Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.539/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_539/2008

Urteil vom 13. Januar 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Niquille,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Parteien
G.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Max Auer, Zürcherstrasse 82, 8640 Rapperswil,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 21. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
G.________, geboren 1978, leidet an einer paranoid-halluzinatorischen
Schizophrenie mit unvollständiger Remission (ICD-10: F 20.04). Im Rahmen einer
beruflichen Massnahme wurde sie vom 9. August 2004 bis 31. Juli 2006 zur
Mikroverfilmerin umgeschult. Da sich im Lauf der Umschulung zeigte, dass sie
nach Abschluss der Massnahme in der freien Wirtschaft nicht einsatzfähig sein
würde, sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Thurgau (nachfolgend: IV-Stelle)
mit Verfügung vom 22. Oktober 2007 eine ganze Invalidenrente ab 1. August 2006
zu.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ist mit Entscheid vom 21. Mai 2008
auf die dagegen erhobene Beschwerde mangels schutzwürdigem Interesse nicht
eingetreten.

C.
G.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle
seien aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Eintritt ihrer Invalidität
am 20. August 2001, in jedem Fall aber per Oktober/November 2001 erfolgt sei.
Die Vorinstanz und die IV-Stelle schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Eingabe vom 5. September 2008 lässt G.________ ein Schreiben der Firma
C.________ vom 26. August 2008 einreichen, in welchem der Anspruch auf eine
Invalidenrente der beruflichen Vorsorge ab 1. August 2006 anerkannt wird.

Erwägungen:

1.
Die Versicherte macht geltend, die Vorinstanz hätte auf die Beschwerde vom 22.
November 2007 eintreten und den Eintritt ihrer Invalidität auf den 20. August
2001 festsetzen müssen. Auch vor Bundesgericht ist hingegen der Anspruch auf
eine ganze Invalidenrente ab 1. August 2006 unbestritten. Demnach ist nicht der
Beginn der zugesprochenen Rente, sondern der Eintritt der Invalidität streitig.

2.
2.1 Der Begriff des schutzwürdigen Interesses für das kantonale
Beschwerdeverfahren (Art. 59 ATSG) ist materiellrechtlich gleich auszulegen wie
derjenige nach Art. 103 lit. a des bis 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen
Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 16. Dezember
1943 (OG) für das bundesrechtliche Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren (BGE
130 V 388 E. 2.2 S. 390, 560 E. 3.2 S. 563, je mit Hinweisen). Unter der
Herrschaft des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Bundesgerichtsgesetzes
(BGG) hat sich an der Definition des schutzwürdigen Interesses nichts geändert
und es wird im Rahmen von Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG die Rechtsprechung zu Art.
103 lit. a OG weitergeführt (BGE 134 II 120 E. 2.1 S. 122, 133 II 400 E. 2.2 S.
404; SVR 2008 UV Nr. 20 S. 74 E. 1.2 [= Urteil 8C_146/2008 vom 22. April
2008]).

2.2 Als schutzwürdig im Sinne von Art. 103 lit. a OG gilt jedes praktische oder
rechtliche Interesse, welches eine von der Verfügung betroffene Person an deren
Änderung oder Aufhebung geltend machen kann. Das schutzwürdige Interesse
besteht im praktischen Nutzen einer Gutheissung der Beschwerde oder - anders
ausgedrückt - im Umstand, einen Nachteil wirtschaftlicher, ideeller,
materieller oder anderweitiger Natur zu vermeiden, welchen der angefochtene
Entscheid mit sich bringen würde. Das rechtliche oder auch bloss tatsächliche
Interesse braucht somit mit dem Interesse, das durch die als verletzt
bezeichnete Norm geschützt wird, nicht übereinzustimmen. Immerhin wird
verlangt, dass die beschwerdeführende Person durch die Verfügung stärker als
jedermann betroffen ist und in einer besonderen, beachtenswerten, nahen
Beziehung zur Streitsache steht (BGE 131 V 362 E. 2.1 S. 365 mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung zu Art. 103 lit. a OG wird das Rechtsschutzinteresse
verneint, wenn sich die Beschwerde nur gegen die Begründung der angefochtenen
Verfügung richtet, ohne dass eine Änderung des Dispositivs verlangt wird. Bei
einer Verfügung über Versicherungsleistungen bildet grundsätzlich einzig die
Leistung Gegenstand des Dispositivs. Die Beantwortung der Frage, welcher
Invaliditätsgrad der Rentenzusprechung zugrunde gelegt wurde, dient
demgegenüber in der Regel lediglich der Begründung der Leistungsverfügung. Sie
könnte nur dann zum Dispositiv gehören, wenn und insoweit sie Gegenstand einer
Feststellungsverfügung ist. Da in jedem Fall nur das Dispositiv anfechtbar ist,
muss bei Anfechtung der Motive einer Leistungsverfügung im Einzelfall geprüft
werden, ob damit nicht sinngemäss die Abänderung des Dispositivs beantragt
wird. Sodann ist zu untersuchen, ob die beschwerdeführende Person allenfalls
ein schutzwürdiges Interesse an der sofortigen Feststellung hinsichtlich des
angefochtenen Verfügungsbestandteils hat (SVR 2007 IV Nr. 3 S. 8 E. 1.3 mit
Hinweis [= I 808/05 vom 9. Juni 2006]).

2.3 Nach der Rechtsprechung sind die Vorsorgeeinrichtungen im Bereich der
gesetzlichen Mindestvorsorge an die Feststellungen der IV-Organe gebunden. Dies
gilt, soweit die invalidenversicherungsrechtliche Betrachtungsweise auf Grund
der gesamthaften Prüfung der Akten nicht als offensichtlich unhaltbar
erscheint. Eine Bindungswirkung entfällt ebenfalls, wenn die
Vorsorgeeinrichtung nicht ins invalidenversicherungsrechtliche Verfahren
einbezogen wird. Denn den Versicherern nach BVG steht in diesem Verfahren ein
selbstständiges Beschwerderecht zu. Deshalb ist die IV-Stelle verpflichtet,
eine Rentenverfügung allen in Betracht fallenden Vorsorgeeinrichtungen von
Amtes wegen zu eröffnen. Unterbleibt ein solches Einbeziehen der
Vorsorgeeinrichtung, ist die invalidenversicherungsrechtliche Festsetzung des
Invaliditätsgrades berufsvorsorgerechtlich nicht verbindlich. Hält sich die
Vorsorgeeinrichtung demgegenüber im Rahmen des Verfügten, kommt ohne
Weiterungen die vom Gesetzgeber gewollte, in den Art. 23 ff. BVG zum Ausdruck
gebrachte Verbindlichkeitswirkung des Entscheids der Invalidenversicherung zum
Zuge. Stellt die Vorsorgeeinrichtung auf die invalidenversicherungsrechtliche
Betrachtungsweise ab, muss sich die versicherte Person dies entgegenhalten
lassen, soweit diese für die Festlegung des Anspruchs auf eine Rente
entscheidend war, und zwar ungeachtet dessen, ob die Vorsorgeeinrichtung im
invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren beteiligt war oder nicht; auch hier
bleibt die offensichtliche Unhaltbarkeit der Invaliditätsbemessung durch die
IV-Stelle vorbehalten (SVR 2007 IV Nr. 3 S. 8 E. 3 mit Hinweisen [= I 808/05
vom 9. Juni 2006]).
Eine Verfügung der Invalidenversicherung vermag namentlich dann keine
Bindungswirkung für die Vorsorgeeinrichtungen zu entfalten, wenn der Beginn der
Wartefrist gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG (in der bis 31. Dezember 2007
geltenden Fassung) wegen der vorgängigen Durchführung von
Eingliederungsmassnahmen nicht exakt festgelegt werden musste (vgl. Urteil B 79
/99 vom 26. Januar 2001, E. 6) oder wenn die Invalidenrente auf Grund einer
verspäteten Anmeldung im Sinne des bis 31. Dezember 2007 in Kraft gewesenen
Art. 48 Abs. 2 IVG ausgerichtet wird, da auch diesfalls kein Anlass für die
IV-Stelle besteht, denn Beginn der Arbeitsunfähigkeit genau zu ermitteln
(Urteil B 63/04 vom 28. Dezember 2004, E. 3.1 mit Hinweis; vgl. zum Ganzen auch
HÜRZELER, Invaliditätsproblematiken in der beruflichen Vorsorge, Diss. 2005,
Basel 2006, Rz. 546).

3.
Die Versicherte beanstandet weder die Höhe der zugesprochenen Rente noch den
Beginn der Rentenfestsetzung (1. August 2006). Sie verlangt hingegen, dass der
Eintritt ihrer Invalidität auf den 20. August 2001 festgesetzt wird. Sie
beantragt demnach keine Änderung des (Verfügungs-)Dispositivs, sondern rügt ein
Element der Rentenfestsetzung und damit die Begründung der gewährten Leistung.
Mit der Gutheissung der Beschwerde vom 22. November 2007 würde sich somit an
der zugesprochenen Leistung nichts ändern, weshalb ein schutzwürdiges Interesse
zu verneinen ist.
Die von der Versicherten gewünschte Präzisierung kann auch nicht mit dem
Interesse an einer (sofortigen) Feststellung des Invaliditätseintritts
begründet werden. Denn die Verfügung der IV-Stelle ist diesbezüglich für die
Vorsorgeeinrichtung nicht verbindlich, da der genaue Eintritt der Invalidität
für die Festsetzung des Rentenanspruchs wegen der zuvor durchgeführten
beruflichen Massnahmen nicht entscheidend war (vgl. Urteil B 79/99 vom 26.
Januar 2001, E. 6). Die Verfügung vom 22. Oktober 2007 präjudiziert somit den
Anspruch auf eine Invalidenrente vor dem 1. August 2006 nicht. Entgegen der
Behauptung der Versicherten ist der Verfügung vom 22. Oktober 2007 auch nicht
zu entnehmen, dass der Eintritt der Invalidität frühestens im November 2005
erfolgt sei. Soweit sich die IV-Stelle im Rahmen des kantonalen
Beschwerdeverfahrens dahingehend geäussert hat, besteht mangels
Verfügungscharakters ebenso wenig eine Verbindlichkeit für die
Vorsorgeeinrichtung.
Würde die IV-Stelle verpflichtet, den genauen Eintritt der Invalidität
festzustellen, würden ihr eine Abklärung und die damit allenfalls verbundenen
Kosten übertragen, welche zur Erfüllung ihrer Aufgaben im konkreten Fall gar
nicht notwendig sind. Es ist vielmehr Sache der Vorsorgeeinrichtung, zu prüfen,
ab welchem Zeitpunkt die Versicherte Anspruch auf eine Invalidenrente der
beruflichen Vorsorge hat. So stellt denn das Schreiben der Firma C.________ vom
26. August 2008 entgegen der Ansicht der Versicherten keine Verfügung dar, da
den Vorsorgeeinrichtungen die Kompetenz zum Erlass einer Verfügung abgeht (BGE
115 V 224). Es steht der Versicherten jedoch frei, klageweise eine
Invalidenrente der beruflichen Vorsorge vor dem 1. August 2006 geltend zu
machen. Diesfalls wird das zuständige Gericht zu entscheiden haben, ob gestützt
auf die medizinischen Akten ein solcher Anspruch schon zu einem früheren
Zeitpunkt ausgewiesen ist.
Die Vorinstanz ist somit zu Recht mangels eines schutzwürdigen Interesses auf
die Beschwerde vom 22. November 2007 nicht eingetreten.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende Versicherte hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Januar 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Riedi Hunold