Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.58/2008
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_58/2008

Urteil vom 9. September 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger,
Gerichtsschreiberin Polla.

Parteien
B.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Andrea Cantieni,
Bahnhofstrasse 8, 7000 Chur,

gegen

Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit Graubünden, Grabenstrasse 9, 7000 Chur,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
vom 4. Dezember 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1958 geborene, zuletzt als Hilfskoch tätig gewesene B.________ meldete sich
am 3. September 2004 zum Leistungsbezug bei der Arbeitslosenversicherung an,
wobei er sich im Umfang von 50 % dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellte. Am 23.
September 2003 hatte er zudem Leistungen der Invalidenversicherung anbegehrt.
Mit Verfügung vom 27. Oktober 2004 lehnte das Amt für Industrie, Gewerbe und
Arbeit Graubünden (KIGA) den Anspruch von B.________ auf
Arbeitslosenentschädigung ab, da es auf Grund der rein theoretischen
Arbeitsfähigkeit von 50 % einerseits fraglich sei, ob er objektiv
vermittlungsfähig sei und andererseits die subjektive Bereitschaft fehle, seine
Arbeitskraft entsprechend seinen persönlichen Verhältnissen einzusetzen. Auch
nach Berücksichtigung des rheumatologischen Gutachtens der Klinik X.________
vom 29. Juli 2005, welches die IV-Stelle des Kantons Graubünden eingeholt
hatte, hielt das KIGA daran auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom
29. September 2005). Während das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden die
hiegegen erhobene Beschwerde abwies (Entscheid vom 4. Januar 2006), hiess das
hernach angerufene Eidgenössische Versicherungsgericht (heute: Bundesgericht)
die dagegen geführte Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Urteil vom 28. November
2006 (C 60/06) in dem Sinne gut, dass es die Sache zur Vornahme ergänzender
Abklärungen und zur Neubeurteilung an das Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit
Graubünden zurückwies. Mit Verfügung vom 26. Januar 2007 und
Einspracheentscheid vom 18. Juli 2007 verneinte dieses daraufhin aufgrund
fehlender subjektiver Vermittlungsbereitschaft die Anspruchsberechtigung
erneut.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies die dagegen geführte
Beschwerde mit Entscheid vom 4. Dezember 2007 ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde erheben und sein vorinstanzlich gestelltes
Rechtsbegehren um Zusprechung der gesetzlichen Leistungen erneuern.
Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die
Vorinstanz, eventuell an den Beschwerdegegner zurückzuweisen. Ferner wird um
unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
KIGA und Staatssekretariat für Wirtschaft haben auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung stellt eine
vom Bundesgericht ebenfalls zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 lit. a BGG dar (Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007, N. 24 zu Art. 97 BGG). Vom Bundesgericht frei
überprüfbar ist hingegen namentlich die falsche Rechtsanwendung (Seiler/von
Werdt/Güngerich, a.a.O., N. 9 zu Art. 95 BGG).

1.2 Bei der Anwendung der gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über
die Vermittlungsfähigkeit geht es um eine Rechtsfrage. Zu prüfen ist hierbei
insbesondere die falsche Rechtsanwendung. Die Prüfung basiert auf einer im
Rahmen von Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG grundsätzlich verbindlichen
Sachverhaltsfeststellung (Urteile 8C_172/2008 vom 5. Juni 2008, E. 3 und 8C_773
/2007 vom 9. Januar 2008, E. 3).

2.
Vorinstanz und Verwaltung haben die Bestimmungen und Grundsätze über die für
den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung vorausgesetzte Vermittlungsfähigkeit
im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 lit. f , Art. 15 Abs. 1 AVIG; BGE 125 V 51 E. 6a
S. 58, 123 V 214 E. 3 S. 216; SVR 2007 ALV Nr. 6 S. 19 E. 1.1, C 244/05)
zutreffend dargelegt. Gleiches gilt zur Bedeutung der Arbeitsbemühungen der
versicherten Person (Art. 17 Abs. 1 AVIG) im Rahmen der Beurteilung der
Vermittlungsfähigkeit (BGE 112 V 215 E. 1b und 2 S. 217 f.; SVR 2007 ALV Nr. 6
S. 19 E. 1.2 f. mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig und zu prüfen ist die subjektive Vermittlungsfähigkeit des
Beschwerdeführers ab Anmeldung bei der Arbeitslosenversicherung am 3. September
2004.

3.1 Die Vorinstanz hat die subjektive Vermittlungsfähigkeit im Lichte der
Tatsache verneint, dass der Beschwerdeführer von September 2004 bis Januar 2005
keine Arbeitsbemühungen vornahm und sich in den Monaten April, Juni und Juli
2005 ausschliesslich als Hilfsarbeiter in Restaurants bewarb sowie sich von
April bis Dezember 2006 einzig um Arbeit in Hotels bemühte; in den restlichen
Monaten bewarb er sich schriftlich als Hilfsarbeiter bei verschiedenen Firmen,
Restaurants, Altersheimen und Gärtnereien. Das kantonale Gericht führte hiezu
aus, für die Zeitspanne von September 2004 bis Januar 2005 bringe der
Versicherte nichts vor, was das Fehlen von Bewerbungen und die entsprechende
Nichterfüllung der Schadenminderungspflicht rechtfertigen würde. Mit Blick auf
die Zeit von Januar 2005 bis Dezember 2006 sei der Beschwerdeführer in
quantitativer Hinsicht mit acht bis zehn Bewerbungen pro Monat seiner
Schadenminderungspflicht nachgekommen; in qualitativer Hinsicht müssten die
Arbeitsbemühungen in Berücksichtigung der im Gutachten der Klinik X.________
festgehaltenen Restarbeitsfähigkeit (50%-ige Arbeitsfähigkeit für leichte
Tätigkeiten im Sitzen mit der Möglichkeit der wiederholten Hochlagerung des
rechten Beines, ohne längere Gehstrecken zum Arbeitsplatz und Stehen sollte
vermieden werden) als "Alibibewerbungen" angesehen werden. Es mute
realitätsfremd an, wenn er sich trotz der klar umschriebenen, seinen Leiden
angepassten zumutbaren Tätigkeiten nur noch in Hotels (April bis Dezember 2006)
oder ausschliesslich in Restaurants (April, Juni und Juli 2005) beworben habe.
Zweifel bezüglich der Ernsthaftigkeit seiner Arbeitsbemühungen seien auch
angebracht angesichts der Bewerbungen als Hilfskoch, Küchengehilfe,
Serviceangestellter, (Nacht-)Portier oder dergleichen aufgrund seiner starken
Gehbehinderung und seiner Hautallergien (keine "feuchten" Küchenarbeiten, keine
temperaturabhängigen Gartenarbeiten oder Arbeiten auf dem Bau [Zementallergie]
oder in Textilverarbeitungsbetrieben [Lederallergie]). Da eine Tätigkeit in
diesen Bereichen von vornherein nicht in Frage gekommen sei, was der
Versicherte schon vor Einreichung der Bewerbungen gewusst habe, sei die
subjektive Vermittlungsfähigkeit wegen fortlaufender ungenügender
Arbeitsbemühungen zu verneinen. Es sei sodann nicht unverhältnismässig, wenn
die Verwaltung von Beginn weg den Leistungsanspruch verneinte und nicht zuerst
eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung verfügt habe.

3.2 Die Bereitschaft zur Annahme einer Dauerstelle als Arbeitnehmer ist ein
wesentliches Merkmal der Vermittlungsbereitschaft (Thomas Nussbaumer,
Arbeitslosenversicherung, Rz. 270 in: Ulrich Meyer [Hrsg.], Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht, Band XIV: Soziale Sicherheit, 2., aktualisierte und
ergänzte Auflage, Basel 2007). Richtig ist, dass aus ungenügenden
Arbeitsbemühungen in der Regel nicht auf mangelnde Vermittlungsbereitschaft
geschlossen werden darf, solange diese nur Ausdruck unzureichender Erfüllung
der Schadenminderungspflicht sind, es sei denn, es bestehe trotz des äusseren
Scheins nachweislich keine Absicht zur Wiederaufnahme einer
Arbeitnehmertätigkeit (vgl. Thomas Nussbaumer, a.a.O. Rz. 272). Wenn die
Arbeitsbemühungen indessen nicht mehr nur ungenügend oder dürftig, sondern
derart unbrauchbar sind, dass sie besonders qualifizierte Umstände darstellen,
führt dies auch ohne vorgängige Einstellungen zur Vermittlungsunfähigkeit.
Dasselbe gilt, wenn über längere Zeit überhaupt keine Arbeitsbemühungen oder
blosse "pro forma"-Bemühungen vorgewiesen werden (SVR 1997 AlV Nr. 81 S. 246 E.
3b/bb, C 91/96; ARV 1996/97 Nr. 19 S. 101 E. 3b, C 161/96; Urteil C 113/04 vom
2. September 2004, E. 2.3).

3.3 Beschwerdeweise wird nicht bestritten, dass sich der Versicherte vor und
seit seiner Anmeldung am 3. September 2004 bis Januar 2005 um keine
Arbeitsstelle bemüht hat. Sodann ist der Einwand des Versicherten, aufgrund
seines Profils seien ihm vom Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV)
Stellen in der Gastronomie gemeldet worden nicht stichhaltig. Die den Akten zu
entnehmenden Meldungen sind vielmehr Stellenangebote einer
"Onlinestellen-Plattform", welche Internetadresse offenbar seitens des RAV zur
Unterstützung bei der Stellensuche abgegeben wurde (Einspracheentscheid vom 18.
Juli 2007). Die konkrete Stellensuche oblag jedoch einzig dem Versicherten,
wobei sich aus den Akten keinerlei Hinweise ergeben, dass er sich auf Anraten
der RAV-Personalberatung in Hotels bewarb. Sollte die Mitarbeiterin der "Pro
Infirmis" den Versicherten dahingehend unterstützt haben (Brief vom 30. Juli
2007), ändert dies an der Unbrauchbarkeit der Bemühungen nichts. Angesichts der
offensichtlichen Gehbehinderung und der weiteren gesundheitlichen
Einschränkungen, insbesondere der allergiebedingten Unmöglichkeit, feuchte
Küchenarbeiten zu verrichten, und der Tatsache, dass sich der Versicherte fast
ausnahmlos in einem für ihn klarerweise unzumutbaren Tätigkeitsfeld bewarb,
lagen derart unbrauchbare Arbeitsbemühungen vor, dass sie besonders
qualifizierte Umstände darstellen, die - auch in Berücksichtigung der übrigen
Aussagen des Versicherten - zur Vermittlungsunfähigkeit führen. Unter diesen
Umständen durfte die Vorinstanz, ohne Bundesrecht zu verletzen, die Verneinung
des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung bestätigen. Entgegen der Vorbringen
in der Beschwerde liegt damit weder eine Verletzung des
Verhältnismässigkeitsprinzips noch eine willkürliche Beweiswürdigung durch das
kantonale Gericht vor. Dass dieses keine Veranlassung für weitere
Beweismassnahmen in Form der angebotenen Zeugenbefragung der "Pro
Infirmis"-Mitarbeiterin gesehen hat, beruht auf einer vertretbaren
antizipierten Beweiswürdigung.

3.4 Ebensowenig vermag der Beschwerdeführer überzeugend zu begründen, weshalb
die Aufklärungs- und Beratungspflicht nach Art. 27 ATSG verletzt sein soll. Wie
schon im Urteil des Bundesgerichts vom 28. November 2006 und im
vorinstanzlichen Entscheid vom 4. Dezember 2007 festgehalten wurde, wies die
RAV-Personalberatung bereits im Erstgespräch vom 27. September 2004 auf die
Pflicht zur Arbeitssuche hin, was offenbar seitens des RAV auch gegenüber
seiner Beraterin bei der "Pro Infirmis" wiederholt und im Beratungsgespräch vom
9. März 2005 verdeutlicht wurde, womit der Versicherte auch während des
sistierten Einspracheverfahrens bis zum Vorliegen des Gutachtens der Klinik
X.________ nicht von der Arbeitssuche befreit war. Schliesslich legt der
Beschwerdeführer nicht substantiiert dar, inwiefern die Voraussetzungen für
einen Taggeldanspruch gestützt auf Treu und Glauben erfüllt sein sollen, zumal
die Verwaltung - entgegen seinen Einwendungen - von Anfang an wegen fehlender
(subjektiver und objektiver) Vermittlungsfähigkeit Zweifel hinsichtlich seines
Arbeitslosenentschädigungsanspruchs äusserte und daher auch keine zeitweilige
Einstellung eines laufenden Taggeldes (wegen fehlender oder ungenügender
Arbeitsbemühungen) oder arbeitsmarktliche Massnahmen verfügen konnte. Damit hat
es beim vorinstanzlichen Entscheid sein Bewenden.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG).
Gemäss dem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im
Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist,
das Rechtsmittel nicht aussichtslos und die anwaltliche Vertretung geboten war
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es
wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in
der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Dr. iur. Andrea Cantieni, Chur, wird als unentgeltlicher Anwalt
des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
und dem Staatssekretariat für Wirtschaft schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. September 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Polla