Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.528/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_528/2008

Urteil vom 22. Oktober 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Holzer.

Parteien
B.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Herrn Guido Bürle Andreoli, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn,
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 15. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1961 geborene B.________ meldete sich am 17. März 2003 unter Hinweis auf
ein seit 1973 bestehendes Rückenleiden bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn
an. Nach medizinischen Abklärungen, insbesondere nach Einholung des Gutachtens
der MEDAS vom 25. November 2005, verneinte die IV-Stelle Solothurn mit
Verfügung vom 28. April 2006 und Einspracheentscheid vom 24. Januar 2007 bei
einem Invaliditätsgrad von 37 % einen Anspruch der Versicherten auf eine
Invalidenrente.

B.
Die von B.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 15. Mai 2008 ab.

C.
Mit Beschwerde beantragt B.________ sinngemäss, ihr seien unter Aufhebung des
Einsprache- und des kantonalen Gerichtsentscheides die rechtmässigen
invalidenversicherungsrechtlichen Leistungen zuzusprechen, eventuell seien
weitere medizinische Abklärungen bezüglich des psychischen Gesundheitszustandes
vorzunehmen.

Während die IV-Stelle Solothurn auf Abweisung der Beschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von
der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132
II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das
Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der
Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten
Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist
jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich
stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Da der vorinstanzliche Entscheid nicht Geldleistungen der Unfall- oder der
Militärversicherung betrifft, prüft das Bundesgericht nur, ob das
vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung
oder Missbrauch des Ermessens oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde.

2.
2.1 Der Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung setzt unter anderem
voraus, dass die versicherte Person zu mindestens 40 % invalid ist (Art. 28
IVG). Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende
oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.

2.2 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen ist
die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach
Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil
I 865/06 vom 12. Oktober 2007, E. 3.2).

2.3 Streitig ist der Rentenanspruch der Beschwerdeführerin. Zu prüfen ist
zunächst, ob die Vorinstanz ohne Verletzung von Bundesrecht von einer 70%igen
Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit ausgehen durfte.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat in ausführlicher Würdigung der medizinischen
Akten, insbesondere des Gutachtens der MEDAS vom 25. November 2005 und des sich
darauf beziehenden, nicht datierten, Berichts des RAD-Arztes Dr. med.
A.________ erwogen, dass zur Bemessung der invalidenversicherungsrechtlich
relevanten Arbeitsunfähigkeit von den Einschätzungen des rheumatologischen
MEDAS-Teilgutachtens des Dr. med. M.________ vom 11. August 2005 auszugehen
sei. Insofern im psychiatrischen MEDAS-Teilgutachten des Dr. med. S.________vom
18. August 2005 und im MEDAS-Hauptgutachten vom 25. November 2005 eine
weitergehende psychiatrische Arbeitsunfähigkeit attestiert werde, sei diese
nicht relevant, da sie auf der Diagnose einer Dysthymie (ICD-10: F 34.1)
beruhe.

3.2 Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, gilt im gesamten Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren der Grundsatz der freien
Beweiswürdigung. Obgleich also keine Bindung an förmliche Beweisregeln besteht,
hat die Praxis mit Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und
Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufgestellt (BGE 125 V 351 E. 3
S. 352). Dazu gehört, dass von einem Gutachten, welches alle Anforderungen
hinsichtlich der Beurteilungsgrundlagen und der Begründung erfüllt und das
deshalb als schlüssig und somit beweiswertig einzustufen ist, nur abgewichen
werden darf, wenn besondere Gründe dies rechtfertigen. Das kantonale Gericht
hat in diesem Zusammenhang weiter zutreffend ausgeführt, dass eine psychische
Störung nicht ohne weiteres eine (invalidisierende) Arbeitsunfähigkeit bewirken
muss. Dies gilt insbesondere dann, wenn einzig eine definitionsgemäss
leichtgradige Beeinträchtigung diagnostiziert wird. Nach der im gebräuchlichen
Klassifikationssystem ICD-10 enthaltenen Umschreibung ist Dysthymie eine
chronische depressive Verstimmung, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner
Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen
oder leichten rezidivierenden depressiven Störung zu erfüllen (ICD-10: F 34.1).
Findet sich im Psychostatus nur eine Dysthymie, so kann dies
rechtsprechungsgemäss wohl eine Einbusse an Leistungsfähigkeit mit sich
bringen, kommt aber für sich allein nicht einem Gesundheitsschaden im Sinne des
Gesetzes gleich (Urteil I 649/06 vom 13. März 2007, E. 3.3.1 mit weiteren
Hinweisen). In diesem Sinne hat die Vorinstanz festgestellt, dass die Expertise
der MEDAS zwar an sich uneingeschränkt beweistauglich ist, die Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit jedoch nicht mit dem für die Belange der Invalidenversicherung
massgeblichen Beweisgegenstand übereinstimmt.

3.3 Die Schlussfolgerung, dass eine Dysthymie keine invalidisierende
Arbeitsunfähigkeit bewirken kann, gilt indessen nicht absolut (Urteil I 649/06
vom 13. März 2007, E. 3.3.1 mit weiteren Hinweisen). Auch dieses Leiden kann im
Einzelfall die Arbeitsfähigkeit erheblich beeinträchtigen, wenn sie zusammen
mit anderen Befunden - wie etwa einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung -
auftritt (Urteil I 653/04 vom 19. April 2006, E. 3). Dabei kann allerdings
nicht vorausgesetzt sein, dass sich diese weiteren Befunden für sich alleine
genommen invalidisierend auswirken würden, da sich in solchen Fällen die Frage
der invalidisierenden Wirkung der Dysthymie regelmässig gar nicht mehr stellen
würde. Vielmehr ist zu fragen, ob das Zusammenspiel zwischen der Dysthymie und
den weiteren psychischen Beschwerden, welchen je für sich genommen keine
invalidisierende Wirkung zukommt, eine erhebliche Beeinträchtigung der
Arbeitsfähigkeit bewirkt.

3.4 Das kantonale Gericht hat zur Frage, ob die Beschwerdeführerin neben der
Dysthymie an anderen psychiatrischen Befunden - etwa an einer ernsthaften
Persönlichkeitsstörung leidet - keine Feststellung getroffen. Das kantonale
Gericht hat mithin nicht alle relevanten Tatsachen ermittelt, die zur Anwendung
von Bundesrecht notwendig sind; damit hat es im Sinne von Art. 95 lit. a BGG
Bundesrecht verletzt (BGE 133 IV 293 E. 3.4.2 S. 296). Beruht die
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 BGG, so kann das Bundesgericht sie von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen (Art. 105 Abs. 2 BGG).
3.4.1 Gemäss dem Gutachten der MEDAS vom 25. November 2005 leidet die
Beschwerdeführerin neben ihrem somatischen Leiden an einer Dysthymie auf dem
Boden einer neurotischen Fehlentwicklung bei Trichotillomanie. Dem
MEDAS-Teilgutachten des Dr. med.S.________ vom 18. August 2005 ist zu
entnehmen, dass letzteres zu einer deutlichen Lichtung des Haarbodens im
parietofrontalen Bereich geführt hat. Lic. theol. E.________ (Dipl. Analytische
Psychologin, Psychotherapeutin SPV) diagnostiziert als behandelnde Psychologin
in ihrem Bericht vom 19. Februar 2007 neben der Dysthymie (ICD-10: F 34.1), der
Trichotillomanie (ICD-10: F 63.3) und dem Nägelkauen (ICD-10: F 98.8) auch eine
abhängige Persönlichkeitsakzentuierung (ICD-10: F 60.7) sowie verschiedene
psycho-soziale Belastungsfaktoren. Dieser Bericht wurde zwar erst knapp einen
Monat nach dem Einspracheentscheid verfasst; rechtsprechungsgemäss sind solche
Berichte jedoch in die Beweiswürdigung miteinzubeziehen, soweit sie
Rückschlüsse auf den zeitlich massgebenden Sachverhalt zulassen (vgl. BGE 99 V
102, Urteil I 548/03 vom 21. September 2004).
3.4.2 Dr. med. S.________ diagnostizierte wohl eine nicht näher spezifizierte
"neurotische Fehlentwicklung", im Gegensatz zur behandelnden Psychologin nicht
aber eine Persönlichkeitsstörung im Sinne der Kategorie F 60 der ICD-10. Hiezu
ist indessen festzuhalten, dass gemäss den Klassifikationskriterien der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur ICD-10 ein einzelnes Interview zur
Diagnosenstellung eines solchen Leidens in der Regel nicht ausreicht (vgl.
DILLING/ FREYBERGER (Hrsg.), Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation
psychischer Störungen, 3. Aufl. Bern 2006, S. 221 und S. 230), der Gutachter
mithin lege artis gar keine solche Störung diagnostizieren durfte. Somit kann
nicht gesagt werden, es bestehe ein Widerspruch zwischen der Einschätzung des
Gutachters und der späteren Diagnose der behandelnden Psychologin.
3.4.3 Aufgrund der medizinischen Aktenlage steht fest, dass die
Beschwerdeführerin nicht nur an einer Dysthymie leidet, sondern dass weitere
nicht unerhebliche psychiatrische Normabweichungen bestehen. Es ist indessen
nicht mit dem notwendigen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
erstellt, dass diese weiteren Fehlentwicklungen die sich aus der Dysthymie
ergebenden Einschränkungen als ausnahmsweise unüberwindbar erscheinen zu
lassen. Da jedoch von weiteren Abklärungen noch neue Erkenntnisse zu erwarten
sind, ist die Sache unter Aufhebung des Einsprache- und des kantonalen
Gerichtsentscheides an die IV-Stelle zu Ergänzung des Sachverhaltes
zurückzuweisen. Sie wird durch eine psychiatrische Fachperson abzuklären haben,
ob - und wenn ja inwieweit - die Dysthymie im Zusammenspiel mit den weiteren
nicht unerheblichen psychiatrischen Normabweichungen die Versicherte in
invalidenversicherungsrechtlich relevanter Weise in der Arbeitsfähigkeit
einschränkt. Anschliessend wird die IV-Stelle über den Rentenanspruch der
Beschwerdeführerin neu zu entscheiden haben.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese
hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu entrichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Solothurn vom 15. Mai 2008 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle
des Kantons Solothurn vom 24. Januar 2007 werden aufgehoben. Es wird die Sache
an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückgewiesen, damit sie nach weiteren
Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Rentenanspruch der
Beschwerdeführerin neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Oktober 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Holzer