Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.500/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_500/2008

Urteil vom 11. Februar 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Parteien
L.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Rudolf Gautschi,

gegen

Basler Versicherungs-Gesellschaft, Aeschengraben 21, 4051 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
26. März 2008.

Sachverhalt:

A.
L.________, geboren 1945, war vom 1. Juni 2000 bis Ende September 2007 als
Zahnarztgehilfin mit einem 60%-Pensum angestellt von der Zahnärztin Dr. med.
dent. M.________. In dieser Eigenschaft war sie bei der Basler
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Basler oder Beschwerdegegnerin) gegen
die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Mit
Bagatellunfall-Meldung vom 26. April 2007 liess die Versicherte durch ihre
Arbeitgeberin melden, dass sie sich am 21. April 2007 infolge ihres
arthrosebedingten motorischen Handicaps an den Händen eine schwere Suppen-Tasse
gegen die Zähne der Oberkiefer-Front geschlagen und dabei aus Porzellan
gefertigte Frontzähne der Oberkiefer-Brücke frakturiert habe. Mit Verfügung vom
29. Mai 2007, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 28. August 2007, lehnte
die Basler eine Leistungspflicht nach UVG ab, weil der Unfallbegriff nicht
erfüllt sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der L.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. März 2008 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt L.________ unter
Aufhebung des angefochtenen Gerichts- und des Einspracheentscheides den Ersatz
der unfallbedingten Zahnbehandlungskosten beantragen.

Während die Basler auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht prüft
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu
untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es
kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem
Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht
und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2 Strittig ist, ob die Beschwerdeführerin mit Blick auf die Folgen des
Ereignisses vom 21. April 2007 Anspruch auf Leistungen nach Art. 10 UVG
(Heilbehandlung) und/oder Art. 12 UVG (Sachschäden) hat. Betrifft der Streit
somit einzig Sachleistungen (Art. 14 ATSG) und nicht Geldleistungen der
Unfallversicherung (RUDOLF URSPRUNG/PETRA FLEISCHANDERL, Die Kognition des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts nach dem Bundesgesetz über das
Bundesgericht [BGG], in: Festschrift 100 Jahre Aargauischer Anwaltsverband,
Zürich 2005, S. 415 ff., S. 428), prüft das Bundesgericht nur (vgl.
demgegenüber zur Kognition bei strittigen Geldleistungen der Militär- oder
Unfallversicherung Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG), ob das
vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung
oder Missbrauch des Ermessens oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Urteil 8C_818/2007 vom 6. August
2008 E. 1.2).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den
Unfallbegriff nach Art. 4 ATSG sowie insbesondere zum Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit (vgl. die zu dem [mit Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003
ersatzlos aufgehobenen] Art. 9 Abs. 1 UVV ergangene, weiterhin geltende
Rechtsprechung: BGE 122 V 230 E. 1 S. 233 mit Hinweisen; zu Art. 4 ATSG: RKUV
2004 Nr. U 530 S. 576, U 123/04 E.1.2) richtig dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

3.
Nach Lehre und Rechtsprechung kann das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren
Faktors in einer unkoordinierten Bewegung bestehen (RKUV 2000 Nr. U 368 S. 99,
U 335/98 E. 2d mit Hinweisen; MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht,
Bern 1985, S. 176 f.). Bei Körperbewegungen gilt dabei der Grundsatz, dass das
Erfordernis der äusseren Einwirkung lediglich dann erfüllt ist, wenn ein in der
Aussenwelt begründeter Umstand den natürlichen Ablauf einer Körperbewegung
gleichsam "programmwidrig" beeinflusst hat. Bei einer solchen unkoordinierten
Bewegung ist der ungewöhnliche äussere Faktor zu bejahen; denn der äussere
Faktor - Veränderung zwischen Körper und Aussenwelt - ist wegen der erwähnten
Programmwidrigkeit zugleich ein ungewöhnlicher Faktor (BGE 130 V 117 E. 2.1 S.
118; RKUV 1996 Nr. U 253 S. 199, U 219/95 E. 4c, 1994 Nr. U 180 S. 37, U 109/92
E. 2 mit Hinweisen; Urteil U 322/02 vom 7. Oktober 2003 E. 2.2; vgl. auch
ADRIAN VON KAENEL, Unfall am Arbeitsplatz, in: Peter Münch/Thomas Geiser
[Hrsg.], Handbücher für die Anwaltspraxis, Band V, Schaden - Haftung -
Versicherung, Basel 1999, S. 584 f.).

4.
4.1 Vorinstanz und Verwaltung verneinten die Ungewöhnlichkeit des äusseren
Faktors und somit die Erfüllung des Unfallbegriffes (Art. 4 ATSG) mit der
Begründung, die unkoordinierte Bewegung, welche beim üblichen Trinkvorgang des
Zum-Mund-Führens einer Tasse aufgetreten sei und zum Anprallen der Tasse an den
Frontzähnen des Oberkiefers geführt habe, überschreite im Lebensbereich der
seit längerer Zeit krankheitsbedingt an motorischen Ausfällen leidenden
Versicherten das Alltägliche oder Übliche nicht. Etwas Programmwidriges wie ein
Stolpern, Anstossen oder Ausrutschen sei nicht geschehen; ungewöhnlich sei
höchstens die Wirkung des Anschlagens der Tasse an den Frontzähnen gewesen.
Praxisgemäss sei daher mit Blick auf das Ereignis vom 21. April 2007 das für
die Bejahung des Unfallbegriffs unter anderem vorausgesetzte Element der
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors nicht erfüllt, weshalb kein Anspruch auf
Leistungen nach UVG bestehe.

4.2 In tatsächlicher Hinsicht hat das kantonale Gericht für das
letztinstanzliche Verfahren grundsätzlich verbindlich (E. 1.2 hievor)
festgestellt, dass die Beschwerdeführerin schon seit Sommer 2006 an einem
komplexen regionalen Schmerzsyndrom im Stadium III an der rechten Hand leidet,
dass infolge der schweren Arthrose an den Händen ständig motorische Ausfälle
auftreten und dass es aus diesem Grund am 21. April 2007 bei einem motorischen
Ausfall zu einer unkoordinierten Bewegung kam, anlässlich welcher sich die
Versicherte während eines Trinkversuches eine Suppentasse gegen die Frontzähne
des Oberkiefers schlug und dabei einen Zahn frakturierte. Es steht somit fest,
dass der krankhafte Zustand der Beschwerdeführerin Voraussetzung war für die
plötzliche und nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung auf den menschlichen
Körper (vgl. Art. 4 ATSG).

4.3 Als Krankheit im Rechtssinne gelten nur Gesundheitsbeeinträchtigungen, die
nicht Folgen eines Unfalles (mit Einschluss der unfallähnlichen
Körperschädigungen; Art. 6 Abs. 2 UVG) sind (Art. 3 Abs. 1 ATSG; vgl. UELI
KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 20 zu Art. 3 ATSG). An die
Unterscheidung von Unfall und Krankheit knüpft das Sozialversicherungsrecht
unterschiedliche Rechtsfolgen an, namentlich eine Abgrenzung der
Leistungspflicht von Unfall- und Krankenversicherer (Urteil 9C_537/2007 vom 29.
August 2008 E. 3.3 mit Hinweisen). Von Krankheiten ermöglichte oder doch
begünstigte Unfälle sind nicht von der Deckung der obligatorischen
Unfallversicherung ausgeschlossen (ALFRED MAURER, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 179 f. mit Hinweisen auf die
Rechtsprechung). Schädel-Hirntraumen als Folgen epileptisch bedingter Stürze
stellen beispielsweise auch im Wiederholungsfall Unfallfolgen dar (vgl.
Sachverhalt von BGE 130 V 39). Soweit Verwaltung und Vorinstanz die
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors mit der Begründung verneinten, bei der
Versicherten, welche krankheitsbedingt ständig an motorischen Ausfällen leide,
übersteige die den Schaden verursachende unkoordinierte Bewegung vom 21. April
2007 das für die Beschwerdeführerin Alltägliche und Übliche nicht, würde diese
Auffassung auf eine Diskriminierung (Art. 8 Abs. 2 BV) von obligatorisch gegen
Unfall versicherten behinderten Personen hinauslaufen, welche wegen ihrer
Behinderung ein höheres Unfallrisiko verkörpern (vgl. EVGE 1964 S. 8 E. 2 i.f.)
als Versicherte ohne Behinderung. Die individuellen Fähigkeiten sind jedoch
nach der Lehre kein massgebendes Kriterium für die - sich nach objektiven
Gesichtspunkten richtende - Bejahung oder Verneinung der Ungewöhnlichkeit (BGE
134 V 72 E. 4.2.3 S. 79 mit Hinweisen). Die von der Basler und dem kantonalen
Gericht angeführte Begründung, die Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors sei
deshalb zu verneinen, weil die unkoordinierten Bewegungen bei der
Beschwerdeführerin behinderungsbedingt häufig auftreten würden, verletzt
demnach Bundesrecht.

5.
5.1 Verwaltung und Vorinstanz verneinten im Übrigen die Erfüllung des
Unfallbegriffs gestützt auf die Rechtsprechung, wonach das - auch mit einer
gewissen Heftigkeit erfolgte - Anschlagen eines Trinkglases an einen
Schneidezahn als solches einen alltäglichen Vorgang darstellt, weshalb die
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors bei Fehlen einer Programmwidrigkeit (z.B.
im Sinne eines Stolperns, Anstossens oder Ausrutschens) praxisgemäss zu
verneinen ist (RKUV 1996 Nr. U 243 S. 137, U 157/95).

5.2 Der dem eben genannten Urteil zu Grunde liegende Sachverhalt ist jedoch
nicht mit dem hier zu beurteilenden zu vergleichen. Im Falle von RKUV 1996 Nr.
U 243 S. 137 war der natürliche Bewegungsablauf des Zum-Mund-Führens eines
Trinkglases ohne äussere Einwirkung insoweit programmgemäss erfolgt, als erst
beim Ansetzen des Glasrandes dieser statt auf die Unterlippe an einen Frontzahn
stiess, wobei ein Stücklein Zahn abbrach. Im Gegensatz dazu geriet die Hand der
Versicherten am 21. April 2007 beim Versuch, aus einer Suppentasse zu trinken,
infolge des erstellten krankheitsbedingten motorischen Ausfalles im Sinne einer
Programmwidrigkeit des Bewegungsablaufes derart ausser Kontrolle, dass sich die
Beschwerdeführerin die Suppentasse bei der entsprechend unkoordinierten
Bewegung gegen ihre Frontzähne schlug und dabei einen Porzellanzahn
frakturierte. Auf diesen Sachverhalt ist RKUV 1996 Nr. U 243 S. 137 nicht
anwendbar, weil der Bewegungsablauf beim Ereignis vom 21. April 2007
behinderungsbedingt ausser Kontrolle geriet und programmwidrig in eine
unkoordinierte Bewegung mündete, welche zur schädigenden Einwirkung (Schlag der
Suppentasse gegen die Frontzähne des Oberkiefers) führte. Eine
Programmwidrigkeit im natürlichen Bewegungsablauf ist mit Blick auf die hier
zur Diskussion stehende unkoordinierte Bewegung vom 21. April 2007 praxisgemäss
zu bejahen, weshalb - nach objektiven Gesichtspunkten beurteilt (E. 4.3 hievor)
- die Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors nicht verneint werden kann.

5.3 Nach dem Gesagten haben Verwaltung und Vorinstanz unter den gegebenen
Umständen die Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors und damit die Erfüllung des
Unfallbegriffes zu Unrecht verneint. Hat die Beschwerdeführerin am 21. April
2007 einen Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG erlitten, so hat die Basler hiefür
die gesetzlichen Leistungen nach UVG zu erbringen.

6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE
133 V 642 E. 5). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 26. März 2008 und der Einspracheentscheid der Basler
Versicherungs-Gesellschaft vom 28. August 2007 werden aufgehoben. Es wird die
Sache an die Basler Versicherungs-Gesellschaft zurückgewiesen, damit sie über
den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Leistungen nach UVG für die Folgen des
Unfalles vom 21. April 2007 neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Februar 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Hochuli