Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.670/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_670/2008

Urteil vom 15. Januar 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Parteien
1. E.________,
2. T.________,
3. C.________,
Beschwerdeführer,
alle vertreten durch Rechtsanwalt Urs Rudolf,
Ober-Emmenweid 46, 6020 Emmenbrücke,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Rechtsanwältin Dr. Petra Camathias Ziegler, Holbeinstrasse 31, 8008 Zürich.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 24. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a A.________ war als Lehrer tätig und über seine Arbeitgeberin bei der
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Allianz) obligatorisch
gegen Unfallfolgen versichert. Im Februar 2002 beging er Suizid. Er hinterliess
die von ihm geschiedene Ehefrau E.________ sowie die Kinder T.________ und
C.________(nachfolgend: Hinterlassene). Mit Verfügung vom 6. Mai 2002 und
Einspracheentscheid vom 26. Februar 2003 lehnte die Allianz den Anspruch auf
Leistung einer Hinterlassenenrente ab. Der Versicherte habe den Tod absichtlich
und ohne gänzlich urteilsunfähig gewesen zu sein herbeigeführt. Es liege daher
kein Unfall vor.
Auf die von den Hinterlassenen erhobene Beschwerde hin hob das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 10. September 2003 den
Einspracheentscheid vom 26. Februar 2003 auf und wies die Sache an die Allianz
zurück, damit diese nach ergänzender Abklärung zur Frage der Urteilsfähigkeit
des Versicherten im Zeitpunkt der suizidalen Handlung neu verfüge. Der
Unfallversicherer reichte gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ein. Diese wies das Eidgenössische Versicherungsgericht mit Urteil U 256/03 vom
9. Januar 2004 ab.
A.b In Nachachtung dieses Bundesgerichtsurteils holte die Allianz ein Gutachten
des Dr. med. W.________, Psychiatrie/Psychotherapie FMH, vom 4. Januar 2006
(mit Ergänzung vom 23. Mai 2006) ein. Gestützt darauf verneinte sie mit
Verfügung vom 30. Mai 2006 erneut und aus denselben Gründen einen Anspruch auf
Hinterlassenenrenten. Daran hielt der Versicherer mit Einspracheentscheid vom
21. Dezember 2006 fest.

B.
Die von den Hinterlassenen hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 24. Juni 2008 ab.

C.
Die Hinterlassenen lassen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des kantonalen Entscheids vom 24.
Juni 2008 sei der Unfallversicherer zu verpflichten, ab Februar 2002 eine
Hinterlassenenrente auszurichten.
Die Allianz lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist
die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht
eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich
nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Hinterlassenenrente der
obligatorischen Unfallversicherung bei anerkanntermassen durch Suizid erfolgtem
Tod des Versicherten. Die Rechtsgrundlagen sind in den bisher in dieser Sache
ergangenen Gerichtsentscheiden, auf die verwiesen wird, zutreffend dargelegt.

Hervorzuheben ist, dass bei absichtlicher Herbeiführung des Todes durch den
Versicherten kein Anspruch auf Versicherungsleistungen besteht, mit Ausnahme
der Bestattungskosten (Art. 37 Abs. 1 UVG). Diese Regelung findet namentlich
dann keine Anwendung, wenn der Versicherte, der sich nachweislich das Leben
nehmen wollte, zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war,
vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV; vgl. zur Gesetzmässigkeit dieser
Bestimmung: BGE 129 V 95). Ob dies beim hier gegebenen Suizid zutrifft, ist
umstritten.

3.
3.1 Gemäss psychiatrischem Gutachten des Dr. med. W.________ vom 4. Januar 2006
(mit Ergänzung vom 23. Mai 2006) war der Versicherte im Zeitpunkt des Suizids
nicht gänzlich unfähig, vernunftgemäss zu handeln. Der Experte verneinte sodann
für den Zeitpunkt der Tat und für das unmittelbare zeitliche Vorfeld das
Bestehen einer Geisteskrankheit (im Sinne einer Psychose oder allenfalls einer
schweren Bewusstseinsstörung) und von psychopathologischen Symptomen (wie Wahn,
Sinnestäuschungen, depressiver Stupor oder Raptus). Die Zusatzfragen der
Hinterlassenen beantwortete der Gutachter dahingehend, die erhobenen Befunde
hätten keine Hinweise auf das Vorliegen einer derart schwerwiegenden
psychopathologischen Symptomatik wie Psychose, Wahn, schwere
Bewusstseinsstörung, ergeben, dass der erfolgte Suizid gänzlich basierend auf
dieser Psychopathologie zu beurteilen wäre.
Gestützt auf die gutachterlichen Äusserungen sind Versicherer und Vorinstanz
zum Ergebnis gelangt, der Versicherte sei im Zeitpunkt des Suizids nicht
gänzlich unfähig gewesen, vernunftgemäss zu handeln.

3.2 Die Beschwerdeführer wenden ein, bei der Begutachtung durch Dr. med.
W.________ sei den Vorgaben gemäss Urteil U 256/03 vom 9. Januar 2004 nicht
Rechnung getragen worden. Danach hätte der psychiatrische Experte mehrere
Personen aus dem Umfeld des Versicherten befragen müssen. Das sei nur teilweise
erfolgt. Die Vorinstanz hätte dies auch in antizipierter Beweiswürdigung nicht
schützen dürfen. Im Weiteren wird Kritik an den Aussagen des Gutachters und an
deren Auslegung durch das kantonale Gericht vorgebracht.
3.3
3.3.1 Im Urteil U 256/03 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erwogen,
bei der ergänzenden psychiatrischen Abklärung seien die Freundin des
Versicherten, K.________, und weitere diesem nahe gestandene Personen, wie
beispielsweise die geschiedene Ehefrau, die frühere langjährige Partnerin
N.________, die langjährige Bekannte V.________ und die Kinder zu befragen.
Dies solle erfolgen, um den wirklichen Gehalt des an K.________ gerichteten
Schreibens des Versicherten vom Februar 2002 und dessen gesamten Lebensumstände
zu ergründen.
Dr. med. W.________ hat die geschiedene Ehefrau (Beschwerdeführerin 1) und die
beiden Kinder (Beschwerdeführer 2 und 3) befragt. N.________ habe sich unter
Hinweis auf psychische Probleme nicht befragen lassen und K.________ sowie
V.________ seien trotz mehrfacher Bemühungen des Experten und der Allianz nicht
erreichbar gewesen.
3.3.2 Alleine der Umstand, dass nicht alle der im Urteil U 256/03 genannten
Personen befragt wurden, rechtfertigt nicht, dem Gutachten vom 4. Januar/23.
Mai 2006 den Beweiswert abzusprechen. Massgebend ist, ob die Expertise auch
ohne die nicht erfolgten Befragungen die verlässliche Beurteilung der
Befindlichkeit des Versicherten im Zeitpunkt des Suizids gestattet.
Das kantonale Gericht hat dies bejaht und den gutachterlichen Äusserungen
folgend die Unfähigkeit des Versicherten zu vernunftgemässem Handeln verneint.
Diese Beurteilung beruht auf einer sorgfältigen Würdigung der Expertise. Das
kantonale Gericht hat zu Recht der erfolgten Befragung der ehemaligen Ehefrau
und der Kinder infolge deren Nähe zum Versicherten grosses Gewicht beigemessen.
Auch ist die Aussage des Gutachters als überzeugend zu betrachten, wonach eine
Befragung von K.________, V.________ und N.________ zu keiner Änderung der
Schlussfolgerungen führen würde. Mit der Vorinstanz ist zu schliessen, dass
sich Dr. med. W.________ mittels Befragung der nächsten Angehörigen und durch
Studium der vorhandenen Akten ein hinreichendes Bild über die gesamten
Lebensumstände des Versicherten machen konnte und daher von der Befragung
weiterer Personen kein entscheidrelevanter neuer Aufschluss zu erwarten wäre.
Wenn das kantonale Gericht in antizipierter Beweiswürdigung von einer solchen
Befragung abgesehen hat, ist dies daher nicht zu beanstanden. Dies gilt
namentlich auch in Bezug auf den Aussagegehalt des Schreibens vom Februar 2002.
Der Experte hat dieses umfassend gewürdigt und überzeugend begründet, weshalb
sich daraus keine andere Beurteilung der Befindlichkeit des Versicherten im
Zeitpunkt des Suizids ergibt.
3.3.3 Geltend gemacht wird sodann, der Versicherer habe die Abklärungen
verschleppt. Es ist indessen nicht wahrscheinlich, dass ein rascheres Vorgehen
zu Erkenntnissen geführt hätte, aufgrund derer die entscheidende Frage der
Urteilsfähigkeit im Zeitpunkt des Suizids anders zu beantworten gewesen wäre.
Auch der Umstand, dass V.________ und N.________ gemäss Darstellung in der
Beschwerde psychiatrisch betreut wurden, führt zu keiner abweichenden
Beurteilung. Gleiches gilt für die weiteren Einwände. Diesbezüglich und auch im
Übrigen kann auf die zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid
verwiesen werden.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend tragen die Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung (Art. 66 Abs.
1 und 5 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat entgegen ihrem Antrag und ungeachtet
ihres Obsiegens keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3
BGG; Urteil 8C_182/2008 vom 15. Dezember 2008 E. 6.2 mit Hinweisen).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden den Beschwerdeführern auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Januar 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Lanz