Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.474/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_474/2008

Urteil vom 4. Dezember 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Jancar.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Felix Schmid, Oberer Graben 42, 9000 St.
Gallen.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 8. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1959 geborene M.________ war seit 1. April 1990 zu 100 % bei der Firma
J.________ AG angestellt. Mit Verfügung vom 22. Januar 2001 sprach ihr die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen ab 1. Januar 2001 eine ganze Invalidenrente zu
(Invaliditätsgrad 75 %). Sie stützte sich auf das Gutachten des ärztlichen
Begutachtungsinstitutes X.________ vom 28. August 2000. Revisionsweise zog die
IV-Stelle diverse Arztberichte und ein Gutachten des ärztlichen
Begutachtungsinstitutes X.________ vom 26. Juni 2006 bei. Mit Verfügung vom 14.
November 2006 setzte sie die bisherige ganze Invalidenrente ab 1. Januar 2007
auf eine halbe Invalidenrente (Invaliditätsgrad 58 %) herab. Mit Verfügung vom
29. Januar 2007 verneinte sie den Anspruch auf Arbeitsvermittlung.

B.
Gegen die Verfügung vom 14. November 2006 erhob die Versicherte beim
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Beschwerde mit dem Antrag, es sei
ihr weiter eine ganze Rente auszurichten. Die IV-Stelle beantragte, es sei
festzustellen, dass ihr ab 1. Januar 2007 eine Dreiviertelsrente bei einem
Invaliditätsgrad von 60 % zustehe (Verfahren IV 2006/295). Gegen die Verfügung
vom 29. Januar 2007 erhob die Versicherte ebenfalls Beschwerde (Verfahren IV
2007/92). Am 9. Mai 2007 vereinigte das kantonale Gericht die Verfahren. Mit
Entscheid vom 8. Mai 2008 hiess es die Beschwerde im Verfahren IV 2006/295 gut
und stellte fest, die Versicherte habe weiterhin Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente. Die Beschwerde im Verfahren IV 2007/92 (berufliche Massnahmen)
schrieb es als gegenstandslos ab.

C.
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des kantonalen Entscheides
und Bestätigung der Verfügung vom 14. November 2006; eventuell sei
festzustellen, dass die Versicherte ab 1. Januar 2007 Anspruch auf eine
Dreiviertelsrente habe; subeventuell sei die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie den Invaliditätsgrad bei einer Arbeitsfähigkeit von
50 % in einer leidensangepassten Tätigkeit neu festlege. Sie legt neu diverse
Akten auf.

Die Versicherte schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei, und ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt Gutheissung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht prüft
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden.
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den
Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Dies ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde zu prüfen (nicht publ. E. 1.2 und 2.2
des Urteils BGE 133 V 640, veröffentlicht in SVR 2008 AlV Nr. 12 S. 35). Das
Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107
Abs. 1 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die bisherige ganze Invalidenrente der
Versicherten ab 1. Januar 2007 herabzusetzen ist. Die Vorinstanz hat die
Bestimmungen und Grundsätze über die Rentenrevision (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art.
87 Abs. 3 IVV; BGE 133 V 108, 545, 130 V 343 E. 3.5 S. 349) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Nach Art. 82 Abs. 1 erster Satz ATSG sind
materielle Bestimmungen dieses Gesetzes unter anderem auf die bei seinem
Inkrafttreten laufenden Leistungen nicht anwendbar (BGE 130 V 445 E. 1.2.1 f.
S. 446 f.). Da die Versicherte die ganze Rente am 1. Januar 2003 (Inkrafttreten
des ATSG) bereits bezog, sind an sich die davor geltenden rechtlichen
Bestimmungen massgebend. Doch zeitigt diese übergangsrechtliche Lage keine
materiellrechtlichen Folgen, da das ATSG hinsichtlich der Invaliditätsbemessung
keine Änderungen gegenüber der bis zum 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Rechtslage gebracht hat (BGE 130 V 343, 393; Urteil 8C_285/2008 vom 14. Juli
2008, E. 2.3 mit Hinweis).

3.
Die aufgrund medizinischer Untersuchungen gerichtlich festgestellte Arbeits(un)
fähigkeit ist Entscheidung über eine Tatfrage. Soweit hingegen die Beurteilung
der Zumutbarkeit von Arbeitsleistungen auf die allgemeine Lebenserfahrung
gestützt wird, geht es um eine Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 f.).
Die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach
Art. 43 Abs. 1 bzw. Art. 61 lit. c ATSG ist Rechtsfrage. Die konkrete und die
antizipierte Beweiswürdigung betreffen Tatfragen (Urteil 8C_782/2008 vom 24.
Oktober 2008, E. 3.4 mit Hinweisen).

4.
Die IV-Stelle legt letztinstanzlich neu die von der ärztlichen
Begutachtungsinstitut X.________ im Rahmen der Begutachtung vom 26. Juni 2006
erstellten Laborberichte auf. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit
vorgebracht werden, als der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99
Abs. 1 BGG). Soweit mit diesen Laborberichten lediglich die bereits im
Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstitutes X.________ auftgeführten
Laborwerte bestätigt werden, handelt es sich nicht um neue Tatsachen. Im
Übrigen legt die IV-Stelle aber nicht dar, dass ihr die Beibringung dieser
Akten vorinstanzlich prozessual unmöglich und objektiv unzumutbar war, weshalb
sie unbeachtlich sind (vgl. Urteil 8C_782/2008 vom 24. Oktober 2008, E. 2).

5.
5.1 Die Vorinstanz hat ausgeführt, im Gutachten des ärztlichen
Begutachtungsinstitutes X.________ vom 26. Juni 2006 habe der psychiatrische
Gutachter Dr. med. G._________ Folgendes ausgeführt: Die Versicherte leide nach
wie vor unter Schmerzen, fühle sich verlassen, von niemandem unterstützt.
Dieses Gefühl der Verlassenheit dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass
ihre Mutter wenige Stunden nach der Geburt gestorben sei und sie in ihrer
frühen Kindheit die notwendige Unterstützung und Geborgenheit vermisst habe.
Das Gefühl des Verlassenseins habe sie während Jahren durch ihre Leistungen für
ihre Familie kompensieren können. Sie habe hohe narzisstische Gratifikationen
aus ihrer Aufopferung für ihre Familie bezogen. In Folge der zunehmenden
Erschöpfung, der sich entwickelnden Depression sei sie dazu immer weniger in
der Lage gewesen. Das Gefühl des Verlassenseins habe sich durch den Tod ihres
Vaters im Jahre 2005 verstärkt. Die psychiatrische Behandlung habe wenig am
depressiven Zustandsbild geändert. Allerdings nehme die Versicherte entgegen
ihren Behauptungen die verordneten Antidepressiva nicht ein, wie die
Blutserumkontrolle gezeigt habe. Sie selber scheine sich also nicht als
depressiv einzuschätzen. Die depressiven Verstimmungen hätten sich somit im
Vergleich zum Jahr 2000 zurückgebildet. Aus psychiatrischer Sicht sei die
Versicherte zu mindestens 50 % arbeitsfähig.

Bezüglich dieser Darlegungen des Dr. med. G._________ hat die Vorinstanz weiter
erwogen, der als zentral betrachtete, in Bezug auf die Antidepressiva tiefe
Blutserumspiegel erscheine nicht als tauglich für den Beweis, die Versicherte
nehme die Medikamente nicht ein. Daher könne allein gestützt auf das Ergebnis
der Blutuntersuchung erst recht keine Verbesserung der psychischen Erkrankung
konstruiert werden. Zudem sei zu beachten, dass der Blutserumspiegel bei der
Begutachtung im Jahre 2000 offenbar gar nicht gemessen worden sei, weshalb die
Ergebnisse der Blutuntersuchung im Jahre 2006 ohnehin keine Rückschlüsse auf
eine Verbesserung zuliessen. Weitere Argumente für eine Verbesserung des
psychischen Zustandes lieferten die Gutachter des ärztlichen
Begutachtungsinstitutes X.________ nicht. Im Gegenteil werde im Gutachten des
ärztlichen Begutachtungsinstitutes X.________ vom 26. Juni 2006 darauf
hingewiesen, die als (zumindest mit-)ursächlich betrachtete Problematik des
Sich-verlassen-Fühlens der Versicherten habe sich durch den Tod ihres Vaters im
Jahre 2005 verstärkt. Zudem habe sich nach der Trennung vom Ehemann im Jahre
2005 die gemeinsame ältere Tochter von der Versicherten abgewendet, was ihr
offenbar ebenfalls zu schaffen gemacht habe. Mit dem Zerfall ihrer Familie habe
sie wohl weitgehend auf die im Gutachten des ärztlichen Begutachtungsinstitutes
X.________ des Jahres 2006 erwähnten verbleibenden narzisstischen
Gratifikationen verzichten müssen, die sie aus der Aufopferung für ihre Familie
bezogen habe. Der Hausarzt Dr. med. N.________, Facharzt FMH für
Allgemeinmedizin, habe im Schreiben vom 12. Dezember 2006 darauf hingewiesen,
dass die ältere Tochter der Versicherten schwer erkrankt sei, was sich
erheblich auf ihren Gesundheitszustand auswirke. Der behandelnde Psychiater Dr.
med. M.________ habe im Bericht vom 24. September 2005 ausgeführt, der
Gesundheitszustand der Versicherten habe sich nicht gebessert. Sie wirke
resigniert, hilflos. Er sehe die Prognose ungünstig; es sei keine ins Gewicht
fallende Besserung zu erwarten. Gestützt auf diese Feststellungen führte die
Vorinstanz aus, insgesamt lieferten die Akten keine Hinweise auf eine
überwiegend wahrscheinliche wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes
seit dem Jahr 2000. Bei der Beurteilung des Dr. med. G._________ im Gutachten
des ärztlichen Begutachtungsinstitutes X.________ vom 26. Juni 2006 handle es
sich lediglich um eine von der ursprünglichen Einschätzung im Gutachten des
ärztlichen Begutachtungsinstitutes X.________ vom 28. August 2000 abweichende
Würdigung des psychischen Gesundheitszustandes. Demnach seien die
Voraussetzungen für eine Rentenrevision nicht gegeben, weshalb die Versicherte
weiter Anspruch auf eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 75
% habe.

5.2 IV-Stelle und BSV machen im Wesentlichen geltend, auf Grund des Gutachtens
des ärztlichen Begutachtungsinstitutes X.________ vom 26. Juni 2006 sei in
tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand der
Versicherten verbessert habe und sie in der Lage sei, eine 50%ige
Arbeitsleistung zu erbringen. Bei dieser Begutachtung hätten nur noch leichte
Zeichen einer Depression festgestellt werden können, was durch das Ergebnis der
aktuellen Blutanalyse plausibilisiert worden sei.

6.
Erstellt und unbestritten ist, dass im Rahmen der Begutachtung des ärztlichen
Begutachtungsinstituten X.________ vom 26. Juni 2006 im gemessenen
Blutserumspiegel der Versicherten die Antidepressiva Saroten und Anfranil nicht
nachweisbar waren. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass unterschiedliche
Resorption, raschere Verstoffwechselung oder Non-Responder-Einflüsse die
Aussagekraft einer einmaligen Blutuntersuchung herabsetzen können. Trotzdem
liefern Untersuchungen des Medikamentenspiegels in Ergänzung zu Anamnese und
klinischem Befund vor allem bei Begutachtungen chronischer Schmerzpatienten
wichtige Informationen über den effektiven Leidensdruck und die Konsistenz der
Beschwerden (vgl. Urteil I 329/05 vom 10. Februar 2006, E. 4.2.2 mit Hinweisen
auf die medizinische Literatur).

Indessen ist der Vorinstanz insgesamt beizupflichten, dass im Hinblick auf die
zum Teil gegensätzlichen und nicht konsistenten Ausführungen im Gutachten des
ärztlichen Begutachtungsinstitutes X.________ vom 26. Juni 2006 und die übrige
Aktenlage nicht davon ausgegangen werden kann, der Gesundheitszustand bzw. die
Arbeitsfähigkeit der Versicherten hätten sich überwiegend wahrscheinlich
erheblich verbessert (vgl. E. 5.1 hievor). Diese vorinstanzliche Feststellung
ist tatsächlicher Natur und damit für das Bundesgericht grundsätzlich
verbindlich (E. 1 und 3 hievor). Sie lässt sich - entgegen der Auffassung der
IV-Stelle - nicht als offensichtlich unrichtig bezeichnen. Ebenso wenig beruht
sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG. Demnach hat es
beim vorinstanzlichen Entscheid sein Bewenden, zumal nicht geltend gemacht wird
und auch nicht ersichtlich ist, die erwerblichen Auswirkungen des an sich
gleich gebliebenen Gesundheitszustandes hätten sich erheblich verändert (vgl.
BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 f.).

7.
Die unterliegende IV-Stelle hat die Gerichtskosten zu tragen und der
Versicherten eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68
Abs. 2 BGG). Das Gesuch der Versicherten um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse der Migros-Betriebe und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Dezember 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Jancar