Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.515/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_515/2008

Urteil vom 23. März 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Parteien
K.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Elsbeth Aepli,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
7. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
K.________, geboren 1955, schloss 1981 die Gipserlehre ab und war seit 1985
selbstständigerwerbend als Gipser und Generalunternehmer tätig. Wegen seit
April 1998 anhaltender Rückenbeschwerden meldete er sich am 13. Juli 2000 bei
der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Zur beruflichen Abklärung weilte
der Versicherte vom 20. Oktober bis 14. November 2003 sowie vom 30. August bis
29. Oktober 2004 in der Abklärungs- und Ausbildungsstätte X.________. Von
Dezember 2004 bis Dezember 2006 liess er sich durch die Invalidenversicherung
zum Polymechaniker (CNC [Computerized Numerical Control] Bediener und
Programmierer) umschulen. Am 11. Juli 2007 verfügte die IV-Stelle, dass der
Versicherte nach erfolgreichem Abschluss der beruflichen Massnahmen bei einem
ermittelten Invaliditätsgrad von 17% rentenausschliessend eingegliedert sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des K.________ wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau mit Entscheid vom 7. Mai 2008 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt K.________
beantragen, ihm sei unter Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheides mit
Wirkung ab Dezember 2006 (nach Durchführung der beruflichen Massnahmen) eine
halbe Invalidenrente zuzusprechen. Gleichzeitig ersucht er für das
letztinstanzliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung.

Während IV-Stelle und Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliessen,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und ist somit weder
an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der
Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem
angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation
der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S.
140). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen und
ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden
rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr
vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Auf der nicht medizinischen beruflich-erwerblichen Stufe der
Invaliditätsbemessung charakterisieren sich als frei überprüfbare Rechtsfragen
namentlich die gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über die
Durchführung des Einkommensvergleichs (BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348 f.; 128 V 29
E. 1 S. 30 f.; 104 V 135 E. 2a und b S. 136 f.), einschliesslich derjenigen
über die Anwendung der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen
schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE; BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 ff.;
124 V 321 E. 3b/aa S. 322 f.). In dieser Sicht stellt sich die Festsetzung der
beiden hypothetischen Vergleichseinkommen (Einkommen, welches die versicherte
Person ohne Gesundheitsschädigung hätte erzielen können [Valideneinkommen];
Einkommen, welches sie trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch zu
erzielen vermöchte [Invalideneinkommen]) als Tatfrage dar, soweit sie auf
konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der
Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet (BGE 132 V 393 E. 3.3 S.
399; Urteil 8C_255/2007 vom 12. Juni 2008 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 134 V
322).

2.
Da die streitige Verfügung vom 11. Juli 2007 datiert, sind die am 1. Januar
2008 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 6. Oktober 2006 und der IVV vom
28. September 2007 (5. IV-Revision) nicht anwendbar (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S.
220). Bei den nachfolgend zitierten Bestimmungen handelt es sich demnach um die
bis Ende 2007 gültig gewesenen Fassungen.

3.
Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer seit Abschluss der Umschulung im
Dezember 2006 bei voller Arbeitsfähigkeit im Bereich mechanische Produktion des
Ausbildungszentrums Y.________ erwerbstätig ist und dabei einen
Jahresbruttolohn von Fr. 62'400.- (Invalideneinkommen) erzielte.

4.
Strittig ist einzig die Höhe des Valideneinkommens. Während der Versicherte
sein hypothetisches Einkommen ohne Gesundheitsschaden auf Fr. 125'000.-
beziffert, so dass er bei einem Invaliditätsgrad von 50,08% Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente habe, ging die IV-Stelle mit vorinstanzlich bestätigter
Verfügung vom 11. Juli 2007 von einem Validenlohn von Fr. 75'537.- aus, welcher
verglichen mit dem unbestrittenen Invalideneinkommen keine anspruchsbegründende
Erwerbseinbusse von mindestens 40% zur Folge habe.

4.1 Das Valideneinkommen ist dasjenige Einkommen, das die versicherte Person
erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG, Art. 28
Abs. 2 IVG). Für die Ermittlung des Valideneinkommens ist rechtsprechungsgemäss
entscheidend, was die versicherte Person im Zeitpunkt des frühestmöglichen
Rentenbeginns nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als
Gesunde tatsächlich verdienen würde, und nicht, was sie bestenfalls verdienen
könnte (BGE 131 V 51 E. 5.1.2 S. 53; Urteil 9C_560/2008 vom 12. Dezember 2008
E. 3.1 mit Hinweis). Die Einkommensermittlung hat so konkret wie möglich zu
erfolgen. Da nach empirischer Feststellung in der Regel die bisherige Tätigkeit
im Gesundheitsfall weitergeführt worden wäre, ist Anknüpfungspunkt für die
Bestimmung des Valideneinkommens grundsätzlich der letzte vor Eintritt der
Gesundheitsschädigung erzielte, nötigenfalls der Teuerung und der realen
Einkommensentwicklung angepasste Verdienst (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325, 129 V
222 E. 4.3.1 S. 224 mit Hinweisen). Angesichts der in Art. 25 Abs. 1 IVV
vorgeschriebenen Parallelisierung der IV-rechtlich massgebenden hypothetischen
Vergleichseinkommen mit den AHV-rechtlich beitragspflichtigen Einkommen kann
das Valideneinkommen von Selbstständigerwerbenden grundsätzlich auf Grund der
IK-Einträge bestimmt werden (Urteil 8C_576/2008 vom 10. Februar 2009 E. 6.2 mit
Hinweisen). Weist das bis Eintritt der Invalidität erzielte Einkommen starke
und verhältnismässig kurzfristig in Erscheinung getretene Schwankungen auf, ist
dabei auf den während einer längeren Zeitspanne erzielten
Durchschnittsverdienst abzustellen (ZAK 1985 S. 464 E. 2c, I 370/84; vgl. auch
AHI 1999 S. 237 E. 3b, I 377/98, mit Hinweisen; Urteil 8C_576/2008 vom 10.
Februar 2009 E. 6.2).

4.2 Das mit angefochtenem Entscheid bestätigte und von der IV-Stelle ermittelte
Valideneinkommen von Fr. 75'537.- beruht auf den von der kantonalen
Steuerverwaltung an die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau gemeldeten
Einkommen des Beschwerdeführers aus selbstständiger Erwerbstätigkeit in den
Jahren 1994 bis 1998. Zu diesen fünf Jahreseinkommen addierte die Verwaltung
die jeweiligen persönlichen AHV-Beiträge der entsprechenden Jahre und passte
die daraus resultierenden Ergebnisse der seither eingetretenen
Nominallohnentwicklung an. Aus den fünf Beträgen der Jahre 1994 bis 1998
errechnete die IV-Stelle den Durchschnittswert von Fr. 75'537.-. Im Vergleich
dazu betrug das durchschnittliche AHV-pflichtige Einkommen des Versicherten in
den Jahren 1994 bis 1998 gemäss Auszug vom 23. April 2007 aus dem individuellen
Konto nur Fr. 66'825.-.

4.3 Seit dem Vorbescheidsverfahren lässt der Beschwerdeführer geltend machen,
das Valideneinkommen sei nicht auf der Basis des gegenüber den Steuer- und
AHV-Behörden deklarierten Einkommens, sondern nach dem in den Erfolgsrechnungen
ausgewiesenen Cash Flow zu ermitteln. Selbst ein unselbstständiger
Gipser-Vorarbeiter hätte 2007 laut massgebendem Gesamtarbeitsvertrag bereits
einen Minimallohn von Fr. 71'318.- verdient. Sowohl mit Blick auf die über eine
Jahreslohnsumme von Fr. 96'000.- abgeschlossene Krankentaggeldversicherung als
auch auf Grund des notwendigen Bedarfs zur existenzsichernden Aufwanddeckung
für sich und seine Familie mit acht Kindern sei klar, dass er als Gesunder ein
Jahreseinkommen von mindestens Fr. 100'000.- habe erwirtschaften müssen.

4.4 Bereits mit Verfügung vom 11. Juli 2007 legte die IV-Stelle nachvollziehbar
und überzeugend dar, weshalb das Valideneinkommen nicht nach Massgabe des Cash
Flows zu bestimmen ist. Der Beschwerdeführer setzte sich mit der entsprechenden
Begründung im vorinstanzlichen Verfahren nicht auseinander und unterliess es,
im Einzelnen substantiiert zu rügen, inwiefern die Sachverhaltsfeststellungen
zum Valideneinkommen gemäss Verfügung vom 11. Juli 2007 konkret tatsachenwidrig
oder sonstwie rechtsfehlerhaft seien. Statt dessen brachte der Versicherte mit
Replik vom 23. November 2007 im kantonalen Verfahren hinsichtlich der von der
Verwaltung bei der Bestimmung des Valideneinkommens zu Grunde gelegten Faktoren
lediglich in pauschaler Weise zum Ausdruck, er könne "beim besten Willen nicht
nachvollziehen, welches nun die 'richtigen' Zahlen sein" sollten. Entgegen
dieser Behauptung vermochte sich der Beschwerdeführer im letztinstanzlichen
Verfahren dann doch mit den von der IV-Stelle herangezogenen Grundlagen des
Valideneinkommens auseinanderzusetzen. Denn ohne dass der angefochtene
Entscheid hiezu Anlass gab oder zwischenzeitlich diesbezüglich neue
Beweismittel zu den Akten gelegt worden wären, nahm er - erstmals vor
Bundesgericht - zu den von Anfang an klar dokumentierten, von der Verwaltung
bei der Ermittlung des Valideneinkommens konkret berücksichtigten Zahlen
Stellung. Dabei rügte er zum einen, die IV-Stelle habe nicht beachtet, dass das
von der Steuerverwaltung für das Jahr 1994 gemeldete Einkommen aus
selbstständiger Erwerbstätigkeit vom entsprechenden Wert gemäss
Veranlagungsprotokoll abweiche. Zum andern sei bei den für die folgenden Jahre
gemeldeten Einkommen jeweils der Betrag von Fr. 30'000.- zu addieren, weil die
Steuerbehörde entsprechende Abschreibungen auf der als Geschäftsvermögen
deklarierten Liegenschaft gemäss Veranlagungsprotokoll nicht zugelassen,
sondern letztere dem Privatvermögen zugewiesen habe. Bei diesen beiden,
erstmals im letztinstanzlichen Verfahren vorgebrachten Rügen handelt es sich um
neue tatsächliche Behauptungen, welche nach Massgabe des Novenverbots von Art.
99 Abs. 1 BGG unzulässig sind, zumal der Versicherte nicht darlegt, dass erst
der angefochtene Entscheid zu diesen Vorbringen Anlass gegeben habe. Auf die
neu vor Bundesgericht geäusserten Tatsachenvorbringen, welche der stets
anwaltlich vertretene Beschwerdeführer ohne weiteres im kantonalen Verfahren
hätte geltend machen können, ist nicht einzugehen.

4.5 Obwohl der angefochtene Entscheid in der Tat sehr knapp gehalten ist, hat
er sich doch in ausreichendem Masse mit den kaum substantiiert gegen die
Verwaltungsverfügung vom 11. Juli 2007 erhobenen Rügen laut vorinstanzlicher
Beschwerdeschrift und Replik auseinander gesetzt. Von einer Verweigerung des
rechtlichen Gehörs kann unter den gegebenen Umständen keine Rede sein,
beschränkt sich der Versicherte doch auch letztinstanzlich bei dieser
Beanstandung auf die tatsachenwidrige Behauptung, dass das Valideneinkommen auf
aktenmässig nicht nachvollziehbaren Grundlagen basiere. Anhaltspunkte für eine
Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 Abs. 1 lit. c ATSG; vgl. Art.
43 ATSG) sind - entgegen dem Beschwerdeführer - nicht auszumachen.

4.6 Die schliesslich über weite Strecken appellatorische Kritik des
Versicherten am angefochtenen Entscheid ändert nichts daran, dass Verwaltung
und Vorinstanz das Valideneinkommen weder offensichtlich unrichtig noch
sonstwie rechtsfehlerhaft festgestellt haben. Demnach ist die vorinstanzlich
bestätigte Verneinung des Anspruchs auf eine Invalidenrente gemäss Verfügung
der IV-Stelle vom 11. Juli 2007 nicht zu beanstanden.

5.
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist,
die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch
einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2
BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht,
wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird,
wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Elsbeth Aepli wird als unentgeltliche Anwältin des
Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. März 2009

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Hochuli