Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.67/2008
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_67/2008

Urteil vom 18. August 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Parteien
I.________, Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 10. Dezember 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1955 geborene I.________ war als Sekretärin in einem 60 %-Pensum in der
Firma X.________ AG tätig und dadurch bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Unfallfolgen versichert,
als sie am 30. Mai 3003 einen Unfall erlitt. Sie wurde, auf einem Gartenstuhl
sitzend, von einer Krähe attackiert, machte eine Ausweichbewegung, verlor
dadurch das Gleichgewicht und stürzte mit dem Stuhl seitwärts/rückwärts um. Der
wegen danach aufgetretener Beschwerden im Nacken- und Kopfbereich am 2. Juni
2003 aufgesuchte Hausarzt diagnostizierte mit Bericht vom 20. Juni 2003 eine
Kontusion der Halswirbelsäule (HWS) und bestätigte eine Arbeitsunfähigkeit. Bei
den folgenden medizinischen Abklärungen wurde sodann von einem beim Unfall
erlittenen HWS-Distorsionstrauma ausgegangen. Die SUVA erbrachte die
gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld). Mit Verfügung vom 12. August
2005 eröffnete sie der Versicherten, die Leistungen würden auf den 1. Oktober
2005 eingestellt; zudem wurde ein Anspruch auf eine Invalidenrente und auf eine
Integritätsentschädigung verneint. Zur Begründung führte die SUVA aus, die noch
geklagten Beschwerden stünden nicht in einem rechtserheblichen Zusammenhang mit
dem Unfall vom 30. Mai 2003. Daran hielt die SUVA auf die von I.________ und
deren Krankenversicherer erhobenen Einsprachen hin fest (Einspracheentscheid
vom 11. Mai 2006).

B.
I.________ reichte hiegegen Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern gewährte ihr die unentgeltliche Verbeiständung und wies die Beschwerde
mit Entscheid vom 10. Dezember 2007 ab.

C.
I.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, in Aufhebung von Einsprache- und kantonalem Entscheid sei die
SUVA zu verpflichten, ab 1. Oktober 2005 weiterhin Leistungen, insbesondere
Heilbehandlung, Taggeld, eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung,
zu erbringen. Weiter wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das
letztinstanzliche Verfahren ersucht. Mit Eingabe vom 9. April 2008 ergänzt
I.________, in Wahrnehmung des ihr gewährten rechtlichen Gehörs, ihre
Vorbringen im Hinblick auf das Urteil BGE 134 V 109.
Die SUVA beantragt die Abweisung der Beschwerde, ohne sich weiter zur Sache zu
äussern. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin aus dem Unfall vom 30.
Mai 2003 ab 1. Oktober 2005 weiterhin Anspruch auf Leistungen der
obligatorischen Unfallversicherung hat.
Die Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Streitsache sind im angefochtenen
Entscheid zutreffend dargelegt. Es betrifft dies insbesondere die von der
Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze zur Prüfung der für einen
Leistungsanspruch erforderlichen Unfallkausalität nach der sog.
Schleudertrauma-Praxis, welche bei nicht mit organisch objektiv ausgewiesenen
Unfallfolgen verbundenen Schleudertraumen, äquivalenten Verletzungen der HWS
und Schädel-Hirntraumen zur Anwendung gelangt. Darauf wird verwiesen.
Anzufügen bleibt, dass das Bundesgericht jüngst die Schleudertrauma-Praxis in
zweierlei Hinsicht präzisiert hat: Zum einen wurden die Anforderungen an den
Nachweis einer natürlich unfallkausalen Verletzung, welche die Anwendung dieser
Praxis bei der Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhangs rechtfertigt, erhöht.
Zum anderen wurden die Kriterien, welche abhängig von der Unfallschwere
gegebenenfalls in die Adäquanzbeurteilung einzubeziehen sind, teilweise
modifiziert (BGE 134 V 109 E. 9 und 10 S. 121 ff.).

2.
Das kantonale Gericht hat zunächst erwogen, dass sich eine allfällige weitere
Leistungspflicht des Unfallversicherers einzig aus Beschwerden im Bereich von
Nacken und Kopf ergeben kann. Gesundheitliche Probleme in anderen
Körperregionen, unter anderem im unteren Rückenbereich, seien unfallfremd.
Diese Beurteilung ist nach Lage der medizinischen Akten richtig. Namentlich ist
unwahrscheinlich, dass das von der Beschwerdeführerin erneut erwähnte
Karpaltunnelsyndrom in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall und der
dabei erlittenen HWS-Verletzung steht. Die Beschwerden aus dem Syndrom waren im
Übrigen ohnehin nur vorübergehender Natur und gegen Ende des Jahres 2004
weitgehend abgeklungen.

3.
Die Vorinstanz ist im Weiteren zum Ergebnis gelangt, die persistierenden
Beschwerden im Bereich von Nacken und Kopf seien natürlich unfallkausal. Sie
liessen sich aber nicht mit einer organisch objektiv ausgewiesenen Folge des
Unfalles vom 30. Mai 2003 erklären. Diese Beurteilung ist nach Lage der Akten
richtig und auch nicht umstritten.
Demnach hat, anders als bei organisch klar ausgewiesenen Unfallfolgen, bei
welchen der adäquate Kausalzusammenhang in der Regel ohne weiteres zusammen mit
dem natürlichen Kausalzusammenhang bejaht werden kann, eine besondere
Adäquanzprüfung zu erfolgen (BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 112 mit Hinweisen). Diese
hat gemäss dem insofern unbestrittenen vorinstanzlichen Entscheid nach der
Schleudertrauma-Praxis zu erfolgen.

4.
4.1 Für die Adäquanzbeurteilung ist an das (objektiv erfassbare) Unfallereignis
anzuknüpfen, wobei zwischen banalen bzw. leichten Unfällen einerseits, schweren
Unfällen anderseits und schliesslich dem dazwischen liegenden mittleren Bereich
unterschieden wird (BGE 134 V 109 E. 10.1 S. 126). Massgebend für die
Beurteilung der Unfallschwere ist der augenfällige Geschehensablauf mit den
sich dabei entwickelnden Kräften (SVR 2008 UV Nr. 8 S. 26, U 2, 3 und 4/07, E.
5.2 und 5.3.1; Urteil 8C_536/2007 vom 11. Juni 2008, E. 6.1).
Das kantonale Gericht hat den Unfall vom 30. Mai 2003 als mittelschweres
Ereignis im Grenzbereich zu den leichten Unfällen eingestuft. Vorstellbar wäre
zwar auch eine Einreihung bei den leichten Unfällen, wie dies die SUVA im
vorinstanzlichen Verfahren noch geltend gemacht hatte. Dies muss nicht
abschliessend geprüft werden, ist doch der adäquate Kausalzusammenhang auch bei
der von der Vorinstanz angenommenen Unfallschwere zu verneinen, wie die
folgenden Erwägungen ergeben.

4.2 Von den weiteren in die Beurteilung einzubeziehenden Kriterien müssten für
die Bejahung der Adäquanz entweder ein einzelnes in besonders ausgeprägter
Weise oder aber mehrere in gehäufter oder auffälliger Weise erfüllt sein (BGE
134 V 109 E. 10.1 S. 126 f., 117 V 359 E. 6a S. 367).
Die massgeblichen Kriterien wurden teilweise durch BGE 134 V 109 modifiziert.
Das kantonale Gericht hat sie noch in ihrer früheren Fassung geprüft und alle
verneint. Demgegenüber erachtet die Versicherte sämtliche gemäss BGE 134 V 109
relevanten Kriterien für erfüllt.
4.2.1 Klar nicht erfüllt ist das Kriterium der besonders dramatischen
Begleitumstände oder besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls. Dies gilt auch
unter Berücksichtigung des erfolgten Angriffs einer Krähe.
4.2.2 Eine ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich
verschlimmert, ist ebenfalls zu verneinen. Entgegen der von der Versicherten
vertretenen Auffassung bestehen keine überzeugenden Hinweise dafür, dass bei
einem ersten stationären Rehabilitationsaufenthalt eine Übertherapierung
stattgefunden hat, welche eine solche Verschlimmerung mit sich brachte.
4.2.3 Es liegen auch kein schwieriger Heilungsverlauf und keine erheblichen
Komplikationen vor. Namentlich ist nicht wahrscheinlich, dass das von der
Versicherten in diesem Zusammenhang erwähnte Karpaltunnelsyndrom den
Heilungsverlauf in Bezug auf die HWS-Verletzung in erheblicher Weise
beeinträchtigt hat.
4.2.4 Was die verbleibenden Kriterien der Schwere oder besonderen Art der
erlittenen Verletzungen, der fortgesetzt spezifischen, belastenden ärztlichen
Behandlung (bisher: ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung), der
erheblichen Beschwerden (bisher: Dauerbeschwerden) sowie der erheblichen
Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen (bisher: Grad und Dauer
der Arbeitsunfähigkeit) betrifft, ist festzuhalten, dass nebst der
HWS-Problematik wesentliche unfallfremde Beschwerden aufgetreten sind,
namentlich aufgrund des Karpaltunnelsyndroms und im unteren Rückenbereich. Wird
nur die unfallbedingte Beeinträchtigung im Bereich Nacken und Kopf
berücksichtigt, liegt von den besagten Kriterien höchstens und nicht in
besonders ausgeprägter Weise dasjenige der erheblichen Beschwerden vor.
Was die Versicherte vorbringt, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Das
Auftreten von als erheblich geschilderten Schmerzen in der Nacht nach dem
Unfall lässt nicht den Schluss auf eine schwere oder besonders geartete
Verletzung zu. Sodann fanden zwar zwei stationäre Rehabilitationen statt. Im
Übrigen beschränkten sich die Behandlungsmassnahmen aber im Wesentlichen auf
ein- bis zweimal wöchentlich durchgeführte Physiotherapie mit
Craniosacraltherapie und Osteopathie sowie auf ein Aquafit nebst
bedarfsabhängiger Schmerzmedikation. Eine fortgesetzt spezifische, belastende
ärztliche Behandlung liegt damit nicht vor. Schliesslich ergibt sich aus den
Akten, dass während nicht unerheblichen Zeiträumen eine Arbeitsfähigkeit in
teilweisem bis vollem Umfang der vor dem Unfall ausgeübten Erwerbstätigkeit
ärztlich bestätigt und auch ausgeübt wurde. Zudem zeigen die Akten, dass die
Versicherte, jedenfalls im späteren Verlauf, nicht bereit war, die von den
beteiligten Fachärzten bestätigte Restarbeitsfähigkeit zumindest versuchsweise
erwerblich umzusetzen. Es kann somit weder von einer erheblichen
Arbeitsunfähigkeit noch von besonderen Anstrengungen zu deren Überwindung
ausgegangen werden.
4.2.5 Zusammenfassend liegt höchstens, und nicht in besonders ausgeprägter
Weise, ein Kriterium vor. Die Vorinstanz hat daher den adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 30. Mai 2003 und den noch
bestehenden Beschwerden, und damit die Leistungspflicht des Unfallversicherers,
zu Recht verneint.

5.
Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin als der unterliegenden Partei
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten kann gewährt werden (Art. 64 BGG),
da die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Beschwerde (allerdings knapp)
nicht als aussichtslos zu bezeichnen war (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E.
5b S. 372, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4
BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz
zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. August 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Lanz