Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.764/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_764/2008

Urteil vom 27. November 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger,
Gerichtsschreiber Grunder.

Parteien
K.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Schwanenplatz 7, 6000 Luzern 5,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 11. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene K.________ war seit November 1973 bei der Firma X.________ AG
als Produktionsmitarbeiter angestellt und dadurch bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen obligatorisch
versichert. Am 27. Oktober 1998 wurde der Versicherte, welcher mit einem
Fahrrad unterwegs war, beim Linksabbiegen aus einer Haupstrasse von einem aus
einer vortrittsbelasteten Nebenstrasse nach links abbiegenden Personenwagen
erfasst und zu Boden geschleudert. Im Spital Y.________, wohin der Versicherte
eingeliefert und bis 31. Oktober 1998 stationär behandelt wurde, stellten die
Ärzte Brüche im Bereich der linken Schulter (dislozierte mehrfragmentäre
Fraktur der Ala scapulae) und an den linksseitigen Rippen 3 und 4 fest (vgl.
Bericht "Zusammenfassung der Krankengeschichte", undatiert), die im Januar 1999
bei eingeschränkter Beweglichkeit des linken Schultergelenkes konsolidiert
waren (Bericht vom 13. Januar 1999; vgl. auch Bericht des Dr. med. FMH
Q.________vom 25. Januar 1999). Am 15. Februar 1999 nahm der Versicherte die
Arbeit zu einem hälftigen und ungefähr vier Monate nach dem Unfall im
angestammten vollzeitlichen Pensum auf.

Am 29. September 2003 wurde der Versicherte im medizinischen Zentrum T.________
(vgl. auch Bericht dieser Institution vom 3. Januar 2004) wegen linksseitigen
Schulter- und Unterschenkelschmerzen bei Status nach schwerem Unfall
notfallmässig behandelt. Aufgrund einer Meldung der Arbeitgeberin vom 30.
Oktober 2003 tätigte die SUVA weitere medizinische Abklärungen (Berichte des
Dr. med. A.________, Facharzt für Innere Medizin FMH, vom 25. November und 12.
Dezember 2003, des Spitals Y.________ vom 9. März 2004 sowie des Dr. med.
U.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 16. März 2004), veranlasste eine
kreisärztliche Untersuchung vom 4. Juni 2004 (Bericht des Dr. med. B.________,
FMH Chirurgie, executive MBA, [vgl. auch dessen Stellungnahme vom 23. Juli
2004]) und zog zusätzliche Auskünfte des Dr. med. A.________ vom 20. Juli 2004
sowie des Dr. med. Z.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 18. Februar und 24.
Mai 2005 bei. Laut Bericht des Dr. med. M.________, FMH für Orthopädische
Chirurgie, vom 28. Juni 2005, welcher eine weitere kreisärztliche Untersuchung
durchführte, verblieb eine gewisse Funktionsverminderung mit leichter
Kraftreduktion im Bereich des linken Schultergelenks; über der Tibia
(Schienbein) links fand sich eine leichte Pigmentverschiebung, welche
wahrscheinlich durch eine alte Verletzung entstanden war. Mit Verfügung vom 23.
September 2005 sprach die SUVA dem Versicherten eine Invalidenrente bei einer
Erwerbsunfähigkeit von 32 % ab 1. Oktober 2005 zu. Auf Einsprache hin holte sie
eine ärztliche Beurteilung des Dr. med. M.________ vom 30. Mai 2006 ein, wonach
die Beinbeschwerden links nicht überwiegend wahrscheinlich auf den Unfall vom
27. Oktober 1998 zurückzuführen seien. Mit Entscheid vom 13. Juni 2006 wies die
SUVA die Einsprache ab.

B.
Hiegegen liess K.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Beschwerde
einreichen und im Laufe des Verfahrens ein von der IV-Stelle Luzern bestelltes
Gutachten der MEDAS vom 10. Januar 2008 auflegen. Mit Entscheid vom 11. August
2008 wies das kantonale Gericht das Rechtsmittel ab.

C.
Mit Beschwerde lässt K.________ verschiedene Unterlagen (worunter Berichte des
Spitals Y.________ vom 2. Dezember 1998 und des Dr. med. Q.________vom 9.
Dezember 1998 sowie eine Bestätigung seiner Schwester vom 9. September 2008)
auflegen und das Rechtsbegehren stellen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheids habe die SUVA ihm ab 1. Oktober 2005 eine Invalidenrente aufgrund
eines Invaliditätsgrades von 70 % und eine Entschädigung gestützt auf eine
Integritätseinbusse von mindestens 30 % auszurichten.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur so
weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt.

Nach Art. 97 Abs. 2 BGG kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden, wenn sich die Beschwerde
gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung richtet. Das Bundesgericht ist dabei nicht
an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 3 BGG).
Ob aus dieser Rechtslage zu schliessen ist, dass neue tatsächliche Vorbringen
zuzulassen sind, sofern sie form- und fristgerecht eingebracht werden, muss
hier mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens nicht weiter nachgegangen werden.

1.2 Kein neues Beweismittel stellt der letztinstanzlich aufgelegte Rapport der
Polizei V.________ vom 28. Oktober 1998 dar, welcher der SUVA gemäss Erwägungen
im Einspracheentscheid vom 13. Juni 2006 und der vorangegangenen Anfrage an Dr.
med. B.________ vom 22. Juli 2004 offensichtlich vorlag, jedoch nicht in die
Akten aufgenommen wurde.

2.
Streitgegenstand bildet einzig die Frage, ob der chronische schmerzhafte
Residualzustand am linken Unterschenkel ventral ohne signifikante Arthrose des
Oberen Sprunggelenks (OSG; vgl. MEDAS-Gutachten vom 10. Januar 2008) in einem
natürlichen Kausalzusammenhang mit dem Unfall vom 27. Oktober 1998 steht.
Unbestritten ist, dass das chronische panvertebrale Schmerzsyndrom und die
beidseitige, mässig ausgeprägte Hüftarthrose (vgl. MEDAS-Gutachten vom 10.
Januar 2008) nicht Unfallfolgen sind.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat die Rechtsgrundlagen zu dem für die Leistungspflicht des
Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod), dem
erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit sowie den von
der Judikatur entwickelten allgemeinen Grundsatz der freien Beweiswürdigung
(vgl. auch Art. 61 lit. c in fine ATSG) zutreffend festgehalten. Darauf wird
verwiesen.

3.2 Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht.
Danach hat die Verwaltung (Art. 43 Abs. 1 ATSG) und im Beschwerdefall das
Gericht (Art. 61 lit. c ATSG) von Amtes wegen für die richtige und vollständige
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt
indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den
Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195, 122 V 157 E. 1a
S. 158, je mit Hinweisen; vgl. BGE 130 I 180 E. 3.2 S. 183).

Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess tragen
mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im Falle der
Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem
unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel
greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des
Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu
ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit
zu entsprechen (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264 mit Hinweisen).

4.
4.1 Die Vorinstanz erwog, weder der Unfallmeldung vom 29. Oktober 1998, noch
den Erstauskünften des Spitals Y.________ (undatierte Zusammenfassung der
Krankengeschichte; Bericht vom 13. Januar 1999), noch dem Bericht des
nachbehandelnden Dr. med. Q.________vom 25. Januar 1999 seien eine
Beinverletzung links zu entnehmen. Der Versicherte habe erstmals am 29.
September 2003 (vgl. Bericht des medizinischen Zentrums T.________), mithin
fast fünf Jahre nach dem Unfall Beinschmerzen links angegeben. Die Kreisärzte
Dres. med. B.________ und M.________ hätten die Unfallkausalität nicht als
überwiegend wahrscheinlich bezeichnet. Der rheumatologische Konsiliarius der
MEDAS habe einzig aufgrund der Angaben des Versicherten den chronischen
Schmerzzustand am linken Unterschenkel auf den Fahrradunfall zurückgeführt.
Insgesamt sei daher ein Kausalzusammenhang zu verneinen. Daran ändere nichts,
dass im Polizeirapport anscheinend Schürfungen am linken Bein und in der
Krankengeschichte des Dr. med. Q.________ein Unfall mit der linken Schulter und
dem linken Bein vermerkt worden seien. Eine ärztliche Behandlung der geltend
gemachten Beinschmerzen sei erstmals Jahre nach dem Unfall ausgewiesen.

4.2 Der Beschwerdeführer bringt zu Recht vor, dass die vorinstanzliche
Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugt.
4.2.1 Auch wenn der von der SUVA eingeholten undatierten Krankengeschichte des
Spitals Y.________, die sich auf den Zeitraum der stationären Behandlung vom
27. bis 31. Oktober 1998 bezieht und eine Zusammenfassung darstellt, kein
Hinweis auf eine Beinverletzung links zu entnehmen ist, darf daraus nicht ohne
weiteres der Umkehrschluss gezogen werden, dass eine solche nicht existent war.
Die Vorinstanz räumt explizit ein, dass für das Spital Y.________ die
notfallmässige Behandlung der Trümmerfraktur am linken Schultergelenk im
Vordergrund stand. Daher kann aus der Nichterwähnung anderer Beschwerden nicht
geschlossen werden, solche seien nicht vorhanden gewesen. Dasselbe gilt für den
Bericht vom 13. Januar 1998 an den Hausarzt Dr. med. Q.________, wonach im
Spital Y.________ sechs Wochen nach dem Unfall eine Verlaufs- und im Januar
1998 eine Schlusskontrolle einzig der Schulterverletzung vorgenommen wurde.
4.2.2 In der Krankengeschichte des Dr. med. Q.________, welche ebenfalls nicht
ediert, sondern anhand der Angaben von dessen Nachfolger Dr. med. A.________,
der den Versicherten im Zeitraum vom 13. Oktober 2003 bis 3. März 2004
hausärztlich betreute (vgl. Bericht vom 20. Juli 2004), zur Kenntnis genommen
wurde, findet sich immerhin der Vermerk, dass beim Unfall vom 27. Oktober 1998
das linke Bein betroffen gewesen war. In Übereinstimmung damit sind im Rapport
der Polizei vom 28. Oktober 1998 Schürfungen am linken Schienbein erwähnt. Eine
Nachfrage beim ehemaligen Hausarzt Dr. med. Q.________, welcher Aufschluss
darüber hätte geben können, ob medizinische Behandlung erforderlich gewesen
war, erfolgte nicht. Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass dazu Anlass
bestanden hat, zumal Anhaltspunkte fehlen, dass er vor dem Unfall aufgrund von
Beinbeschwerden links ärztlicher Behandlung bedurfte oder deswegen
arbeitsunfähig war. Bekannt ist einzig eine im Jahre 1985 durchgeführte
Varizenoperation, welche laut kreisärztlichem Bericht des Dr. med. B.________
vom 4. Juni 2004 die Beinschmerzen links nicht erklärt. Angesichts des
Umstands, dass der Versicherte beim Unfall vom 27. Oktober 1998 mit seinem
Fahrrad beim Linksabbiegen linkseitig von einem Personenwagen erfasst wurde,
erscheint zudem eine Verletzung des linken Beines plausibel. Insgesamt hätte
die Vorinstanz gestützt auf Art. 61 lit. c ATSG weitere Abklärungen vornehmen
müssen.

4.2.3 An diesem Ergebnis ändern die Stellungnahmen der SUVA-Kreisärzte nichts.
Laut Bericht des Dr. med. B.________ vom 4. Juni 2004 blieb die Frage des
Kausalzusammenhangs hinsichtlich der Beschwerden am Unterschenkel nach wie vor
offen; allenfalls könnten die Akten des Spitals Y.________ zur Klärung
beitragen. Angesichts dieser Auskünfte ist nicht nachvollziehbar, dass der
SUVA-Kreisarzt am 23. Juli 2004 die Kausalität einzig mit Hinweis auf den
Bericht des Dr. med. A.________ vom 20. Juli 2004, gemäss welchem sich in der
Krankengeschichte des Dr. med. Q.________ immerhin ein Anhaltspunkt für eine
Beinverletzug links findet, verneinte. Dr. med. M.________ ging anlässlich der
kreisärztlichen Untersuchung vom 28. Juni 2005 offenbar ohne weiteres davon
aus, dass die Pigmentverschiebung über der linken Tibia traumatisch bedingt
war. Demgegenüber war er laut der im Einspracheverfahren eingeholten ärztlichen
Beurteilung vom 30. Mai 2006 nunmehr der Auffassung, dass "die Beschwerden im
Bereich des linken Beines, eigentlich auf der ganzen linken Seite", nicht
"gedeutet werden" könnten. Diese Aussage ist anhand der Akten nicht ohne
weiteres nachvollziehbar und widerspricht zumindest teilweise den
Feststellungen des rheumatologischen Konsiliarius der MEDAS, wonach es sich bei
fehlenden radiologischen Hinweisen für eine chronische Osteomyelitis und ohne
radiologischen Anhaltspunkt für eine relevante Arthrose im OSG um einen
chronischen schmerzhaften Residualzustand im Bereich der Weichteile des linken
Unterschenkels nach Tibiakontusion im Rahmen des Fahrradunfalles handeln müsse
(Bericht des Dr. med. W.________, Facharzt für Rheumatologie, vom 27. September
2007).

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die SUVA hat als unterliegende Partei die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegende Beschwerdeführer
hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 11. August 2008 und der
Einspracheentscheid vom 13. Juni 2006 aufgehoben werden und die Sache an die
SUVA zurückgewiesen wird, damit sie über den Anspruch auf Invalidenrente und
Integritätsentschädigung im Sinne der Erwägungen neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die SUVA hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
2'500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung einer Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. November 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Grunder