Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.761/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_761/2008

Urteil vom 27. März 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Parteien
L.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Massimo Aliotta,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
9. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
L.________, geboren 1959, ist seit 1991 als selbstständiger Landwirt tätig.
Daneben führte er verschiedene Arbeiten in unselbstständiger Stellung aus. Mit
Anmeldung vom 17. Juni 2003 ersuchte er um Leistungen der
Invalidenversicherung, namentlich um eine Rente. Die IV-Stelle Thurgau
(nachfolgend: IV-Stelle) gewährte mit Verfügung vom 10. Dezember 2003
Berufsberatung und Abklärung der beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten. Zudem
holte sie verschiedene ärztliche Stellungnahmen ein und prüfte die
wirtschaftlichen Verhältnisse. Mit Verfügung vom 9. September 2005, bestätigt
mit Einspracheentscheid vom 17. Oktober 2007, lehnte die IV-Stelle das
Leistungsbegehren ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
mit Entscheid vom 9. Juli 2008 ab.

C.
L.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die
IV-Stelle zu verpflichten, ihm mindestens eine Viertelsrente auszurichten.
Eventualiter sei die Sache zur Durchführung weiterer Abklärungen an die
IV-Stelle zurückzuweisen. Zudem sei ein zweiter Schriftenwechsel durchzuführen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Von der Durchführung des beantragten zweiten Schriftenwechsels ist abzusehen,
enthält doch die Vernehmlassung der IV-Stelle weder prozessual zulässige, für
den Verfahrensausgang wesentliche neue Aspekte, zu denen der Versicherte vor
der Entscheidfällung angehört werden müsste, noch dient ein zweiter
Schriftenwechsel dazu, Anträge und Rügen vorzubringen, die bereits in der
Beschwerde selbst hätten gestellt oder vorgebracht werden können und müssen
(Art. 102 BGG; vgl. Urteil 8C_119/2008 vom 22. September 2008 E. 1 mit
Hinweis).

2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. zur
Invaliditätsbemessung auch BGE 132 V 393).

3.
Die Vorinstanz hat die Grundsätze über die Anforderungen an einen ärztlichen
Bericht sowie dessen beweisrechtliche Würdigung (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit
Hinweisen), insbesondere bei Gutachten, welche die Verwaltung bei externen
Fachärzten in Auftrag gegeben hat (BGE 125 V 351 E. 3b/bb S. 353 mit
Hinweisen), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 In seiner Anmeldung zum Leistungsbezug vom 17. Juni 2003 gab der
Versicherte als Ursachen seiner Arbeitsunfähigkeit Beschwerden im rechten Knie
(seit 1990) und am rechten Handgelenk (seit 1994) an.

4.2 Dr. med. G.________, Facharzt für Innere Medizin, diagnostizierte am 19.
Juli 2003 mit Einschränkung der Arbeitsfähigkeit Gonarthrose rechts nach
Teilmeniskektomie und valgisierender Tibiakopfosteotomie 1989 sowie
medialbetonte Gonarthrose links bei Status nach Teilmeniskektomie und Setzen
von Mikrofrakturen am medialen Femurkondylus 2002; Diagnosen ohne Einschränkung
der Arbeitsfähigkeit gab er keine an. Das rechte Handgelenk sei nach einem
Bruch im Jahr 1979 in der Beweglichkeit zur Hälfte eingeschränkt. Die
Beweglichkeit der Hals- und Brustwirbelsäule sei eingeschränkt. Die Kniegelenke
seien gut beweglich und etwas verformt. Die Gonarthrose sei fortschreitend und
werde früher oder später einen Gelenkersatz notwendig machen. Es gebe Arbeiten
als Landwirt, die zu 100 % ausgeführt werden könnten, andere gar nicht. Ein
guter Teil des Einkommens stamme aus dem Rebbau; für die Arbeit im schrägen
Gelände müsse der Versicherte fremde Leute anstellen. Auf Grund der
Kniebeschwerden, des defekten rechten Handgelenks und der chronischen
Rückenproblematik sei eine Arbeitsfähigkeit von 50 % vertretbar.

4.3 Dr. med. A.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie, diagnostizierte
in seinem Gutachten vom 25. Oktober 2004 mit Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
eine Varus-Gonarthrose rechts bei Status nach medialer Teilmeniskektomie und
valgisierender Tibiakopfosteotomie 1989, eine Varus-Gonarthrose links bei
Status nach medialer Teilmeniskektomie und Setzen von Mikrofrakturen am
medialen Femurkondylus 2002, eine Scaphoid-Fraktur rechts 1980, eine
radiocarpale Arthrose rechts, eine Zyste am Os hamatum links sowie den Status
nach einer intraartikulären Radiusfraktur links 1994 und einer proximalen
Metacarpale Fraktur am Daumen rechts 1994. Als Landwirt und im Rebbau bestehe
eine Arbeitsfähigkeit von 50 %, d.h. 4 Stunden pro Tag. Alle Tätigkeiten,
welche körperlich wenig belastend seien und keine grosse Gehdistanz
erforderten, seien zumutbar, auch sitzende Arbeiten. Nicht zumutbar seien
hingegen repetitive und das rechte Handgelenk belastende Tätigkeiten. Im Rahmen
einer angepassten Tätigkeit sei eine volle Arbeitsfähigkeit gegeben.

4.4 Am 17. Februar 2005 berichtete Dr. med. G.________, der Gesundheitszustand
sei stationär und es habe sich keine Änderung der Diagnosen ergeben. Nach wie
vor bestünden belastungsabhängige Kniebeschwerden, vor allem im Gehen und
Stehen. Im Sitzen habe der Versicherte kaum Beschwerden. Es sei gelungen, die
Beschwerden zu stabilisieren. Früher oder später werde es vermutlich zu einer
Knieprothese kommen. Von einer Epilepsie sei ihm nichts bekannt. Die
Arbeitsunfähigkeit sei vor allem wegen der Kniebeschwerden eingeschränkt. Mit
Schreiben vom 4. März 2005 ergänzte Dr. med. G.________, er habe in den Akten
einen Hinweis gefunden, wonach der Versicherte ein Medikament schlucke, welches
bei Epilepsie eingenommen werde; er sei aber deswegen nicht bei ihm in
Behandlung.

4.5 Dr. med. M.________, Facharzt für Neurologie, verwies am 21. März 2005 auf
seine Einträge in der Krankengeschichte seit 1995. In seinem Eintrag vom 21.
März 2005 hielt er fest, seitens der Epilepsie gehe es gut. Sie begründe keine
Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitsfähigkeit sei nur durch die Arthrose in den
Knien und am rechten Handgelenk beeinträchtigt, welche er aber nicht beurteilen
könne.

4.6 Gemäss Bericht des Spitals X.________ vom 30. November 2006 war der
Versicherte infolge eines Verkehrsunfalls vom 30. November 2006, bei welchem er
sich eine Commotio cerebri, eine Gesichtskontusion, eine Rissquetschwunde an
der Innenseite der Unterlippe sowie eine Thoraxkontusion rechts mit
Lungenkontusion zuzog, bis zum 2. Dezember 2006 hospitalisiert. Bis zur Klärung
der Unfallursache wurde der Versicherte angewiesen, auf das Fahren eines
Personenwagens zu verzichten.

4.7 Im Rahmen des vorinstanzlichen Verfahrens legte der Versicherte seine von
Dr. med. M.________ festgehaltene Krankengeschichte mit Einträgen für die Zeit
vom 7. Juli 2003 bis 16. Oktober 2007 auf. Daraus ergibt sich, dass der
Versicherte infolge Unverträglichkeit des bisherigen Medikaments eine
Umstellung vornehmen musste, wobei es zu einer den Unfall vom 30. November 2006
verursachenden Episode kam, und die Umstellung auf ein weiteres Medikament
nötig machte, welche jedoch noch nicht abgeschlossen war. Zudem werden
häufigere Episoden festgehalten.

4.8 Im Schreiben vom 8. September 2008 führte Dr. med. G.________ aus, auf
Grund der Klinik und der MRT-Untersuchung bestehe kaum Zweifel, dass die
Gonarthrose fortgeschritten sei, was auch die vermehrten Schmerzen erkläre.
Deshalb empfehle er eine neue Untersuchung durch einen Orthopäden, was auch die
Möglichkeit erhöhe, dass eine Teilinvalidität zugestanden werde. Da es sich bei
diesem vor Bundesgericht erstmals aufgelegten und sich auf den aktuellen
Gesundheitszustand beziehenden Schreiben um ein unzulässiges Novum im Sinne von
Art. 99 Abs. 1 BGG handelt, ist im Weiteren darauf nicht mehr einzugehen.

5.
5.1 Der erstinstanzliche Sozialversicherungsprozess ist vom
Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 61 lit. c ATSG). Danach hat das Gericht
von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des
rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195; 122 V 157
E. 1a S. 158; vgl. BGE 130 I 180 E. 3.2 S. 183).

5.2 Die IV-Stelle hat in ihrer Verfügung vom 9. September 2005 für die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf das Gutachten des Dr. med. A.________ vom
25. Oktober 2004, die Berichte des Dr. med. G.________ vom 19. Juli 2003 und
17. Februar 2005 sowie des Dr. med. M.________ vom 21. März 2005 abgestellt.
Dies ist nicht zu beanstanden. Entgegen der Ansicht des Versicherten entspricht
das Gutachten des Dr. med. A.________ den Anforderungen der Rechtsprechung und
es kommt ihm voller Beweiswert zu. Daran ändert auch nichts, dass er bezüglich
des Rückens keine Diagnose stellt. Denn eine Einschränkung der Beweglichkeit
der Wirbelsäule ist nicht zwingend mit einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
verbunden. Zudem stellte auch Dr. med. G.________ bezüglich des Rückens keine
Diagnose. Auch der Versicherte selbst mass in seiner Anmeldung den
Rückenbeschwerden keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit bei. Seitens der
Epilepsie verneinte der seit Jahren behandelnde Dr. med. M.________ zu diesem
Zeitpunkt eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Es ist demnach davon
auszugehen, dass dem Versicherten bei Erlass der Verfügung vom 9. September
2005 eine adaptierte Tätigkeit voll zumutbar war.

5.3 Zu prüfen ist weiter, wie es sich im massgebenden Zeitpunkt (vgl. BGE 129 V
1 E. 1.2 S. 4 mit Hinweis) des Einspracheentscheids, mithin dem 17. Oktober
2007, verhält. Die IV-Stelle hat vor Erlass des Einspracheentscheids keine
zusätzlichen medizinischen Abklärungen veranlasst oder bei den behandelnden
Ärzten nachgefragt. Der Versicherte hat der IV-Stelle in dieser Zeit weder
ärztliche Berichte zukommen lassen noch eine Verschlechterung seines
Gesundheitszustandes oder den Unfall vom 30. November 2006 gemeldet. Im Rahmen
des vorinstanzlichen Verfahrens hat er jedoch einen aktualisierten Auszug aus
der von Dr. med. M.________ geführten Krankengeschichte und den Bericht des
Spitals X.________ vom 30. November 2006 sowie Auszüge aus der polizeilichen
Akte über den Verkehrsunfall vom 30. November 2006 auflegen lassen. Angesichts
dieser Akten, insbesondere der durch Dr. med. M.________ dokumentierten
Schwierigkeiten bei der medikamentösen Neueinstellung der Epilepsie, durfte die
Vorinstanz im Rahmen der antizipierten Beweiswürdigung nicht davon ausgehen,
dass die Epilepsie sich auch im Zeitpunkt des Einspracheentscheids nicht auf
die Arbeitsfähigkeit auswirken würde. Sie wäre vielmehr gehalten gewesen,
diesbezüglich weitere Abklärungen zu veranlassen. Dies gilt auch hinsichtlich
der übrigen Beschwerden, waren doch seit der letzten orthopädischen Beurteilung
bis zum Einspracheentscheid über zweieinhalb Jahre verstrichen, so dass
angesichts der von Dr. med. G.________ prognostizierten Verschlechterung nicht
mehr ohne Weiteres auf die frühere Beurteilung der Arbeitsfähigkeit abgestellt
werden durfte. Der Versicherte rügt demnach zu Recht eine Verletzung von Art.
61 lit. c ATSG und die Sache ist an die Verwaltung zurückzuweisen, damit sie
unter Einholung eines (polydisziplinären) Gutachtens den Gesundheitszustand und
die zumutbaren Tätigkeiten im massgebenden Zeitpunkt abkläre.

6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende IV-Stelle hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Versicherte hat Anspruch auf
eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. Juli 2008 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 17. Oktober 2007
werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Thurgau
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über den Anspruch auf eine Invalidenrente neu verfüge. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. März 2009

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Riedi Hunold