Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.643/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_643/2008

Urteil vom 4. November 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Parteien
S.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Giovanni Schramm, St.
Leonhardstrasse 32, 9001 St. Gallen,

gegen

Arbeitslosenkasse Thurgau, Zürcherstrasse 285, 8510 Frauenfeld Kant.
Verwaltung,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
2. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1959 geborene S.________ war vom September 2005 bis Ende September 2006 als
Vorarbeiter bei der Firma X.________ tätig. Am 12. Juni 2007 wurde über die
Arbeitgeberin der Konkurs eröffnet. S.________ machte im Konkurs eine Forderung
im Betrag von Fr. 15'962.20 für während des Monats September 2006 unbezahlt
gebliebenen Lohn, den 13. Monatslohn vom 1. Januar 2006 bis 30. September 2006,
Ferien- und Überzeitansprüche sowie Spesen geltend und stellte am 13. Juli 2007
beim Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau Antrag auf
Insolvenzentschädigung in der gleichen Höhe. Die Arbeitslosenkasse des Kantons
Thurgau lehnte mit Verfügung vom 3. September 2007 ihre Leistungspflicht mit
der Begründung ab, der Versicherte habe seine Schadenminderungspflicht
verletzt. Auch auf Einsprache hin hielt sie daran fest (Entscheid vom 21.
November 2007).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene Beschwerde
mit Entscheid vom 2. Juli 2008 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, in Aufhebung des Einspracheentscheides und des kantonalen
Entscheides sei die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen, damit diese
über seinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu verfüge.

Die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau und das Staatssekretariat für
Wirtschaft verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist auf Grund der Vorbringen in der
Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene kantonale
Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und
beweisrechtlichen Grundlagen Bundesrecht, Völkerrecht oder kantonale
verfassungsmässige Rechte verletzt (Art. 95 lit. a bis c BGG), einschliesslich
einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1,
Art. 105 Abs. 2 BGG). Hingegen hat unter der Herrschaft des BGG eine freie
Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheides in tatsächlicher Hinsicht zu
unterbleiben. Ebenso entfällt eine Prüfung der Ermessensbetätigung nach den
Grundsätzen zur Angemessenheitskontrolle (BGE 126 V 75 E. 6 S. 81 zu Art. 132
lit. a OG [in der bis 30. Juni 2006 gültig gewesenen Fassung]).

2.
2.1 Im vorinstanzlichen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen über den
Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG), den Umfang des
Anspruchs (Art. 52 Abs. 1 AVIG) sowie über die Pflichten des Arbeitnehmers im
Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 56 E. 3d S.
59; ARV 2002 Nr. 8 S. 62 ff. und Nr. 30 S. 190 ff., 1999 Nr. 24 S. 140 ff.)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2 Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs-
oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber
dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und
Pfändungsverfahren. Sie bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen
Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das
Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V S. 56 E. 4
S. 60; ARV 1999 Nr. 24 S. 140 ff.). Die Vorinstanz hat dabei richtig
festgehalten, auch eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung
der Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen
Rechtsprechung setze voraus, dass dem Versicherten ein schweres Verschulden,
also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder Unterlassen vorgeworfen
werden kann (vgl. URS BURGHERR, Die Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit
des Arbeitgebers als versichertes Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 166). Das
Ausmass der vorausgesetzten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den
jeweiligen Umständen des Einzelfalls.

3.
Vorliegend ist einzig umstritten, ob der Beschwerdeführer nach Auflösung des
Arbeitsverhältnisses seiner Schadenminderungspflicht nachgekommen ist.

3.1 Die Vorinstanz hat erwogen, von einem Versicherten könne zwar nicht
verlangt werden, dass er sich juristisch fehlerlos verhalte, es dürfe von ihm
aber immerhin ein Verhalten erwartet werden, welches über eine mündliche
Nachfrage nach den Lohnausständen hinausgehe, da eine solche nicht leicht zu
belegen sei. Da die Lohnforderungen für den Monat September 2006 und der Anteil
des 13. Monatslohnes von der Arbeitgeberin offensichtlich anerkannt worden
seien, hätte für die Geltendmachung die Einleitung eines Betreibungsverfahrens
genügt. Weiter führt das kantonale Gericht aus, bei Einleitung von rechtlichen
Schritten kurz nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätte zumindest eine
reale Chance bestanden, dass der Versicherte noch einen Teil der geschuldeten
Löhne ausbezahlt bekommen hätte. Worauf diese Einschätzung beruht, ist dem
Entscheid nicht zu entnehmen.

3.2 In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass einzig der letzte Lohn für den
Monat September 2006 inklusive Spesen, Überstunden- und Feriensaldo und der bis
zu diesem Zeitpunkt aufgelaufene anteilsmässige Betrag für den 13. Monatsohn
nicht bezahlt wurden. Nach Ausbleiben dieses letzten Lohnes hat der
Beschwerdeführer bei der Arbeitgeberin mehrfach mündlich interveniert - was
diese im Schreiben vom 2. Februar 2007 eindeutig deklarierte ("Wir halten klar
fest, dass wir den Forderungen von Herrn S.________ in den Punkten
...nachkommen werden. Dies haben wir gegenüber Herrn S.________ auch immer so
kommuniziert"), jedoch keine Zahlungen erhalten. Mit Schreiben vom 24. Januar
2007 gelangte die nunmehr eingeschaltete Rechtsschutzversicherung an die Firma
und verlangte die ausstehenden Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis. Im
Antwortschreiben vom 2. Februar 2007 werden diese mit Ausnahme der Überstunden
und der Spesen ausdrücklich anerkannt und Zahlung in zwei Raten per 10. Februar
und 10. März 2007 versprochen. Nachdem die erste Rate nicht beglichen worden
war, intervenierte die mit der Angelegenheit beauftragte
Rechtsschutzversicherung unmittelbar. Da auch dies ohne Erfolg blieb, gelangte
der Beschwerdeführer an das Friedensrichteramt und - nach Ausbleiben der
Beklagten an der Sühneverhandlung - mit Klage an das Bezirksgericht
Kreuzlingen.

3.3 Praxisgemäss ist für eine Leistungsverweigerung wegen Verletzung der
Schadenminderungspflicht ein schweres Verschulden vorausgesetzt, wobei im
Einzelfall aufgrund der Umstände zu entscheiden ist, ob der Arbeitnehmer
genügend und rechtzeitig reagiert hat (Urteil F. vom 6. Februar 2006, E. 3.1, C
270/05). Es kann dabei nicht verlangt werden, dass er sich juristisch fehlerlos
verhält (Urteil F. vom 21. Dezember 2005, E. 3.2, C 63/05). Nimmt eine
Arbeitslosenkasse bereits eine Verletzung der Schadenminderungspflicht an, wenn
ein Versicherter nach Ablauf einer dreissigtägigen Zahlungsfrist nicht mittels
Betreibung oder Klage gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber vorgeht, verkennt sie
die Realitäten im Arbeitsleben und setzt mehr voraus als die Rechtsprechung in
der Regel verlangt. So erfüllte ein Versicherter die Schadenminderungspflicht,
der nach einer ersten schriftlichen Mahnung drei Monate zuwartete, bis er
unzuständigenorts eine Lohnklage einreichte und nach dem
Unzuständigkeitsentscheid nach weiteren ca. 50 Tagen beim zuständigen Gericht
klagte (Urteil F. vom 21. Dezember 2005, C 63/05). Im Urteil G. vom 19. Oktober
2006 (C 163/06) unternahm ein Versicherter nach Beendigung des
Arbeitsverhältnisses während rund 4 Monaten nichts Aktenkundiges, machte
hingegen glaubhaft, dass er verschiedentlich telefonisch intervenierte. Das
Eidgenössische Versicherungsgericht erachtete die Schadenminderungspflicht als
nicht verletzt. Im Urteil N. vom 2. April 2007 hielt das Bundesgericht
hinsichtlich einer Versicherten, die nach Kenntnis über die unbezahlt
gebliebene Forderung eines Monatslohnes knapp fünf Monate zugewartet hatte, bis
sie diese gegenüber der Arbeitgeberin nachdrücklich geltend machte, wovon vier
Monate in die Zeit nach der Kündigung ihres Arbeitsvertrages fielen, fest, die
Frage der Schadenminderungspflicht, müsse näher untersucht werden (C 269/06
E.3.1).

4.
Vorliegend hatte der Beschwerdeführer während des Arbeitsverhältnisses die
Lohnzahlungen immer relativ pünktlich, das heisst bis ungefähr Mitte des
Folgemonats, erhalten. Der Lohn für die Monate Juli und August 2007 wurden am
13. September entrichtet. Bis Mitte Oktober 2006 musste er sich daher noch
keine Gedanken darüber machen, dass der September-Lohn und die weiteren
Forderungen noch nicht bezahlt worden waren. Er war als Vorarbeiter im
Baugewerbe tätig und sicher nicht gewohnt, mit seiner Arbeitgeberin schriftlich
zu kommunizieren. Damit ist auch verständlich, dass er versuchte, seinen -
letzten - Lohn vorerst durch mündliche Mahnungen einzutreiben. Als dies nicht
zum gewünschten Resultat führte, hat er sich an seine Rechtsschutzversicherung
gewandt. Zu welchem Zeitpunkt dieser Schritt erfolgte, hat die
Arbeitslosenkasse nicht abgeklärt und ist auch aus den Akten nicht ersichtlich.
Auch dieser Schritt zur Geltendmachung der offenen Forderungen war vernünftig
und geeignet, einen Schaden von der Insolvenzversicherung abzuhalten. Sicher
ist, dass die Rechtsvertretung am 24. Januar 2007, somit innert drei bis
dreieinhalb Monaten nach Kenntnis des Beschwerdeführers vom Ausbleiben der
Lohnzahlung, schriftlich intervenierte und, nachdem das
Ratenzahlungsversprechen nicht eingehalten wurde, das Klageverfahren
anstrengte.

Festzuhalten bleibt, dass ein Zuwarten von drei Monaten vom Ausbleiben der
geschuldeten Lohnzahlung bis zur schriftlichen Geltendmachung kein grobes
Verschulden im Sinne von Art. 55 Abs. 1 AVIG darstellt. Dass der
Beschwerdeführer wiederholt mündlich intervenierte, ist vorliegend mit dem
Schreiben des Arbeitgebers vom 2. Februar 2007 erstellt, sodass das Argument,
mündliche Mahnungen seien nicht beweisbar, nicht standhält. Es kann mithin
nicht von einer dreimonatigen Untätigkeit gesprochen werden. Zudem ist zu
berücksichtigen, dass es sich nicht um bereits lange vor Auflösung des
Arbeitsverhältnisses aufgelaufene Schulden handelt, sondern einzig der letzte
Lohn und mit diesem fällig werdende Forderungen (Anteil 13. Monatslohn) offen
bleiben.

Zusammenfassend steht fest, dass, soweit eine Verletzung der
Schadenminderungspflicht überhaupt anzunehmen ist, eine solche nach den
gesamten Umständen jedenfalls nicht derart schwer wiegt, dass sie mit einer
Leistungsverweigerung zu sanktionieren ist.

5.
Nach dem Gesagten ist die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen, damit
sie die weiteren Anspruchsvoraussetzungen prüfe und über den Anspruch auf
Insolvenzentschädigung neu verfüge.

6.
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 68 Abs. 1 BGG) zu tragen und dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 2. Juli 2008 und der Einspracheentscheid der
Arbeitslosenkasse Thurgau vom 21. November 2007 werden aufgehoben und die Sache
wird an die Arbeitslosenkasse zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung
neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2000.- zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
dem Staatssekretariat für Wirtschaft und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit,
Abt. Arbeitslosenkasse, schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. November 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Schüpfer