Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.759/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_759/2008

Urteil vom 26. November 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger,
Gerichtsschreiberin Polla.

Parteien
B.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Alain Joset, Rebgasse 15, 4410
Liestal,

gegen

Ausgleichskasse Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom
12. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1962 geborene B.________ bezieht seit 1. Juli 1998 (mit Unterbrüchen) eine
Ergänzungsleistung zur Rente der Invalidenversicherung. Nachdem die
Ausgleichskasse Basel-Landschaft erfahren hatte, dass sich B.________ vom 30.
Juni 2003 bis 10. Februar 2004 in Untersuchungshaft und anschliessend im
Massnahmenvollzug befunden hatte, verneinte sie rückwirkend per 1. Juli 2003
einen Anspruch auf Ergänzungsleistung und forderte mit Verfügung vom 5. Juli
2004 zu Unrecht bezogene Leistungen im Umfang von Fr. 9'974.- zurück. Die
hiegegen erhobene Einsprache wies die Ausgleichskasse mit Einspracheentscheid
vom 1. April 2005 ab. Nachdem das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit in
Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom 28. Oktober 2005 auf Rechtmässigkeit der
Rückforderungsverfügung vom 5. Juli 2004 erkannte, liess B.________ um Erlass
der Rückerstattungsschuld ersuchen. Mit Verfügung vom 2. Mai 2006 wies die
Ausgleichskasse das Erlassgesuch ab. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 15. September 2006).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht-Basel-Landschaft mit
Entscheid vom 12. August 2008 ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides und des Einspracheenscheides sei die Rückerstattungsschuld
zu erlassen. Ferner wird um aufschiebende Wirkung der Beschwerde ersucht.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung haben durch das am 1. Januar 2008 in Kraft getretene
Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über die Schaffung von Erlassen zur
Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und
Kantonen (AS 2007 5779) eine umfassende Neuregelung erfahren. Weil in
zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen materiellen Rechtssätze massgebend
sind, welche bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes
Geltung haben, und weil ferner das Sozialversicherungsgericht grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Einspracheentscheids (hier: 15. September 2006)
eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220 mit
Hinweisen), richtet sich der hier zu beurteilende Erlass der Rückforderung von
Ergänzungsleistungen aus der Zeit vom 1. Juli 2003 bis 29. Februar 2004 nach
den bis Ende 2007 gültig gewesenen Bestimmungen.

2.
Das vom Versicherten mit Beschwerde vom 15. September 2008 eingereichte und mit
keinem Wort begründete Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung wird -
zumal hiefür keine von Amtes wegen zu berücksichtigenden Gründe erkennbar sind
- mit diesem Urteil gegenstandslos.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer die rechtskräftig
festgestellte Rückerstattungsschuld über Fr. 9'974.- erlassen werden kann.

3.1 Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht
zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG,
im Bereich der Ergänzungsleistungen anwendbar gemäss Art. 1 Abs. 1 ELG; vgl.
auch Art. 2 ff. ATSV). Der Erlass setzt somit einerseits den gutgläubigen
Leistungsbezug und andererseits das Vorliegen einer grossen Härte voraus.

3.2 Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, ist der gute Glaube als
Erlassvoraussetzung nicht schon mit der Unkenntnis des Rechtsmangels gegeben.
Der Leistungsempfänger darf sich vielmehr nicht nur keiner böswilligen Absicht,
sondern auch keiner groben Nachlässigkeit schuldig gemacht haben. Der gute
Glaube entfällt somit einerseits von vornherein, wenn die zu Unrecht erfolgte
Leistungsausrichtung auf eine arglistige oder grobfahrlässige Melde- oder
Auskunftspflichtverletzung zurückzuführen ist. Anderseits kann sich die
rückerstattungspflichtige Person auf den guten Glauben berufen, wenn ihr
fehlerhaftes Verhalten nur leicht fahrlässig war (BGE 112 V 97 E. 2c S. 103).
Wie in anderen Bereichen beurteilt sich das Mass der erforderlichen Sorgfalt
nach einem objektiven Massstab, wobei aber das den Betroffenen in ihrer
Subjektivität Mögliche und Zumutbare (Urteilsfähigkeit, Gesundheitszustand,
Bildungsgrad usw.) nicht ausgeblendet werden darf (SVR 2007 IV Nr. 13 S. 49, I
622/05 E. 3.1).

3.3 Es ist zu unterscheiden zwischen dem guten Glauben als fehlendem
Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen
auf den guten Glauben berufen kann und ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den
bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen. Das Unrechtsbewusstsein gehört
zum inneren Tatbestand und ist daher Tatfrage, die nach Massgabe von Art. 105
Abs. 1 BGG von der Vorinstanz verbindlich beantwortet wird. Demgegenüber
handelt es sich bei der gebotenen Aufmerksamkeit um eine frei überprüfbare
Rechtsfrage, soweit es darum geht, festzustellen, ob sich jemand angesichts der
jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE
122 V 221 E. 3 S. 223).

3.4 Die mit der Verfügung vom 5. Juli 2004 vorgenommene Neuberechnung und
Rückforderung der Ergänzungsleistung basiert auf dem Umstand, dass sich der
Versicherte vom 30. Juni 2003 bis 10. Februar 2004 in Untersuchungshaft und
anschiessend im vorzeitigen stationären Massnahmenvollzug im Massnahmenzentrum
X.________ befand. Der Ausgleichskasse wurde weder die Untersuchungshaft noch
der am 11. Februar 2004 angetretene Massnahmenvollzug mitgeteilt.

3.5 Hinsichtlich der Erlassvoraussetzung des guten Glaubens hat sich die
Vorinstanz nicht abschiessend geäussert, hingegen festgestellt, ein
absichtliches Verhalten sei nicht erkennbar, was der Aktenlage auch nicht
entgegensteht. Der gute Glaube hängt demnach davon ab, ob eine grobfahrlässige
Verletzung der Meldepflicht vorliegt. Von einer solchen ist auszugehen, wenn
der Beschwerdeführer nicht das Mindestmass an Aufmerksamkeit aufgewendet hat,
welches von einem verständigen Menschen in gleicher Lage und unter den gleichen
Umständen verlangt werden muss (vgl. SVR 2007 IV Nr. 13 S. 49 E. 4.4, I 622/05,
mit Hinweis auf BGE 110 V 176 E. 3d S. 181; Urteil 9C_14/2007 vom 2. Mai 2007,
E. 5.2).
3.6
3.6.1 Wie der Verfügung der Justiz-, Polizei- und Militärdirektion
Basel-Landschaft vom 13. Dezember 2006 zu entnehmen ist, wurde der Versicherte
in der Schweiz erstmalig am 14. August 1996 vom Strafgericht Basel-Stadt wegen
mehrfacher sexueller Handlung mit Kindern zu 14 Monaten Gefängnis mit einer
Probezeit von drei Jahren verurteilt. Bereits am 30. Dezember 1996 wurde er
erneut wegen sexuellen Handlungen mit Kindern angezeigt und aufgrund weiteren
Anzeigen wegen sexuellen Handlungen mit Kindern sowie wegen Tätlichkeit, evtl.
Körperverletzung, am 30. Jini 2003 in Untersuchungshaft genommen und später in
die Massnahmenanstalt X.________ überwiesen.
3.6.2 Die Ausgleichskasse führt in ihrer Stellungnahme zu Recht an, dass der
Beschwerdeführer sowohl in der Verfügung vom 30. Oktober 2000 wie auch in der
kurz vor seiner Inhaftierung erlassenen Verfügung vom 19. Juni 2003
ausdrücklich auf die Meldepflicht bei Veränderungen in den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen aufmerksam gemacht worden war, wobei sich auf
der Rückseite der Verfügungen eine beispielhafte Aufzählung der möglichen
meldepflichtigen Tatbestände findet, was auch nicht bestritten wird. Die
Verbüssung einer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe oder der Aufenthalt in einer
Massnahmenanstalt ist zwar nicht explizit als meldepflichtiger Tatbestand auf
den Verfügungen über die Ergänzungsleistung zu einer AHV-/IV-Rente aufgeführt,
stellt aber zweifelsohne eine meldepflichtige Änderung in den persönlichen
Verhältnissen dar (SVR 2007 IV Nr. 13 S. 49 E. 4.4, I 622/05). Anders als in
dem in BGE 110 V 284 beurteilten Sachverhalt stellte vorliegend die
Untersuchungshaft für den einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer insofern
keinen ungewissen Zustand dar, als er bereits im Rahmen seiner
Untersuchungshaft mit der Verbüssung seiner 14-monatigen (mit einer Probezeit
von drei Jahren versehenen) Gefängnisstrafe rechnen musste und tatsächlich auch
rechnete, zumal sein Rechtsvertreter bereits am 10. September 2003 angab, eine
stationäre Massnahme zu befürworten (Abklärungsbericht des Externen
Psychiatrischen Dienstes, Beratungsstelle Y.________, vom 19. September 2003).
Dementsprechend trat er bereits vor seiner zweiten rechtskräftigen Verurteilung
zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren und neun Monaten (Entscheid des
Strafgerichts Basel-Landschaft vom 27. Januar 2006) den Massnahmenvollzug
direkt im Anschluss an die Untersuchungshaft an, was den Strafvollzug aufschob.
Überdies dauerte die Haft auch lange genug, dass er ernsthafte Zweifel am
Weiterbestand seines Rechts hätte haben müssen (vgl. SVR 2007 IV Nr. 13 S. 49
E. 4.4, I 622/05). Unter den in casu gegebenen Umständen war dem Versicherte
seit Beginn der Untersuchungshaft klar, dass es zu einer Inhaftierung über eine
verhältnismässig lange Dauer kommen wird, was sich auch daraus ergibt, dass er
den Kindern mit Suizidabsichten oder Gefängnisstrafe, die ihn erwarten würde,
falls sie seine Handlungen nicht für sich behielten, drohte. Selbst bei
Eintritt in den vorzeitigen Massnahmenvollzug, welche als einschneidende
Veränderung in den persönlichen Verhältnissen zu werten ist, meldete er dies
den Behörden nicht. Mit der von ihm zu erwartenden Umsicht hätte sich der
Beschwerdeführer aber spätestens zu diesem Zeitpunkt Rechenschaft darüber
abgeben müssen, dass ihm die ausgerichtete Ergänzungsleistung allenfalls nicht
zustehen könnte. Das Verkennen dieser Situation ist als grobfahrlässiges
Verhalten zu werten, weshalb die Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug zu
verneinen ist.

3.7 Sämtliche Vorbringen in der Beschwerde ändern an diesem Ergebnis nichts.
Trotz der unbestrittenermassen vorliegenden psychischen Leiden - gemäss
Abklärungsbericht der Externen Psychiatrischen Dienste vom 19. September 2003
liegt eine Pädophilie (ICD-10 F65.4) und verdachtsweise eine
Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F61) sowie als Folge der Haftsituation eine
leichte bis mittelgradige depressive Störung (ICD-10 F32.1) vor - ergibt sich
aus den vorliegenden Akten nicht, dass der Versicherte nicht mehr in der Lage
gewesen wäre, seine administrativen Angelegenheiten selber zu besorgen. Ebenso
wenig führte das, wie in der Beschwerde eingewendet wird, "kognitive
Fähigkeitsniveau im unteren Durchschnittsbereich" des weder bevormundeten noch
verbeiständeten Beschwerdeführers nach Lage der Akten zu einer Unfähigkeit, die
behördliche Korrespondenz selbstständig zu regeln, wie sich auch aus einer
telefonischen Meldung seinerseits vom 28. Dezember 2001 bezüglich einer
Lohndeklaration ergibt. Nicht stichhaltig ist sodann das Argument, er sei bis
anhin davon ausgegangen, lediglich eine IV-Rente zu erhalten, womit nie eine
Differenzierung zwischen IV-Rente und Ergänzungsleistung erfolgt sei. Wie der
Aktennotiz der IV-Stelle vom 2. März 2004 zu entnehmen ist, meldete er auch
dieser die veränderten persönlichen Verhältnisse nicht.

3.8 Ist der gute Glauben zu verneinen, kommt es nicht darauf an, ob die
Rückerstattung für den Beschwerdeführer eine grosse Härte bedeutet. Was er
diesbezüglich gegen den Entscheid der Vorinstanz vorbringt, braucht nicht näher
geprüft zu werden. Hinsichtlich der Verwendung des gesamten im
Massnahmenzentrum X.________ im Monat erhaltenen Pekuliums (Gesamtbetrag des
Frei- und Sperrkontos), welche Frage einzig streitig ist, kann angefügt werden,
dass die Beschwerdegegnerin richtigerweise auf die Möglichkeit der
Vollzugsinstitution hinweist, auf Gesuch des Gefangenen hin Zahlungen ab dem
Sperrkonto zu bewilligen (beispielsweise für Schadenersatz und Wiedergutmachung
gemäss Strafurteil, Familienuterstützung, Opferhilfe, Krankenkassenprämien,
Beschwerdeverfahren, Bussenzahlung, Ausschaffungskosten, Aus- und
Weiterbildung, Gesundheitskosten [z.B. Zahnarzt] und Hilfsmittel [Brille,
Prothese] usw.; vgl. Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz,
Richtlinien für das Arbeitsentgelt [Pekulium] vom Mai 2006, Ziff. 5). Demgemäss
würde aller Voraussicht nach der Anrechnung des gesamten Pekuliums (hier Fr.
349.50 + Fr. 116. 50 im Monat März 2006) nichts entgegenstehen, wonach mit der
Vorinstanz die Erlassvoraussetzung der grossen Härte ebenfalls zu verneinen
wäre. Nach dem Gesagten hat es mit dem vorinstanzlichen Entscheid sein
Bewenden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. November 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Polla