Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.794/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_794/2008

Urteil vom 29. Januar 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Niquille,
Gerichtsschreiber Jancar.

Parteien
G.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch
CAP Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft AG, Laupenstrasse 27, 3008 Bern,

gegen

Helsana Unfall AG, Versicherungsrecht,
Postfach, 8081 Zürich, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 13. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1981 geborene G.________ war seit 13. Oktober 2003 als Coiffeuse bei der
Firma C.________ AG angestellt und damit bei der Helsana Unfall AG (nachfolgend
Helsana) obligatorisch unfallversichert. Am 19. Januar 2007 wurde ihr während
der Arbeit schlecht, worauf sie ohnmächtig wurde, stürzte und den Kopf
anschlug. Gleichentags begab sie sich zu Dr. med. F.________, Allg. Medizin
FMH, in Behandlung. Zwei Tage später beklagte sie starke Ohrenschmerzen und
hörte fast nichts mehr. Am 12. April 2007 suchte sie Dr. med. M.________,
Spezialarzt FMH für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, auf, der einem massiven
Hörsturz links, Magnesiummangel und Adipositas diagnostizierte (Bericht vom 16.
Mai 2007). Die Helsana kam für die Heilbehandlung bei Dr. med. F.________ vom
19. Januar bis 16. Februar 2007 sowie eine Apothekerrechnung vom 29. Januar
2001 auf und entrichtete vom 22. bis 23. Januar 2007 Taggelder. Zur Abklärung
der Verhältnisse zog sie diverse Arztberichte bei. Mit Verfügung vom 17. August
2007 stellte sie die Versicherungsleistungen ab 17. Februar 2007 ein. Die
dagegen erhobene Einsprache wies sie nach Einholung weiterer Arztberichte ab,
da die Ohrenbeschwerden links nicht überwiegend wahrscheinlich auf den Unfall
vom 19. Januar 2007 zurückzuführen seien (Entscheid vom 28. Januar 2008).

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 13. August 2008 ab.

C.
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte die Aufhebung des kantonalen
Entscheides und die Rückweisung der Sache an die Helsana zu neuer Entscheidung;
der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen. Sie legt neu einen
Bericht des Dr. med. P.________, Spezialarzt FMH Ohren-, Nasen-,
Halskrankheiten, Hals- und Gesichtschirurgie, vom 12. September 2008 auf. Die
Helsana schliesst auf Beschwerdeabweisung, während das Bundesamt für Gesundheit
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
Die Versicherte beantragt in der letztinstanzlichen Beschwerde unter dem Titel
"Rechtsbegehren" in materieller Hinsicht einzig die Rückweisung der Sache an
die Helsana zu neuer Entscheidung. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich
indessen, dass sie die Leistungseinstellung auf den 17. Februar 2007
beanstandet. Die Eintretensvoraussetzung des rechtsgenüglichen Antrags ist
demnach erfüllt (vgl. BGE 133 III 489 E. 3.1; Urteil 8C_814/2007 vom 25.
September 2008, E. 3 mit Hinweis).

3.
Die Vorinstanz hat die Bestimmung über den Anspruch auf Leistungen der
Unfallversicherung im Allgemeinen (Art. 6 Abs. 1 UVG) und die Grundsätze über
den für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 111 f., 129 V 177 E. 3.1
S. 181 mit Hinweisen) sowie den im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad
der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 134 V 109 E. 9.5 S. 125 mit Hinweis)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Helsana ihre Leistungen ab 17. Februar 2007
zu Recht mit der Begründung eingestellt hat, die anhaltenden Beschwerden der
Versicherten am linken Ohr seien nicht natürlich kausal auf den Unfall vom 19.
Januar 2007 zurückzuführen. Da die Helsana die bis 16. Februar 2007 gewährten
Leistungen nicht zurückfordert, kann sie die Leistungseinstellung ohne die
Rückkommensvoraussetzungen der prozessualen Revision oder der Wiedererwägung
und damit ohne Bindung an die früher ausgerichteten Leistungen vornehmen (BGE
130 V 380 E. 2.3.1 S. 384 f.). Gegenteiliges macht die Versicherte denn auch
nicht geltend.

5.
Letztinstanzlich legt die Versicherte neu den Bericht des Dr. med. P.________
vom 12. September 2008 auf, wonach ihre Beschwerden am linken Ohr eine Folge
des Sturzes vom 19. Januar 2007 seien. Da die Versicherte wegen der
Notwendigkeit weiterer Abklärungen (E. 6.3 hienach) aus diesem Bericht nichts
zu ihren Gunsten ableiten kann, kann offenbleiben, ob vor Bundesgericht neu
eingereichte Beweismittel im Rahmen der Kognition nach Art. 97 Abs. 2 bzw. Art.
105 Abs. 3 BGG (Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung)
unzulässige Noven gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG bilden (vgl. Urteil 8C_356/2008 vom
10. Dezember 2008, E. 2 mit Hinweis).

6.
6.1 Der Hörsturz ist eine plötzlich auftretende, meist einseitige
Schallempfindungsschwerhörigkeit, die mit Tinnitus aurium und/oder Schwindel
einhergehen kann. Die Ursachen sind unklar; diskutiert werden
Mikrozirkulationsstörungen des Innenohrs, autoimmune Prozesse, virale
Entzündungen und vaskuläre Faktoren (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261.
Aufl., Berlin 2007, S. 830).
6.2
6.2.1 Es steht fest, dass der Versicherten am 19. Januar 2007 während der
Arbeit schlecht wurde, worauf sie ohnmächtig wurde, stürzte und den Kopf
anschlug. Gleichentags begab sie sich zu Dr. med. F.________, Allg. Medizin
FMH, in Behandlung. Zwei Tage später beklagte sie starke Ohrenschmerzen und
hörte fast nichts mehr. Dr. med. F.________ diagnostizierte im Zeugnis vom 20.
Juni 2007 einen Hörsturz links nach Synkope am 19. Januar 2007 und verwies im
Übrigen betreffend Verlauf und Therapie auf die Angaben des Dr. med.
P.________.
6.2.2 Am 12. April 2007 suchte die Versicherte den Ohrenspezialisten Dr. med.
M.________ auf, der einen massiven Hörsturz links, Eisenmangelanämie und
Adipositas diagnostizierte. Ob ein Zusammenhang zwischen der höchstgradigen
cochleären Schwerhörigkeit links und jener Synkope im vergangenen Februar
(recte Januar) 2007 bestehe, lasse sich letztlich nicht beweisen oder
ausschliessen (Bericht vom 16. Mai 2007). Unter Verweis auf diesen Bericht gab
Dr. med. M.________ in demjenigen vom 4. Juli 2007 ohne weitere Begründung an,
die Befunde/ Diagnosen stünden möglicherweise in natürlichem Kausalzusammenhang
zum Ereignis vom 19. Januar 2007.
6.2.3 Am 22. Mai 2007 begab sich die Versicherte zum Ohrenspezialisten Dr. med.
P.________ in Behandlung, der im Bericht vom 31. Mai 2007 eine hochgradige
Perzeptionsschwerhörigkeit am linken Ohr nach Kollaps am 19. Januar 2007
diagnostizierte. Im Bericht vom 22. Februar 2008 legte er dar, da die
Innenohrschwerhörigkeit bisher unverändert geblieben und unmittelbar nach dem
starken Schlag auf den Kopf aufgetreten sei, sei er der eindeutigen Meinung,
dass die Unfallkausalität mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sei.
6.2.4 Dr. med. A.________, beratender Arzt der Helsana, und Dr. med.
D.________, Facharzt FMH Ohren-, Nasen-, Halskrankheiten, Hals- und
Gesichtschirurgie, gingen in den Akten-Berichten vom 11. Juli 2007 bzw. 15.
April 2008 davon aus, die natürliche Unfallkausalität sei nur möglich. Während
Ersterer ohne weitere Begründung auf die Einschätzung des Dr. med. M.________
verwies, begründete Dr. med. D.________ seine Auffassung mit der
aussergewöhnlichen Latenzzeit von zwei Tagen zwischen dem Ereignis vom 19.
Januar 2007 und dem Ohrenleiden.

6.3 Nach dem Gesagten ist die medizinische Aktenlage insgesamt widersprüchlich
und unklar hinsichtlich der Frage, ob die Beschwerden am linken Ohr der
Versicherten zumindest im Sinne einer Teilursache (BGE 134 V 109 E. 9. S. 125
f. mit Hinweisen) auf den Unfall vom 19. Januar 2007 zurückzuführen sind. Die
Ohrenspezialisten Dres. med. M.________ und P.________, welche die Versicherte
selber untersucht haben, sind diesbezüglich unterschiedlicher Auffassung. Ihre
Berichte sind zudem nicht eingehend begründet, was auch die Vorinstanz
einräumt. Sie haben die in Frage kommenden Ursachen des Hörsturzes der
Versicherten nicht überzeugend erörtert. Auf die blossen Akten-Beurteilungen
der Dres. med. A.________ und D.________ kann unter den gegebenen Umständen
nicht abgestellt werden (vgl. Urteil 8C_210/2007 vom 15. Mai 2008, E. 8.4 mit
Hinweis). Die Sache ist daher in Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art.
43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG; BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f.) zwecks
Einholung eines medizinischen Gutachtens an die Helsana zurückzuweisen. In
diesem Rahmen wird auch die von der Versicherten aufgeworfene Frage zu prüfen
sein, ob der Hörsturz auf einem durch den Unfall vom 19. Januar 2007
verschlimmerten Vorzustand gründet. Es kann nicht im Sinne antizipierter
Beweiswürdigung gesagt werden, von einer zusätzlichen, nachvollziehbar und
schlüssig begründeten medizinischen Beurteilung seien keine verwertbaren
entscheidrelevanten Erkenntnisse zu erwarten (vgl. SVR 2009 UV Nr. 3 S. 9 E.
8.3, 8C_354/2007). Hernach hat die Helsana über den Leistungsanspruch der
Versicherten neu zu verfügen.

7.
Das Gesuch der Versicherten um aufschiebende Wirkung ist mit dem Entscheid in
der Hauptsache gegenstandslos (Urteil 8C_482/2007 vom 25. Februar 2008, E. 4
mit Hinweis).

8.
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Helsana auferlegt (Art. 66 Abs. 1
BGG; BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235). Sie hat der Versicherten eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG; Urteile 8C_611/2007 vom
23. April 2008, E. 8, und I 388/01 vom 19. März 2002, E. 3).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 13. August 2008 und der Einspracheentscheid der Helsana vom
28. Januar 2008 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Helsana
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über den Leistungsanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Januar 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Jancar