher Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hatte.
Das kantonale Gericht gab die diesbezüglich massgeblichen Bestimmungen (Art. 8
Abs. 1 lit. f AVIG und Art. 15 Abs. 1 AVIG) zutreffend wieder. Darauf wird
verwiesen.

4.
4.1
4.1.1 Die Vorinstanz stellte fest, dass sich der Versicherte gemäss einem mit
der Q.________ AG abgeschlossenen Agenturvertrag ab 3. März 2007 zunächst als
nebenberuflich tätiger "Beraterassistent" und ab 1. Juni 2007 hauptberuflich
als Agent verpflichtete, wobei ihm untersagt war, einer weiteren erwerblichen
Beschäftigung, die in Widerspruch zu dieser Tätigkeit stand, nachzugehen. Dafür
betrieb er gemäss Antragsformular auf Arbeitslosenentschädigung einen
ganztägigen Aufwand (vor- und nachmittags sowie abends). Zudem nahm er
ausweislich der Akten an den Informationsveranstaltungen des RAV vor allem aus
zeitlichen Gründen nicht teil. Gestützt auf diese Feststellungen gelangte die
Vorinstanz zum Schluss, neben der grossen zeitlichen Belastung bei der
Q.________ AG sei es dem Versicherten offensichtlich nicht mehr möglich
gewesen, anderen Verpflichtungen nachzukommen, weshalb die
Vermittlungsfähigkeit zu verneinen sei.
4.1.2 Der Beschwerdeführer bringt im Wesentlichen vor, die Vorinstanz habe den
Begriff der Vermittlungsfähigkeit falsch oder willkürlich ausgelegt. Er sei
seit 26. September 2006 ohne Job gewesen und habe inner- als auch ausserhalb
der Bankenbranche neben eigenen Bemühungen auch mit Hilfe von Personalberatern
und -vermittlern nach einer Neuanstellung gesucht. Entsprechende Beweismittel
habe er dem kantonalen Gericht vorgelegt. Nach einem halben Jahr erfolgloser
intensiver Arbeitssuche habe er sich entschlossen, bei der Q.________ AG eine
berufsbegleitende Weiterbildung zu absolvieren, deren Ziel gewesen sei, den vom
Bund anerkannten Fachausweis als Allfinanzberater zu erwerben. Den mit der
Q.________ AG abgeschlossenen Agenturvertrag hätte er gestützt auf Art. 404 OR
jederzeit auflösen können. Insgesamt sei an seiner Vermittlungsfähigkeit weder
in objektiver noch subjektiver Hinsicht zu zweifeln.
4.2
4.2.1 Die Vorinstanz hat an sich zu Recht festgehalten, dass die vom
Beschwerdeführer geäusserte Bereitschaft allein nicht für die Annahme genügte,
er hätte die Weiterbildung und Tätigkeit als Agent bei der Q.________ AG
jederzeit zu Gunsten einer anderen Anstellung aufgegeben. Allerdings reichte
dieser im kantonalen Verfahren Unterlagen ein, die eigene Bewerbungen als auch
von namentlich genannten Arbeitsvermittlern getätigte Bemühungen auf der Suche
nach einer in Frage kommenden neuen beruflichen Beschäftigung belegen. Die
Vorinstanz hat diese Beweismittel in Verletzung des bundesverfassungsrechtlich
geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) nicht
gewürdigt, weshalb das Bundesgericht den Sachverhalt insoweit frei überprüfen
kann (vgl. E. 1 hievor).
4.2.2 Gemäss vorinstanzlich eingereichtem Schreiben vom 26. November 2007 war
die H._________ GmbH ab September 2006 bis Juni 2007 für ein "Outplacement" mit
dem Ziel, den Versicherten auf Direktionsstufe beruflich wieder einzugliedern,
zu einem Entgelt von insgesamt Fr. 26'450.- tätig. Nach den weiteren Angaben
des Beschwerdeführers nahm im Jahre 2007 zudem die Personalberatung L.________
mit den Banken X.________ und Y.________ sowie der Bank Z._________
Verhandlungen hinsichtlich einer allfälligen Anstellung auf. Sodann
beanspruchte der Versicherte die Dienste des Unternehmensberaters U.________,
der diverse Anfragen bei ihm bekannten Unternehmen (Finanzgesellschaften und
Immobilienfirmen) tätigte. Schliesslich bewarb sich der Versicherte auch selber
direkt bei mehreren Unternehmen, versuchte mittels Aufkauf von Beteiligungen
bei einigen Betrieben ein Engagement zu erhalten und kontaktierte regelmässig
Leute innerhalb des im Laufe der beruflichen Karriere aufgebauten
Beziehungsnetzes.
4.2.3 Diesen glaubhaften Darlegungen zufolge suchte der Beschwerdeführer seit
dem Zeitpunkt der Kündigung Ende September 2006 eine Erwerbstätigkeit im
Anstellungsverhältnis. Er schloss den Agenturvertrag mit der Q.________ AG
unstreitig in erster Linie mit dem Ziel ab, den Fähigkeitsausweis als
Allfinanzberater zu erwerben, um damit seine Erfolgsaussichten auf dem
Arbeitsmarkt zu verbessern. Wohl diente die praktische Tätigkeit bei der
Q.________ AG auch dem Zweck, einen Kundenstamm aufzubauen und ein Einkommen zu
erzielen, mit welchem der Lebensunterhalt bestritten werden konnte. In der
Hauptsache ging es aber darum, Erfahrungen zu sammeln und die Ausbildungskosten
zu finanzieren. Daher kann entgegen der vorinstanzlichen Auffassung nicht davon
ausgegangen werden, der Versicherte sei konsequent mit der Vorbereitung zur
Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit beschäftigt gewesen, so dass ihm
daneben die Ausübung einer normalen Tätigkeit im Angestelltenverhältnis zu den
üblichen Zeiten nicht mehr möglich war (vgl. BGE 112 V 326 E. 1a S. 327 und ARV
1997 Nr. 36 S. 203, C 160/94 E. 3). Vielmehr stellt sich angesichts der
Umstände in rechtlicher Hinsicht die Frage, ob die Vermittlungsfähigkeit des
Versicherten, der ohne Bewilligung der Arbeitslosenversicherung einen (im
Übrigen mehr als ein halbes Jahr vor der Anmeldung zum Bezug von
Arbeitslosenentschädigung begonnenen) Kurs besuchte, zu verneinen ist, weil er
nicht bereit und in der Lage war, die Weiterbildung jederzeit abzubrechen, um
eine Stelle anzutreten (vgl. BGE 122 V 265). Insoweit macht der
Beschwerdeführer zu Recht geltend, dass das kantonale Gericht von einem
unzutreffenden Begriff der Vermittlungsfähigkeit ausgegangen ist.
4.3
4.3.1 Nach der Rechtsprechung sind der objektive und der subjektive Bereich der
Vermittlungsfähigkeit zu unterscheiden. In erster Hinsicht ist festzuhalten,
dass der Besuch eines ganztägigen Kurses die Annahme einer erwerblichen
Tätigkeit ausschliesst. Die Vermittlungsfähigkeit kann nur bejaht werden, wenn
eindeutig feststeht, dass der Versicherte bereit und in der Lage ist, den Kurs
jederzeit abzubrechen, um eine Stelle anzutreten. Dies ist auf Grund objektiver
Kriterien zu prüfen. Die Willensäusserung des Versicherten allein genügt hiezu
nicht. In subjektiver Hinsicht muss feststehen, dass der Versicherte auch
während des Kursbesuches seiner Pflicht zu persönlichen Arbeitsbemühungen
nachgekommen ist. Daher müssen an die Disponibilität und Flexibilität der
Versicherten, die freiwillig und auf eigene Kosten einen nicht bewilligten Kurs
besuchen, erhöhte Anforderungen gestellt werden. Sie müssen ihre
Arbeitsbemühungen qualitativ und quantitativ fortsetzen und bereit sein, den
Kurs unverzüglich abzubrechen, um eine angebotene Stelle anzutreten. Eine
entsprechende Willenshaltung oder die bloss verbal erklärte
Vermittlungsbereitschaft genügt nicht. Bei fehlender Aktivität und
Dispositionen, die der Annahme der Vermittlungsbereitschaft entgegenstehen,
kann sich der Versicherte nicht darauf berufen, er habe die Vermittlung und
Suche einer Arbeit gewollt (BGE 122 V 265 E. 4 S. 266 f.). Die
Vermittlungsfähigkeit ist prospektiv zu beurteilen, d.h. von jenem Zeitpunkt
aus und unter Würdigung jener Verhältnisse, die bei Erlass der angefochtenen
Verfügung gegeben waren (HANS-ULRICH STAUFFER/BARBARA KUPFER BUCHER,
Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und
Insolvenzentschädigung, Zürich/Basel/Genf 2008, 3. Aufl., S. 62 zu Art. 15 AVIG
mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).
4.3.2 Auf Grund der vorinstanzlich eingereichten Unterlagen ist nicht
einzusehen, weshalb der Beschwerdeführer nicht bereit gewesen sein soll, die
Weiterbildung und Tätigkeit bei der Q.________ AG zu Gunsten eines
vollzeitlichen Anstellungsverhältnisses aufzugeben. Die Vorinstanz übersieht,
wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, dass er den der Weiterbildung
dienenden Agenturvertrag bei der Q.________ AG abschloss, als er schon mehr als
ein halbes Jahr ohne Arbeit gewesen war und diesen nicht zuletzt deshalb weiter
erfüllte, weil die Arbeitslosenkasse mit Verfügung vom 31. Mai 2007 einen
Leistungsanspruch bis 20. November 2007 verneint hatte. Insgesamt betrachtet
ist die Vermittlungsfähigkeit als eine wesentliche Voraussetzung des Anspruchs
auf Arbeitslosenentschädigung sowohl in subjektiver als auch in objektiver
Hinsicht zu bejahen. Die Sache ist daher zur Prüfung der weiteren
Anspruchsvoraussetzungen an die Verwaltung zurückzuweisen.

5.
5.1 Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 62 Abs. 1 Satz 1 BGG). Laut BGE 134
V 640 sind die Kantone und die mit dem Vollzug der Arbeitslosenversicherung
betrauten kantonalen Durchführungsorgane im Sinne von Art. 76 Abs. 1 lit. c
AVIG von der Bezahlung der Gerichtskosten befreit, weil sie in ihrem amtlichen
Wirkungskreis und nicht im eigenen Vermögensinteresse handeln (Art. 66 Abs. 4
BGG). Dem unterliegenden RAV sind daher keine Gerichtskosten aufzuerlegen.

5.2 Der obsiegende Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung
(Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden, Abteilung Versicherungsgericht, vom
9. Juni 2008 und der Einspracheentscheid des RAV vom 11. Januar 2008 werden
aufgehoben. Die Sache wird an das RAV zurückgewiesen, damit es, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden, Abteilung
Versicherungsgericht, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden,
Abteilung Versicherungsgericht, der Arbeitslosenkasse Ob- und Nidwalden und dem
Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. April 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Grunder