Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.793/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_793/2008

Urteil vom 13. März 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Parteien
S.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 14.
August 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 27. September 2007 lehnte die IV-Stelle Bern den Anspruch der
S.________, geboren 1971, auf Versicherungsleistungen ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 14. August 2008 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr eine
"Rente auf der Basis von 100 %" zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zu
neuem Entscheid zurückzuweisen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der
Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG) und zum Anspruch
auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

3.
Die Beschwerdeführerin macht zunächst eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
geltend, indem sie vor Erlass der Verfügung nicht zur Stellungnahme des
regionalen ärztlichen Dienstes vom 12. September 2007 habe Stellung nehmen
können.

Zu diesem Einwand hat sich die Vorinstanz einlässlich und zutreffend geäussert
und insbesondere auch zu Recht ausgeführt, dass der fragliche Bericht des
regionalen ärztlichen Dienstes keine eigenständige fachmedizinische
Einschätzung enthält, sondern eine Würdigung der vorliegenden medizinischen
Akten darstellt. Deshalb wiegt die Gehörsverletzung nicht besonders schwer und
kann ausnahmsweise als geheilt gelten, da sich die Beschwerdeführerin vor der
Vorinstanz, welche sowohl die Rechtslage als auch den Sachverhalt frei
überprüfen kann, noch äussern konnte (BGE 132 V 368 E. 3.1 S. 370). Da die
Sache aus materiellen Gründen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen ist,
erübrigen sich ohnehin Weiterungen.

4.
4.1 Die Ärzte der Gutachtenstelle X.________, welche von der Beschwerdeführerin
zur Abklärung der gesundheitlichen Folgen eines am 26. April 2004 erlittenen
Unfalls beauftragt wurden, diagnostizierten Cervicocephalea,
Cervicobrachialgien und ein Panvertebralsyndrom mit sekundärer
Fibromyalgieentwicklung, neurovegetativer und neuropsychologischer sowie
psychischer Störung. Nach Auffassung der Gutachter führen diese Leiden zu einer
vollständigen Arbeitsunfähigkeit sowohl im angestammten Beruf als kaufmännische
Angestellte als auch in einer leidensangepassten Tätigkeit (Gutachten vom 23.
November 2006).

4.2 Dem konnte das kantonale Gericht angesichts der gestellten Diagnosen nicht
folgen. Es hat dem Grundsatz nach festgehalten, dass nicht allein auf die
Schmerzangaben der Versicherten abgestellt werden könne, wenn diese durch damit
korrelierende, fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde nicht hinreichend
erklärbar sind (BGE 130 V 396 E. 5.3.2 S. 399), und dass psychische Störungen
nicht ohne Weiteres zu einer Invalidisierung führen (BGE 130 V 352 E. 2.2.1 S.
353, 131 V 49 E. 1.2 S. 50). Insbesondere weil es an einer psychischen
Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer fehle, gelangte die
Vorinstanz zum Schluss, dass es der Beschwerdeführerin unter Aufbietung allen
guten Willens zuzumuten sei, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten.
Es liege somit kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor.
4.3
4.3.1 Das kantonale Gericht hat damit in Abweichung von der Einschätzung der
Gutachter der Gutachtenstelle X.________ angenommen, dass die Versicherte in
ihrer Arbeitsfähigkeit nicht eingeschränkt sei. Es hat dabei auf weitere
Beweisvorkehren verzichtet. Ein solches Vorgehen und damit ein Entscheid
aufgrund einer antizipierten Beweiswürdigung hält dann nicht stand, wenn die
Sachverhaltsfeststellung unauflösbare Widersprüche enthält oder wenn eine
entscheidwesentliche Tatsache auf unvollständigen Beweisgrundlagen -
beispielsweise ohne den unabdingbaren Beizug von Experten - beantwortet wird
(Urteil 9C_410/2008 vom 8. September 2008 E. 3.3.1).
4.3.2 Es ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar und wird im Gutachten der
Gutachtenstelle X.________ auch nicht näher begründet, weshalb die
Beschwerdeführerin vollständig arbeitsunfähig sein soll. Es wird darin
insbesondere nicht erläutert, weshalb eine angepasste Tätigkeit trotz der
festgestellten organischen Beschwerden nicht möglich sein soll. Es fehlt im
Gutachten aber auch eine Antwort auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin über
die notwendigen Ressourcen zur Überwindung ihrer Schmerzen verfügt (BGE 131 V
49 E. 1.2 S. 50). Insofern ist das Gutachten unvollständig.
4.3.3 Die soeben dargelegten medizinischen Fragen sind im vorliegenden
Verfahren entscheidwesentlich. Verwaltung und Vorinstanz konnten sich indessen
ohne Beizug des Fachwissens von Experten/Expertinnen nicht einfach über die
Einschätzung der Gutachter der Gutachtenstelle X. ________ hinwegsetzen (vgl.
E. 4.3.1). Vielmehr besteht weiterer medizinischer Abklärungsbedarf. Es ist
einerseits zu prüfen, ob und inwieweit die organischen Beschwerden zu einer
Einschränkung in einer angepassten Tätigkeit führen. Andrerseits ist zu klären,
ob die nicht organischen, psychischen Störungen im Sinne der genannten
Rechtsprechung (BGE 130 V 352 E. 2.2.1 S. 353) überwindbar sind. Die IV-Stelle
wird daher ein neues Gutachten einholen müssen, welches diese massgeblichen
Fragen beantwortet.

4.4 Die Beschwerdeführerin rügt schliesslich die Rechtsprechung des
Bundesgericht zur somatoformen Schmerzstörung (BGE 131 V 49, 130 V 352) in
grundsätzlicher Hinsicht. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass sich das
Bundesgericht in SVR 2008 IV Nr. 62 S. 203, 9C_830/2007, zur Kritik an der
erwähnten Rechtsprechung, insbesondere zum Vorwurf eines diskriminierenden
Krankheitsbegriffs, geäussert hat. Es kann darauf verwiesen werden.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
Prozessausgang entsprechend der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG); des Weiteren hat sie der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 14. August 2008 und
die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 27. September 2007 werden aufgehoben. Es
wird die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
eine Invalidenrente neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse der graphischen
und papierverarbeitenden Industrie der Schweiz und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. März 2009

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Durizzo