Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.412/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_412/2008

Urteil vom 3. November 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Parteien
K.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Werner Bodenmann, Waisenhausstrasse 17, 9000 St.
Gallen,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 9. April 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1962 geborene K.________ arbeitete als Assistenzarzt am Spital X.________
und war auf Grund dieses Arbeitsverhältnisses obligatorisch bei den Elvia
Versicherungen (heute: Allianz Suisse Versicherungen; nachfolgend: Allianz)
gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 29. Juni
2000 meldete die Arbeitgeberin einen Unfall vom 24. Juni 2000. Demnach war
K.________ beim Tischtennisspielen in Rotationsbewegung auf den Rücken
gestürzt. Er habe sich nicht mehr bewegen und aufstehen können und einen
überschiessenden Schmerz im Lendenbereich mit Ausstrahlung in den rechten
Oberschenkel verspührt. Er habe nach Hause getragen werden müssen. Eine
Computertomographie der LWS vom 3. Juli 2000 ergab eine Osteochondrose L5/S1
mit einer grossen mediolateralen Diskushernie mit Kompression der Nervenwurzel
S1 und des Duralsacks rechtsseitig sowie eine kleine mediolaterale Diskushernie
L4/L5 rechtsseitig ohne Kompression der Nervenwurzeln. Nach einer erfolglosen
konservativen Therapie wurde am 15. August 2000 eine mikrochirurgische
Dekompression vorgenommen. Der Versicherte konnte seine Arbeit als
Assistenzarzt in der Anästhesie bereits vier Wochen nach dem Eingriff wieder
aufnehmen. Es kam jedoch zu einem Rezidiv, weshalb am 17. November 2000 erneut
operiert werden musste. Ab 9. April 2001 konnte der inzwischen zum Oberarzt
ernannte Versicherte seine Arbeit wieder zu 50 % aufnehmen. Er wurde in der
Folge mehrfach dazu begutachtet, ob seine Rückenbeschwerden in einem
natürlichen Kausalzusammenhang zum Ereignis vom 24. Juni 2000 stehen würden
(Prof. Dr. med. B.________, Facharzt für Wirbelsäulen- und
Rückenmarkschirurgie, Klinik H.________, vom 23. Oktober 2002; Aktengutachten
des PD Dr. med. A.________, Facharzt für Chirurgie FMH, vom 22. November 2004;
Prof. Dr. med. S.________, Direktor der Klinik Neurochirurgie, Spital
Y.________, vom 13. Februar 2006; Aktengutachten des Dr. med. R.________,
Facharzt für orthopädische Chirurgie, vom 5. Juli und 27. Dezember 2006). Mit
Verfügung vom 16. Januar 2007 teilte die Allianz dem Versicherten mit, unter
Würdigung aller zur Verfügung stehender Unterlagen sei das Ereignis vom 24.
Juni 2000 geeignet gewesen, die Diskushernien auszulösen, nicht aber sie zu
verursachen. Die Dauer des unfallbedingten Beschwerdeschubes werde mit
längstens zwei Jahren veranschlagt, womit die aktuellen Beschwerden nicht mehr
unfallkausal seien. Leistungen aus der Unfallversicherung seien daher bis zum
24. Juni 2002 geschuldet. Auf eine Rückforderung der darüber hinaus gewährten
Leistungen werde verzichtet. Die dagegen erhobene Einsprache lehnte die Allianz
mit Entscheid vom 23. Oktober 2007 ab, wobei nunmehr auch in Frage gestellt
wurde, ob sich am 24. Juni 2000 überhaupt ein Unfall im Rechtssinne ereignet
habe.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies eine gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 9. April 2008 ab.

C.
K.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, es seien ihm in Aufhebung des Einspracheentscheides und des
vorinstanzlichen Entscheides auch über den 25. Juni 2002 hinaus
Versicherungsleistungen zu erbringen.

Die Allianz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Im Beschwerdeverfahren um die
Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder
Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Rechtsgrundlagen bezüglich des Unfallbegriffs
(Art. 4 ATSG) und die Bestimmungen über den Anspruch auf Leistungen der
obligatorischen Unfallversicherung im Allgemeinen (Art. 6 Abs. 1 UVG) sowie die
Grundsätze zu dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers
vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem
eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 119 V 335 E. 1 S. 337;
neueren Datums: BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181; 123 V 43 E. 2a S. 45, je mit
Hinweisen) im Besonderen zutreffend dargelegt. Gleiches gilt in Bezug auf die
Ausführungen zum Wegfall des ursächlichen Zusammenhangs und damit des
Leistungsanspruchs der versicherten Person bei Erreichen des Status quo sine
vel ante und zu den sich dabei stellenden Beweisfragen (RKUV 1994 Nr. U 206 S.
328, U 180/93; siehe ebenso BGE 117 V 261 E. 3b in fine S. 264; RKUV 2000 Nr. U
363 S. 45, U 355/98. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zum
Beweiswert und zur Würdigung medizinischer Berichte und Stellungnahmen (RKUV
1991 Nr. U 133 S. 311, U 8/91; neuer: BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; 122 V 157 E.
1c S. 160 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte aus dem Ereignis vom 24. Juni
2000 über den 23. Juni 2002 hinaus Anspruch auf Leistungen der obligatorischen
Unfallversicherung hat. Im Einspracheentscheid und auch in der Vernehmlassung
im bundesgerichtlichen Verfahren vertritt die Allianz die Ansicht, am 24. Juni
2000 habe sich kein Unfall im Rechtssinne ereignet. Das kantonale Gericht hat
diese Frage offen gelassen. Zu beantworten ist daher in erster Linie die Frage,
ob die Diskushernien und die nach zweifacher Operation noch fortbestehenden
Beschwerden in einem natürlichen Kausalzusammenhang zum fraglichen Ereignis
stehen. Während der Beschwerdeführer dies bejaht, verneinen Unfallversicherer
und Vorinstanz den natürlichen Kausalzusammenhang.

4.
4.1 Gemäss Allianz sei die beschwerdeführerische Schilderung des Sachverhaltes,
wonach er am 24. Juni 2000 beim Tischtennisspielen durch eine Rotationsbewegung
beim "Fischen" eines Balles nach rechts ausgerutscht und auf den Rücken
gestürzt sei, "durch nichts belegt". Bezweifelt wird insbesondere der Sturz auf
den Rücken.

4.2 Die Zweifel der Unfallversicherung über den Hergang des Unfalls rühren
insbesondere davon, dass ein Sturz in verschiedenen Arztzeugnissen keine
Erwähnung findet. Dabei wird nicht beachtet, dass der Beschwerdeführer selbst
in seiner Schilderung äusserst konstant blieb. So wird in der Unfallmeldung vom
29. Juni 2000 bereits festgehalten: "In Rotationsbewegung gestürzt (auf Rücken)
... Konnte mich nicht mehr bewegen und aufstehen ... wurde nach Hause
getragen". Es werden Zeugen des Vorgangs angegeben. Mit anderen Worten, aber
mit gleichem Inhalt wurde der Unfall am 24. November 2000 auf Befragen auch
einem Versicherungsinspektor geschildert. Dieses Protokoll ist vom
Beschwerdeführer unterzeichnet. Die Tatsache, dass der erstbehandelnde Arzt den
Sturz in der Anmeldung zur radiologischen Untersuchung nicht erwähnte und bei
den klinischen Angaben "ohne Trauma" anführte, besagt nicht, dass der Sturz
gegenüber den Arzt nicht erwähnt worden ist, und dass dieser unter "Trauma" den
rechtlichen Unfallbegriff verstand. Der Versicherung wäre es offen gestanden,
die angegebenen Zeugen über den Vorgang zu befragen, um sich darüber Klarheit
zu verschaffen, ob der Beschwerdeführer tatsächlich gestürzt ist oder nicht.
Ebenso hätten die Ärzte, die den Sturz in ihren Berichten nicht erwähnten,
darüber befragt werden müssen, ob ein solcher vom Beschwerdeführer angeführt
worden sei und woher sie ihre Schilderung des Vorganges vom 20. Juni 2000
haben. Das wurde aber offenbar nicht für notwendig erachtet, da die
Unfallversicherung nach anfänglichen Zweifeln - die von Beginn weg auch
hinsichtlich des Vorliegens eines Unfalles bestanden - während Jahren
Versicherungsleistungen erbracht hatte. Damit besteht eine faktische Verfügung
hinsichtlich der grundsätzlichen initialen Leistungspflicht, auf die nur
mittels prozessualer Revision oder einer Wiedererwägung aufgrund einer
zweifellosen Unrichtigkeit zurückgekommen werden könnte. Beides wird auch von
Seiten der Allianz nicht vorgebracht, sodass im weiteren davon auszugehen ist,
dass sich am 24. Juni 2000 ein Unfall im Rechtssinne ereignete.

5.
Damit bleibt zu prüfen, ob die Versicherungsleistungen zu Recht zwei Jahre nach
dem Unfall eingestellt wurden.
5.1
5.1.1 Es entspricht einer medizinischen Erfahrungstatsache im Bereich des
Unfallversicherungsrechts, dass praktisch alle Diskushernien bei Vorliegen
degenerativer Bandscheibenveränderungen entstehen und ein Unfallereignis nur
ausnahmsweise, unter besonderen Voraussetzungen, als eigentliche Ursache in
Betracht fällt. Als weitgehend unfallbedingt kann eine Diskushernie betrachtet
werden, wenn das Unfallereignis von besonderer Schwere und geeignet war, eine
Schädigung der Bandscheibe herbeizuführen, und die Symptome der Diskushernie
(vertebrales oder radikuläres Syndrom) unverzüglich und mit sofortiger
Arbeitsunfähigkeit auftreten. In solchen Fällen hat die Unfallversicherung
praxisgemäss auch für Rezidive und allfällige Operationen aufzukommen (RKUV
2000 Nr. U 379 S. 192 E. 2a, U 138/99, mit Hinweis auf das nicht
veröffentlichte Urteil U 159/95 vom 26. August 1996, E. 1b, und medizinische
Literatur; aus jüngster Zeit etwa: Urteile 8C_344/2008 vom 13. Oktober 2008,
8C_637/2007 vom 11. August 2008, E. 2.2, 8C_239/2007 vom 7. August 2008, E.
5.3, und 8C_614/2007 vom 10. Juli 2008, E. 4.1.1).
5.1.2 Ist indessen die Diskushernie bei degenerativem Vorzustand durch den
Unfall nur aktiviert, nicht aber verursacht worden, so hat die
Unfallversicherung nur Leistungen für das unmittelbar im Zusammenhang mit dem
Unfall stehende Schmerzsyndrom zu erbringen (a.a.0.). Solange der Status quo
sine vel ante noch nicht wieder erreicht ist, hat der Unfallversicherer
diesfalls gestützt auf Art. 36 Abs. 1 UVG in aller Regel neben den Taggeldern
auch Pflegeleistungen und Kostenvergütungen zu übernehmen, worunter auch die
Heilbehandlungskosten nach Art. 10 UVG fallen. Demnach hat die versicherte
Person auch Anspruch auf eine - operative Eingriffe mit einschliessende -
zweckmässige Behandlung (vgl. Urteile U 351/04 vom 14. Februar 2006, publ. in:
ASS 2006 2 S. 14; U 266/99 vom 14. März 2000).
5.1.3 Nach derzeitigem medizinischen Wissensstand kann das Erreichen des Status
quo sine bei posttraumatischen Lumbalgien und Lumboischialgien nach drei bis
vier Monaten erwartet werden, wogegen eine allfällige richtunggebende
Verschlimmerung röntgenologisch ausgewiesen sein und sich von der
altersüblichen Progression abheben muss; eine traumatische Verschlimmerung
eines klinisch stummen degenerativen Vorzustandes an der Wirbelsäule ist in der
Regel nach sechs bis neun Monaten, spätestens aber nach einem Jahr als
abgeschlossen zu betrachten (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 354/04
vom 11. April 2005, E. 2.2, mit Hinweisen auch auf die medizinische Literatur).

5.2 Aufgrund der zahlreichen klinischen- und Akten-Begutachtungen und dem
Ereignis an sich steht fest, dass die nach dem Unfall diagnostizierte
Diskushernie L5/S1 von diesem nur ausgelöst und nicht verursacht wurde. Auch
wenn der Beschwerdeführer vor dem 24. Juni 2000 keine Rückenbeschwerden hatte,
wird seine Wirbelsäule als "vorgeschädigt" und "übermässig
verschleissverändert" beschrieben. Es handelt sich daher um einen klassischen
Fall, bei dem der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den
bleibenden Restbeschwerden nur für einen begrenzten Zeitraum bejaht werden
kann. Dem hat die Unfallversicherung Rechnung getragen, indem sie ihre
Leistungspflicht für die Dauer von zwei Jahren nach dem Ereignis anerkannte.
Der Beschwerdeführer wendet ein, die Allianz habe mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit zu beweisen, dass der natürliche Kausalzusammenhang auf
diesen Zeitpunkt weggefallen sei, also der status quo sine eingetreten sei. Wie
in Erwägung 5.1 ausgeführt, hat die Rechtsprechung im Falle traumatisch
ausgelöster Diskushernien den konkreten medizinischen Beleg des natürlichen
Verlaufs durch eine richterliche Vermutung - die sich ihrerseits auf die
medizinische Literatur stützt - ersetzt. Demnach ist eine traumatische
Verschlimmerung eines klinisch stummen degenerativen Vorzustandes an der
Wirbelsäule in der Regel nach sechs bis neun Monaten, spätestens aber nach
einem Jahr, als abgeschlossen zu betrachten (E. 5.1.3 mit Hinweis). Der
Beschwerdeführer bringt nichts vor, was diese Vermutung vorliegend in Zweifel
ziehen würde. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

6.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem
unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. November 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Schüpfer