Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.747/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_747/2008

Urteil vom 28. April 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Parteien
H.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Christos Antoniadis,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 17. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1970 geborene H.________ ist ausgebildete Spitalgehilfin und arbeitete
zuletzt vom 1. März 2002 bis 30. April 2004 als Pflegeassistentin im Altersheim
X.________. Am 14. Mai 2004 meldete sie sich unter Hinweis auf seit Sommer 2003
bestehende, therapieresistente Fersenschmerzen bei der Invalidenversicherung
zur Umschulung auf eine neue Tätigkeit an. Nach Abklärung der medizinischen und
erwerblichen Verhältnisse bejahte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit
Verfügung vom 30. Juni 2004 einen Anspruch der Versicherten auf Umschulung zur
Kosmetikerin. Mit Verfügung vom 14. Februar 2005 stellte sie die Umschulung
ein, da H.________ die Abschlussprüfung nicht bestanden habe und die
Eingliederung mit weiteren Umschulungsmassnahmen nicht verbessert werden könne.
Der Versicherten wurde Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung zugesichert.
Mit Verfügungen vom 20. Mai 2005 und 3. Februar 2006 schloss die IV-Stelle die
Arbeitsvermittlung ab, weil eine solche zur Zeit nicht möglich sei. Nach
erneuter Abklärung der medizinischen und erwerblichen Verhältnisse verneinte
die IV-Stelle mit Verfügung vom 11. Mai 2006 einen Rentenanspruch. Daran hielt
sie mit Einspracheentscheid vom 10. Januar 2007 fest.

B.
Beschwerdeweise liess H.________ beantragen, es sei der Einspracheentscheid
aufzuheben und die Sache zur Durchführung weiterer Abklärungen an die IV-Stelle
zurückzuweisen, eventualiter seien ihr die gesetzlichen Leistungen
zuzusprechen. Nach Einreichung weiterer Arztberichte vom 28. Juni, 2. und 12.
Juli 2007 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde
mit Entscheid vom 17. Juni 2008 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt H.________
erneut beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Sache
zur Durchführung weiterer Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen,
eventualiter seien ihr die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen. Gleichzeitig
ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist auf Grund der Vorbringen in
der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene kantonale
Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und
beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht, Völkerrecht oder kantonale
verfassungsmässige Rechte verletzt (Art. 95 lit. a-c BGG), einschliesslich
einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1,
Art. 105 Abs. 2 BGG). Hingegen hat unter der Herrschaft des BGG eine freie
Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheids in tatsächlicher Hinsicht zu
unterbleiben, ausser wenn sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die
Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder
Unfallversicherung richtet (Art. 97 Abs. 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat zunächst richtig erkannt, dass die am 1. Januar 2008
in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 6. Oktober 2006 und der IVV vom 28.
September 2007 (5. IV-Revision) nicht anwendbar sind, da der streitige
Einspracheentscheid vom 10. Januar 2007 datiert (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S.
220). Weiter hat die Vorinstanz unter Hinweis auf den Einspracheentscheid die
Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1
ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die
Darstellung der Rechtsprechung zu den psychischen Gesundheitsschäden (BGE 131 V
49 E. 1.2 S. 50 mit Hinweisen) und zum Beweiswert sowie zur Beweiswürdigung
medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Darauf wird
verwiesen.

3.
Das kantonale Gericht ist - wie bereits die IV-Stelle - davon ausgegangen, dass
die Versicherte als Gesunde zu 90% einer Erwerbstätigkeit nachgehen würde.
Ebenfalls unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin in somatischer Hinsicht
an einer Fascitis planaris rechts und links leidet und deshalb in ihrer
angestammten Tätigkeit als Pflegeassistentin nicht mehr arbeitsfähig ist. Diese
Sachverhaltsfeststellungen sind nach Gesagtem für das Bundesgericht
verbindlich. Streitig und zu prüfen ist der Invaliditätsgrad der
Beschwerdeführerin und dabei im Wesentlichen das Ausmass der Arbeitsfähigkeit
in einer leidensangepassten Tätigkeit.

3.1 Die Vorinstanz hat das Vorliegen eines invalidisierenden
Gesundheitsschadens verneint mit der Begründung, gestützt auf die Berichte des
behandelnden Arztes Dr. med. N.________, Oberarzt Sportmedizin an der Klinik
Y.________ vom 30. März und 25. November 2004, vom 27. Oktober und 21. Dezember
2005 sowie vom 31. Januar 2006 sei in somatischer Sicht von einer
Arbeitsfähigkeit von 100% in einer behinderungsangepassten, vorwiegend gehenden
und weniger stehenden Tätigkeit auszugehen. Auch in psychischer Hinsicht - so
das kantonale Gericht - sei von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit auszugehen.
Neben der diagnostizierten depressiven Störung mit leichten bis mittelgradigen
Episoden seien lediglich Befunde erhoben worden, welche in den belastenden
psychosozialen Umständen der Versicherten ihre hinreichende Erklärung fänden
und die Beschwerden prägend mitbestimmten. Die depressiven Episoden liessen
daneben nicht auf eine andauernde Depression oder einen vergleichbaren
psychischen Leidenszustand mit Krankheitswert im Sinne der Rechtsprechung
schliessen, weshalb keine mit einer Willensanstrengung nicht überwindbare und
daher die Arbeitsfähigkeit einschränkende psychische Problematik vorliege. Die
Beschwerdeführerin rügt eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsermittlung
bezüglich des Vorliegens eines geistigen Gesundheitsschadens.

3.2 Das kantonale Gericht hat die medizinische Aktenlage umfassend dargelegt
und namentlich auch die Berichte der Dres. med. E.________ und B.________,
Psychiatriezentrum M.________, vom 12. Dezember 2005 sowie der Dres. med.
S.________ und E.________ vom 2. Juli 2007 und das Ergebnis der
testpsychologischen Untersuchung durch Dr. med. K.________ und lic.phil.
F.________, ebenfalls Psychiatriezentrum M.________, vom 12. Juli 2007
gewürdigt. Die vorinstanzliche Feststellung, wonach bei der Beschwerdeführerin
kein Gesundheitsschaden vorliegt, welcher die Arbeitsfähigkeit in einer
leidensangepassten Tätigkeit beeinträchtigt, erweist sich indessen aus
folgenden Gründen als offensichtlich unrichtig.

Mit Verfügung vom 14. Februar 2005 schloss die IV-Stelle die beruflichen
Massnahmen ab, da die Beschwerdeführerin die Abschlussprüfung der gewährten
Umschulung zur Kosmetikerin aufgrund einer Lernbehinderung nicht bestanden
habe. Die IV-Stelle teilte mit, dass die Eingliederung auch mit weiteren
Umschulungsmassnahmen nicht verbessert werden könne, und dass sie die
Versicherte bei der Arbeitsvermittlung unterstütze. Eine Arbeitsvermittlung
erwies sich dann aber als nicht möglich, weil die Beschwerdeführerin gemäss
Verlaufsprotokoll der Arbeitsvermittlung vom 20. Mai 2005 zunächst stabilisiert
werden musste. Das Einsatzprogramm in einer Kinderkrippe wurde nicht
verlängert, weil die Versicherte in dieser Funktion überfordert war und gemäss
Abschlussbericht der Stiftung Chance vom 3. Oktober 2005 die Programmärztin
eine engmaschige psychiatrische Betreuung als sinnvoll erachtete. Im Bericht
vom 12. Dezember 2005 stellten Dr. med. E.________, Oberärztin, und Dr. med.
B.________, Assistenzärztin, Psychiatriezentrum M.________, wo die
Beschwerdeführerin seit 1. März 2005 in Behandlung stand, als Diagnosen mit
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine rezidivierende depressive Störung mit
leichten bis mittelschweren Episoden mit somatischem Syndrom und eine
Legasthenie. Sie attestierten ihr in der bisherigen Tätigkeit als
Pflegeassistentin eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit seit Mai 2004. In der
Anamnese wiesen die Ärztinnen darauf hin, dass die Versicherte schulisch durch
Lernschwierigkeiten aufgefallen und als Legasthenikerin eingestuft worden sei,
weshalb sie acht Jahre die Sonderschule besucht habe. Die depressive
Symptomatik erachteten die Ärztinnen als eine Art Anpassungsstörung in der
schwierigen und unsicheren sozialen und beruflichen Situation. Mit einer der
verminderten Belastbarkeit angepassten Tätigkeit würde sich die Symptomatik
ihrer Meinung nach bessern. Im Bericht vom 2. Juli 2007 diagnostizierten Dr.
med. E.________, Oberärztin, und Dr. med. S.________, Assistenzarzt,
Psychiatriezentrum M.________, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit
histrionischen und emotional instabilen Zügen vom impulsiven Typ, ein deutlich
vermindertes Schulleistungspotential im Sinne einer leichten Minderintelligenz
und eine rezidivierend depressive Störung, gegenwärtig remittiert. Bezüglich
der Diagnose des deutlich verminderten Schulleistungspotentials im Sinne einer
leichten Minderintelligenz verwiesen sie auf eine zentrumsinterne
testpsychologische Untersuchung vom 21. Juni/6. Juli 2007 durch Dr. med.
K.________ und lic. phil. F.________, bei welcher sich ein Verbal-IQ von 60,
ein Handlungs-IQ von 79 und ein Gesamt-IQ von 67 ergeben hat (Bericht vom 12.
Juli 2007). In der Beurteilung hielten die Ärzte fest, seit der Schulzeit
bestünden bei der Patientin motorische und kognitive Schwierigkeiten, die
möglicherweise auf die Absenzen und Schwierigkeiten infolge der eigenen
Krebserkrankung aber auch auf familiäre Schwierigkeiten mit Scheiden der Eltern
zurückzuführen seien. Die testpsychologischen Befunde hielten eine leichte
Minderintelligenz fest. Auf dem Boden dieser Schwierigkeiten und einer
verminderten zwischenmenschlichen Frustrationstoleranz hätten sich eine
depressive Störung und ein Schmerzsyndrom entwickelt. Mehrere
Umschulungsversuche seien fehlgeschlagen. Insgesamt müsse von einer 100%igen
Arbeitsunfähigkeit in der freien Marktwirtschaft ausgegangen werden.

3.3 Diese Untersuchungsergebnisse haben (bereits von der Art des
Gesundheitsschadens her) auch Gültigkeit hinsichtlich des rechtsprechungsgemäss
(BGE 130 V 445 E. 1.2 S. 446) für die richterliche Beurteilung massgebenden
Zeitraums bis zum Erlass des Einpracheentscheids (10. Januar 2007). Der IQ der
Beschwerdeführerin beträgt gemäss diesen Berichten nur 67, was in der Regel zu
einer IV-rechtlich relevanten verminderten Arbeitsfähigkeit führt (vgl. Rz.
1011 Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit [KSIH]; vgl. auch Urteil
I 775/06 vom 14. August 2007). Die Vorinstanz hat lediglich die diagnostizierte
depressive Störung und Befunde, welche in den belastenden psychosozialen
Umständen ihre hinreichende Erklärung fänden, berücksichtigt und festgestellt,
die erhobenen depressiven Episoden liessen nicht auf eine andauernde Depression
oder einen vergleichbaren psychischen Leidenszustand mit Krankheitswert im
Sinne der Rechtsprechung schliessen, weshalb keine mit einer Willensanstrengung
nicht überwindbare, die Arbeitsfähigkeit einschränkende psychische Problematik
vorliege. Aufgrund der gestellten Diagnosen bestehen aber - im Zusammenhang mit
den Ergebnissen der Umschulungsmassnahmen und Arbeitsvermittlungsbemühungen
durch die IV-Stelle - Anhaltspunkte dafür, dass ein die Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender und damit invalidenversicherungsrechtlich
relevanter geistiger Gesundheitsschaden vorliegen könnte. Gemäss Bericht vom 2.
Juli 2007 haben sich unter anderem aus diesem Grund eine depressive Störung und
ein Schmerzsyndrom entwickelt. Indem das kantonale Gericht in antizipierter
Beweiswürdigung trotzdem einen zusätzlichen Abklärungsbedarf verneinte, hat es
den rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig und damit bundesrechtswidrig
festgestellt. Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie
den geistigen und psychischen Gesundheitszustand der Versicherten umfassend
abkläre und anschliessend über den streitigen Leistungsanspruch neu befinde.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Dem
Prozessausgang entsprechend gehen die Gerichtskosten zu Lasten der
Beschwerdegegnerin (Art. 66 Abs. 1 BGG) und ist diese gegenüber der anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführerin entschädigungspflichtig (Art. 68 Abs. 1 und 2
BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 17. Juni 2008 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle
des Kantons Zürich vom 10. Januar 2007 werden aufgehoben. Die Sache wird an die
IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. April 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Kopp Käch