Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.74/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_74/2008

Urteil vom 22. August 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, nebenamtliche Bundesrichterin Buerki Moreni,
Gerichtsschreiber Holzer.

Parteien
P.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt und Notar Karl
Vogler, Sarnerstrasse 3, 6064 Kerns,

gegen

IV-Stelle Obwalden, Brünigstrasse 144, 6060 Sarnen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom
20. Dezember 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene P.________ war zuletzt für die Jugendherberge Y.________
erwerbstätig. Am 9. Januar 2002 meldete er sich unter Hinweis auf eine seit
Oktober 2000 bestehende Herzkrankheit bei der IV-Stelle Obwalden zum
Leistungsbezug an und beantragte eine Rente. Nach medizinischen Abklärungen und
nach Einsicht in ein Gutachten der MEDAS Zentralschweiz vom 28. Oktober 2004
sprach die IV-Stelle dem Versicherten mit Verfügung vom 18. August 2005 bei
einem Invaliditätsgrad von 55 % eine halbe Invalidenrente ab 1. Januar 2002 zu.
Mit Einspracheentscheid vom 19. September 2006 hielt die IV-Stelle an ihrer
Verfügung fest und wies das Gesuch des Versicherten um unentgeltliche
Prozessführung ab.

B.
Die von P.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Obwalden mit Entscheid vom 20. Dezember 2007 ab.

C.
Mit Beschwerde beantragt P.________, ihm sei unter Aufhebung des Einsprache-
und des kantonalen Gerichtsentscheides eine ganze IV-Rente zuzusprechen und für
das Einspracheverfahren die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren;
eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Beschwerdegegnerin
zurückzuweisen. Überdies beantragt er die unentgeltliche Prozessführung für das
Verfahren vor Bundesgericht.

Während die IV-Stelle Obwalden auf Abweisung der Beschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von
der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132
II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das
Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der
Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten
Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist
jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich
stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Da der vorinstanzliche Entscheid nicht Geldleistungen der Unfall- oder der
Militärversicherung betrifft, prüft das Bundesgericht nur, ob das
vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung
oder Missbrauch des Ermessens oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde.

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf
eine Invalidenrente (Art. 28 IVG), zur Aufgabe medizinischer Fachleute bei der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261), zum Beweiswert medizinischer
Unterlagen (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.) und zur Bemessung der Invalidität
aufgrund eines Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

2.2 Zu ergänzen ist Folgendes: Rechtsprechungsgemäss bewirkt Adipositas
grundsätzlich keine zu Rentenleistungen berechtigende Invalidität, wenn sie
nicht körperliche oder geistige Schäden verursacht und nicht die Folge von
solchen Schäden ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, muss sie unter
Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten des Einzelfalles dennoch als
invalidisierend betrachtet werden, wenn sie weder durch geeignete Behandlung
noch durch zumutbare Gewichtsabnahme auf ein Mass reduziert werden kann, bei
welchem das Übergewicht in Verbindung mit allfälligen Folgeschäden keine
voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit bzw. der Betätigung im bisherigen Aufgabenbereich zur Folge
hat (ZAK 1984 S. 345 [I 583/82] E. 3 mit Hinweisen). Die Adipositas muss unter
Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten des Einzelfalles mithin bereits
dann als invalidisierend betrachtet werden, wenn sie für sich allein weder
durch geeignete Behandlung noch durch zumutbare Gewichtsabnahme reduziert
werden kann, bei welchem das Übergewicht in Verbindung mit allfälligen
Folgeschäden voraussichtlich keine rentenbegründende Auswirkungen mehr auf die
Leistungsfähigkeit im Beruf oder im Aufgabenbereich hat (Urteil I 757/06 vom 5.
Juni 2007, E. 5.1).

2.3 Bei der vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen ist
die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach
Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil
I 865/06 vom 12. Oktober 2007, E. 3.2).

3.
Streitig ist zunächst der Invaliditätsgrad des Beschwerdeführers ab dem 1.
Januar 2002.

4.
4.1 Das kantonale Gericht hat in pflichtgemässer Würdigung der gesamten
Aktenlage - insbesondere gestützt auf das Gutachten der MEDAS Zentralschweiz
vom 28. Oktober 2004 - mit eingehender Begründung für das Bundesgericht
grundsätzlich verbindlich festgestellt, dass der Beschwerdeführer im
massgeblichen Zeitpunkt des Rentenbeginns (1. Januar 2002) sowohl in seiner
angestammten Tätigkeit als Hotelportier sowie in jeder anderen leichten,
vorwiegend wechselbelastenden Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig war, wobei dem
Beschwerdeführer ein gelegentliches Heben einer Last von bis zu zehn - maximal
fünfzehn - Kilogramm zumutbar gewesen war. Was der Versicherte gegen diese
Feststellung vorbringt, vermag sie nicht als offensichtlich unrichtig
erscheinen lassen. Insbesondere kann nicht gegen die Schlüssigkeit des
MEDAS-Gutachtens sprechen, dass Tatsachen, die sich im Zeitpunkt der
Begutachtung noch gar nicht ereignet hatten, im Gutachten nicht berücksichtigt
wurden. Zudem wurde entgegen der Darstellung des Versicherten die morbide
Adipositas von den Gutachtern als Diagnose mit wesentlicher Einschränkung der
zumutbaren Arbeitsfähigkeit aufgeführt und somit in die Einschätzung der
verbleibenden Arbeitsfähigkeit miteinbezogen.

4.2 Der Beschwerdeführer rügt im Weiteren, die ohne zusätzliche Abklärungen
getroffene vorinstanzliche Feststellung, sein Gesundheitszustand habe sich in
der Zeit zwischen Begutachtung und Einspracheentscheid nicht wesentlich
verschlechtert, sei offensichtlich un-richtig. Entgegen der Ansicht des
Versicherten kann jedoch aus dem Umstand, dass ein Versuch der
Gewichtsreduktion im März 2005 in der Klinik Gais nicht den gewünschten Erfolg
brachte, noch nicht auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes
geschlossen werden. Ebensowenig ergibt sich eine solche Verschlechterung
daraus, dass die behandelnden Ärzte an ihren vom Gutachten abweichenden
Einschätzungen festhielten. Auch insoweit Dr. med. X.________ in seinem
Schreiben vom 20. Mai 2005 berichtet, der Beschwerdeführer habe während seines
Aufenthaltes in Gais trotz strenger Diät drei Kilogramm zugenommen, ist keine
wesentliche Verschlechterung dargetan. Die vorinstanzliche Feststellung, es
bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine wesentliche
Verschlechterung des Gesundheitszustandes, ist nicht offensichtlich unrichtig.
Ebenfalls kann nicht gesagt werden, die IV-Stelle oder das kantonale Gericht
hätten den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG)
verletzt, indem sie von weiteren diesbezüglichen Abklärungen absahen (vgl. auch
Urteil 9C_830/2007 vom 29. Juli 2008, E. 4.4.2).

4.3 Die von der Vorinstanz vorgenommene Bemessung der Invalidität aufgrund
eines Einkommensvergleichs wurde vom Beschwerdeführer nicht als unrichtig
gerügt, so dass sie nicht näher zu überprüfen ist (vgl. Urteile 8C_287/2008 vom
9. Juni 2008 E. 4.3 und 8C_518/2007 vom 7. Dezember 2007, E. 3.3).

5.
5.1 Mit Einspracheentscheid vom 19. September 2006 wies die IV-Stelle das
Gesuch des Versicherten um unentgeltliche Prozessführung im Einspracheverfahren
wegen Aussichtslosigkeit ab. Die Abweisung des Gesuches wurde vom
Beschwerdeführer in der Beschwerde an die Vorinstanz vom 20. Oktober 2006
gerügt und er verlangte eine diesbezügliche Änderung des Einspracheentscheides.
Mit Entscheid vom 20. Dezember 2007 wies das kantonale Gericht die Beschwerde
des Versicherten vollumfänglich ab, ohne dass es seinen Entscheid bezüglich der
unentgeltlichen Prozessführung im Einspracheverfahren begründete. Damit
verletzte die Vorinstanz ihre Begründungspflicht (Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG).
Gemäss Art. 112 Abs. 3 BGG kann das Bundesgericht Entscheide, welche den
Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 BGG nicht genügen, zur Verbesserung an die
kantonale Behörde zurückweisen oder sie aufheben. Insoweit den Parteien kein
Nachteil entsteht, kann das Bundesgericht jedoch auch von einer Aufhebung oder
Zurückweisung Umgang nehmen und einen materiellen Entscheid treffen (Bernhard
Ehrenzeller, in: Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008, N. 20
zu Art. 112 BGG; vgl. auch Urteil 4A_267/2007 vom 24. Oktober 2007, E. 3).

5.2 Gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG wird im Sozialversicherungsverfahren der
gesuchstellenden Person, wo die Verhältnisse es erfordern, ein "unentgeltlicher
Rechtsbeistand" bewilligt. Die hinsichtlich der im Rahmen von Art. 4 altBV
(vgl. Art. 29 Abs. 3 BV) zu den Voraussetzungen der unentgeltlichen
Verbeiständung im Einspracheverfahren ergangene Rechtsprechung (Bedürftigkeit
der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche
Gebotenheit im konkreten Fall) ist weiterhin anwendbar. Eine anwaltliche
Verbeiständung drängt sich nur in Ausnahmefällen auf, in denen ein Rechtsanwalt
beigezogen wird, weil schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als
notwendig erscheinen lassen und eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter,
Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in
Betracht fällt (BGE 132 V 200 E. 4.1 mit Hinweisen).

5.3 Es steht fest, dass der Beschwerdeführer bedürftig ist. Jedenfalls insoweit
er behauptete, sein Gesundheitszustand habe sich nach dem MEDAS-Gutachten
verschlechtert, konnte sein Standpunkt auch nicht als von vornherein
aussichtlos bezeichnet werden. Das Verfahren war rechtlich und
sachverhaltsmässig nicht einfach. Eine erhebliche Tragweite der Sache ist zu
bejahen, zumal der Anspruch auf eine Invalidenrente - mithin eine finanzielle
Leistung von in der Regel grosser Bedeutung - streitig ist (vgl. Urteil 8C_463/
2007 vom 28. April 2008, E. 8.3.2 mit Hinweisen). Der Versicherte hatte somit
bereits im Einspracheverfahren Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung; die
Beschwerde ist diesbezüglich gutzuheissen.

6.
Der Beschwerdeführer unterliegt im Rentenpunkt und obsiegt in der Frage des
Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren.
Demnach sind die Gerichtskosten ihm zu drei Vierteln und der IV-Stelle zu einem
Viertel aufzuerlegen (Art. 65 Abs. 1 und Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG; vgl. auch
Urteil 8C_463/2007 vom 28. April 2008, E. 9). Die unentgeltliche Rechtspflege
im bundesgerichtlichen Verfahren ist dem Versicherten gewähren (Art. 64 BGG),
da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht von vornherein als
aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung notwendig war. Der
Beschwerdeführer wird der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben, wenn er später
dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). Da er teilweise obsiegt, steht ihm
eine dementsprechend reduzierte Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG). In
diesem Umfang ist sein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom 20. Dezember 2007 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Obwalden vom 19. September 2006 werden
insoweit aufgehoben, als damit ein Anspruch des Beschwerdeführers auf
unentgeltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren verneint wurde.
Rechtsanwalt und Notar Karl Vogler, Kerns, wird als unentgeltlicher Anwalt des
Beschwerdeführers im Einspracheverfahren bestellt. Die Sache wird zur
Festsetzung seiner Entschädigung an die IV-Stelle Obwalden zurückgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird im bundesgerichtlichen Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt.

3.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer Fr. 375.- und
der Beschwerdegegnerin Fr. 125.- auferlegt. Der Anteil des Beschwerdeführers
wird vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 625.- zu entschädigen.

5.
Rechtsanwalt und Notar Karl Vogler, Kerns, wird als unentgeltlicher Anwalt des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1875.- ausgerichtet.

6.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden
zurückgewiesen.

7.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden,
der Ausgleichskasse Obwalden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 22. August 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Holzer