Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.571/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_571/2008

Urteil vom 1. Juli 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Holzer.

Parteien
Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Rechtsdienst, Generaldirektion Schweiz,
Postfach, 8085 Zürich Versicherung, vertreten durch Rechtsanwalt Hermann Rüegg,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Wiget,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 3. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1950 geborene S.________ war als Office Manager der Firma M.________ bei
der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachstehend: die Zürich) gegen die
Folgen von Unfällen versichert, als er seiner Versicherung am 18. November 2002
melden liess, am 16. November 2002 einen Auffahrunfall erlitten zu haben. Die
Zürich erbrachte die gesetzlichen Leistungen für die Folgen dieses Ereignisses.
Nachdem Zweifel an der Redlichkeit des Versicherten aufgekommen waren, liessen
die beteiligten Versicherungen ihn ab dem 30. März 2004 an verschiedenen Tagen
durch Privatdetektive überwachen. Nach Einsicht in die Observationsberichte
stellte die Zürich mit Verfügung vom 25. Juli 2006 und Einspracheentscheid vom
19. September 2006 ihre Leistungen rückwirkend per Unfalldatum ein und forderte
einen Betrag von Fr. 257'255.85 für zu Unrecht erbrachte Leistungen und
Abklärungskosten zurück, da der Versicherte seine gesundheitlichen Beschwerden
simuliert habe.

B.
Die von S.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 3. Juni 2008 in dem Sinne gut, als es
die Sache unter Aufhebung des Einspracheentscheides an die Zürich zurückwies,
damit diese im Sinne der Erwägungen erneut über das Leistungsbegehren
entscheide. Das kantonale Gericht erwog namentlich, dass die
Observationsberichte als Beweismittel nicht zulässig seien.

C.
Mit Beschwerde beantragt die Zürich, ihr Einspracheentscheid vom 19. September
2006 sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides zu bestätigen;
eventuell sei die Sache an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
zurückzuweisen, damit dieses unter Berücksichtigung der Observationsberichte
neu entscheide.

S.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, eventuell seien gewisse
Teile der Ermittlungsergebnisse aus der Überwachung für nicht verwertbar zu
erklären. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
1.1 Das BGG unterscheidet in Art. 90 bis 93 zwischen End-, Teil- sowie Vor- und
Zwischenentscheiden und schafft damit eine für alle Verfahren einheitliche
Terminologie. Ein Endentscheid ist ein Entscheid, der das Verfahren prozessual
abschliesst (Art. 90 BGG), sei dies mit einem materiellen Entscheid oder
Nichteintreten, z.B. mangels Zuständigkeit. Der Teilentscheid ist eine Variante
des Endentscheids. Mit ihm wird über eines oder einige von mehreren
Rechtsbegehren (objektive und subjektive Klagehäufung) abschliessend befunden.
Es handelt sich dabei nicht um verschiedene materiellrechtliche Teilfragen
eines Rechtsbegehrens, sondern um verschiedene Rechtsbegehren. Vor- und
Zwischenentscheide sind alle Entscheide, die das Verfahren nicht abschliessen
und daher weder End- noch Teilentscheid sind; sie können formell- und
materiellrechtlicher Natur sein. Voraussetzung für die selbstständige
Anfechtbarkeit materiellrechtlicher Zwischenentscheide ist gemäss Art. 93 Abs.
1 BGG zunächst, dass sie selbstständig eröffnet worden sind. Erforderlich ist
sodann alternativ, dass der angefochtene Entscheid einen nicht wieder gut zu
machenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder dass die Gutheissung der
Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde
(lit. b).

1.2 Beschlägt ein Rechtsstreit verschiedene Aspekte, und wird - etwa aus
prozessökonomischen Gründen - über einen dieser Aspekte vorab entschieden, so
handelt es sich beim Entscheid der letzten kantonalen Instanz je nach Ausgang
des Verfahrens um einen End- oder um einen Vorentscheid: Wird etwa bei mehreren
kumulativ zu erfüllenden Anspruchsvoraussetzungen eine dieser Voraussetzungen
vorab geprüft und verneint, so wird es sich beim kantonalen Entscheid in der
Regel um einen Endentscheid handeln, der gemäss Art. 90 BGG ohne weiteres
anfechtbar ist. Wird demgegenüber von mehreren Anspruchsvoraussetzungen eine
vorab bejaht, so handelt es sich beim kantonalen Entscheid um einen
Vorentscheid (weitere Beispiele bei FELIX UHLMANN, in: Basler Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008, N 4 zu Art. 92 BGG), welcher vor
Bundesgericht nur dann anfechtbar ist, wenn die Voraussetzungen von Art. 93 BGG
erfüllt sind.

1.3 Gelangt in einem Verwaltungsverfahren die Verwaltung zum Schluss, eine von
mehreren kumulativ zu erfüllenden Anspruchsvoraussetzungen sei nicht erfüllt,
so ist es zulässig, dass sie ihre Leistungspflicht verneint, ohne die anderen
Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen. Auch im daran sich allenfalls
anschliessenden kantonalen Verwaltungsgerichtsverfahren wird in der Regel
lediglich das Vorliegen dieser einen Anspruchsvoraussetzung geprüft (vgl. BGE
125 V 413 E. 1a S. 414). Könnte die Verwaltung einen kantonal
letztinstanzlichen Entscheid, wonach diese eine Voraussetzung erfüllt ist,
nicht vor Bundesgericht anfechten, so hätte dies zur Folge, dass sie zur
Prüfung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen schreiten müsste und - sollten
diese zu bejahen sein - gezwungen wäre, eine ihres Erachtens rechtswidrige,
leistungszusprechende Verfügung zu erlassen. Diese könnte sie in der Folge
nicht selber anfechten; da die Gegenpartei in der Regel kein Interesse haben
wird, den allenfalls zu ihren Gunsten rechtswidrigen Endentscheid anzufechten,
könnte der kantonale Vorentscheid nicht mehr korrigiert werden und würde zu
einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil für die Verwaltung führen (vgl. BGE
133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.).

1.4 Mit Verfügung vom 25. Juli 2006 und Einspracheentscheid vom 19. September
2006 stellte die Beschwerdeführerin ihre Leistungen rückwirkend per Unfalltag
ein und forderte die bereits erbrachten Leistungen zurück, da das Ereignis vom
16. November 2002 keine Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen
Gesundheit des Versicherten zur Folge gehabt habe. Damit verneinte die
Versicherung sinngemäss das Vorliegen eines Unfalles im Sinne von Art. 4 ATSG.
Das kantonale Gericht hob den Einspracheentscheid auf, da die
Observationsergebnisse der von der Beschwerdeführerin beauftragten
Privatdetektive als Beweismittel unzulässig und daher nicht zu beachten seien.
Aufgrund der übrigen Akten stellte es für die Versicherung verbindlich fest,
dass der Versicherte beim Ereignis vom 16. November 2002 eine HWS-Distorsion
erlitten hat, womit dieses Ereignis als Unfall zu qualifizieren sei. Die Sache
wurde zur Prüfung der Frage, inwieweit die anhaltend geklagten Beschwerden noch
in einem natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang stehen, an die
Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Das Vorliegen eines Unfallereignisses ist
eine Anspruchsvoraussetzung unter anderen in Zusammenhang mit Leistungen der
Unfallversicherung. Der kantonale Entscheid ist demnach als Vorentscheid zu
qualifizieren. Hätte er Bestand, so wäre die Beschwerdeführerin unter Umständen
gezwungen, eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen, womit sie
offensichtlich einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil erlitte (vgl. Urteil
8C_554/2007 vom 20. Juni 2008, E. 1.4). Auf ihre Beschwerde ist demnach
einzutreten.

2.
2.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von
der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132
II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das
Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der
Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten
Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist
jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich
stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

3.
Streitig ist der Anspruch des Beschwerdegegners auf Versicherungsleistungen
aufgrund des Ereignisses vom 16. November 2002.

4.
Die Beschwerdeführerin liess den Beschwerdegegner ab dem 30. März 2004 an
verschiedenen Tagen durch Privatdetektive überwachen. Das kantonale Gericht hat
erwogen, die Beschwerdeführerin als Versicherungsträger der obligatorischen
Unfallversicherung dürfe mangels gesetzlicher Grundlage keine Überwachung einer
versicherten Person durch einen Privatdetektiv in Auftrag geben. Daher seien
die Ergebnisse der unzulässigen Observation als Beweismittel nicht verwertbar.
Wie das Bundesgericht jedoch unlängst entschieden hat, besteht eine
ausreichende gesetzliche Grundlage für eine durch einen
Sozialversicherungsträger in Auftrag gegebene privatdetektivliche Observation
im öffentlichen Raum (BGE 8C_807/2008 vom 15. Juni 2009 E. 4 f.). Somit sind
die Ergebnisse der ab 30. März 2004 durchgeführten Observation des
Beschwerdegegners grundsätzlich verwertbar.

5.
5.1 Die Beschwerdeführerin hat ihre Leistungen rückwirkend eingestellt und die
Rückerstattung der erbrachten Leistungen verfügt. Eine rückwirkende Einstellung
von Taggeld und Heilbehandlungsleistungen ist grundsätzlich zulässig, wenn auch
einer Rückforderung von Leistungen, welche über ein rückwirkend festgelegtes
Einstellungsdatum hinaus geleistet wurden, unter Umständen der Gesichtspunkt
des Vertrauensschutzes entgegen steht (BGE 133 V 57 E. 6.8 S. 65).

5.2 Die Beschwerdeführerin hat ihre Leistungen rückwirkend auf den Unfalltag
eingestellt. Damit macht sie sinngemäss geltend, der Versicherte habe am 16.
November 2002 keinen Unfall erlitten oder er sei durch dieses Ereignis nicht
verletzt worden. Dem Polizeirapport der Kantonspolizei Aargau vom 26. November
2002 ist jedoch zu entnehmen, dass der Versicherte am 16. November 2002 in eine
Auffahrkollision verwickelt wurde und er sich bereits am Unfallort über
Nackenschmerzen beklagte. Auffahrunfälle können insbesondere bei den Insassen
des voranfahrenden Fahrzeugs zu schweren Verletzungen führen. Eine typische
Verletzung bei Auffahrunfällen stellt ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule
dar. Dieses kann gravierende gesundheitliche Folgen haben (BGE 135 II 138 E.
2.3 S. 143 mit weiteren Hinweisen). Einzig weil der Versicherte und seine
Ehefrau ab 2004 durch Privatdetektive überwacht wurden und diese Überwachung
ergab, dass er gegenüber der Versicherung falsche Angaben machte, kann nicht
ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdegegner am 16. November 2002
tatsächlich einen Gesundheitsschaden erlitten hat.

5.3 Die Beschwerde ist somit teilweise gutzuheissen, der Einsprache- und der
kantonale Gerichtsentscheid sind aufzuheben und die Akten sind an die
Beschwerdeführerin zurückzuweisen, damit diese - allenfalls nach weiteren
Abklärungen - entscheide, wie lange der Versicherte nach dem Unfall vom 16.
November 2002 an natürlich und adäquat kausal durch dieses Ereignis
verursachten Beschwerden litt. Sie wird in diesen Entscheid die Ergebnisse der
Observation grundsätzlich einbeziehen können, wobei sie zu prüfen haben wird,
ob - wie vom Beschwerdegegner geltend gemacht - allenfalls gewisse Teile der
Observationsberichte nicht verwertbar sind. Anschliessend wird sie über die
Höhe des Rückerstattungsbetrages neu zu verfügen haben. In Betracht fällt bei
den gegebenen Verhältnissen auch eine vergleichsweise Festlegung des
Rückerstattungsbetrages (Art. 50 ATSG).

6.
Entsprechend dem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten den Parteien je zur
Hälfte aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat dem
Beschwerdegegner überdies eine reduzierte Parteientschädigung zu entrichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 3. Juni 2008 und der
Einspracheentscheid der Zürich Versicherungs-Gesellschaft vom 19. September
2006 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Zürich Versicherungs-Gesellschaft
zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin Fr. 375.-
und dem Beschwerdegegner Fr. 375.- auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1400.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. Juli 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Holzer