Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.391/2008
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_391/2008

Urteil vom 14. Juli 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.

Parteien
H.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Fritz Heeb, Oberdorfstrasse 6,
8887 Mels,

gegen

Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St.
Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 28. März 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 8. Oktober 2007 und Einspracheentscheid vom 6. Februar 2008
lehnte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Ausgleichskasse,
ein Gesuch von H.________ um Erlass der Rückforderung eines Betrags von Fr.
58'579.-, zusammengesetzt aus bundesrechtlichen Ergänzungsleistungen von Fr.
52'222.- und auf kantonalem Recht beruhenden Zuwendungen von Fr. 6'357.-, ab.
Zur Begründung wurde erklärt, es fehle an der Erlassvoraussetzung des guten
Glaubens.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen ab. Auf den kantonalrechtlichen Rekurs trat es nicht ein (Entscheid vom
28. März 2008).

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und "davon
abzusehen, ordentliche und ausserordentliche Ergänzungsleistungen für den
Zeitraum Januar 2004 bis November 2006 im Gesamtbetrag von Fr. 58'579.-
zurückzufordern". In prozessualer Hinsicht wird beantragt, der Entscheid des
Bundesgerichts sei bis zum Vorliegen des Beschwerdeentscheides des
Verwaltungsgerichtes des Kantons St. Gallen auszusetzen.

Die Vorinstanz erklärt mit Schreiben vom 14. Mai 2008, sie schliesse sich dem
Sistierungsbegehren des Beschwerdeführers an.

Es wurde kein Schriftenwechsel durchgeführt und es wurden keine Akten
eingeholt.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer hat den Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts,
soweit er sich auf den Erlass der Rückforderung kantonalrechtlicher Leistungen
bezieht, durch Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen
weitergezogen. Er beantragt, das vorliegende Verfahren sei bis zu dessen
Entscheid zu sistieren. Das kantonale Versicherungsgericht schliesst sich in
seiner Vernehmlassung diesem Antrag an.

1.1 Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen betrifft
einerseits den Erlass der Rückforderung bundesrechtlich geregelter
Ergänzungsleistungen zur AHV/IV und andererseits den Erlass der Rückforderung
bedarfsabhängiger Zuwendungen, welche auf kantonalem Recht beruhen. Soweit die
gestützt auf das ELG ausgerichteten Leistungen in Frage stehen, ist eine
innerkantonale Weiterzugsmöglichkeit an eine zweite gerichtliche Instanz von
Bundesrechts wegen ausgeschlossen (Art. 57 ATSG; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar,
Zürich 2003, S. 569, Art. 57 N 6). Gegen den Entscheid des
Versicherungsgerichts ist diesbezüglich direkt die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht zulässig (Art. 62
Abs. 1 ATSG). Er gilt insoweit als Entscheid einer letzten kantonalen Instanz
nach Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG. Im Bereich der kantonalrechtlichen Leistungen
ist dagegen laut der Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Entscheid ein
kantonsinterner Weiterzug möglich. Insoweit ist das Versicherungsgericht somit
nicht letzte kantonale Instanz im Sinne von Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG, und sein
Entscheid unterliegt nicht der direkten Anfechtung durch Beschwerde an das
Bundesgericht.

1.2 Die beantragte Sistierung würde es ermöglichen, das vorliegende
Beschwerdeverfahren mit einem allfälligen späteren über die kantonalrechtlich
begründete Rückforderung zu vereinigen. In dieser Konstellation kann eine
Sistierung angezeigt sein, wenn zwischen den beiden Verfahrensgegenständen ein
enger innerer Zusammenhang besteht, welcher eine gemeinsame Beurteilung als
geboten erscheinen lässt. So verhält es sich hier jedoch nicht: Die beiden
Rückforderungsansprüche weisen zwar eine tatbestandsmässige Verbindung auf. Sie
unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen und, daraus
abgeleitet, auch der dem Bundesgericht zukommenden Kognition (vgl. Art. 95 und
106 BGG). Überdies hat das Versicherungsgericht die bundesrechtliche Beschwerde
abgewiesen, während auf den kantonalrechtlichen Rekurs nicht eingetreten wurde.
Die Begründung der Beschwerde an das Verwaltungsgericht vom 23. April 2008
weicht denn auch wesentlich von den im vorliegenden Verfahren erhobenen Rügen
ab. Der Sistierungsantrag ist daher abzuweisen.

2.
Wie dargelegt, unterliegt der Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts
nur insoweit direkt der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten,
als er den Erlass der Rückforderung bundesrechtlicher Ergänzungsleistungen
betrifft. Soweit der Erlass der Rückforderung kantonalrechtlicher Leistungen in
Frage steht, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, da kein
letztinstanzlicher kantonaler Entscheid vorliegt.

3.
3.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur
soweit vorgebracht werden, als der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt
(Art. 99 Abs. 1 BGG).

3.2 Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen bezog der Beschwerdeführer
zwischen Januar 2004 und November 2006 Ergänzungsleistungen zu seiner Rente der
Invalidenversicherung. Mit Verfügung vom 4. Dezember 2006 forderte die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Ausgleichskasse, den
gesamten Betrag von Fr. 58'579.-, zusammengesetzt aus bundesrechtlichen
Ergänzungsleistungen von Fr. 52'222.- und auf kantonalem Recht beruhenden
Leistungen von Fr. 6'357.-, zurück. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom
18. April 2007 fest, was das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit
Entscheid vom 15. August 2007 bestätigte. Dieser Entscheid erwuchs in
Rechtskraft. Das vorliegende Erlassverfahren betrifft diese Rückforderung.

4.
4.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Erlass
der Rückforderung zu Unrecht ausgerichteter Ergänzungsleistungen (Art. 25 Abs.
1 ATSG und Art. 4 ATSV [anwendbar gemäss Art. 1 Abs. 1 ELG]; BGE 110 V 176 E.
3c S. 180 f.; vgl. auch BGE 112 V 97 E. 2c S. 103 mit Hinweisen) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.2 Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen dem guten Glauben als fehlendem
Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen
auf den guten Glauben berufen konnte oder bei zumutbarer Aufmerksamkeit den
bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen können. Während das Vorliegen oder
Fehlen des Unrechtsbewusstseins zum inneren Tatbestand gehört und eine Tatfrage
darstellt, welche durch das Bundesgericht nur im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 BGG
überprüft werden kann, gilt die Frage nach der Anwendung der gebotenen
Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht, ob sich
jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten
Glauben berufen kann (BGE 122 V 221 E. 3 S. 223; SVR 2007 EL Nr. 8 S. 19 E.
2.2, 8C_1/2007).

4.3 Laut den vorinstanzlichen Erwägungen ist der Bezug zu hoher
Ergänzungsleistungen nicht bösgläubig erfolgt. Damit hat das kantonale Gericht
das Unrechtsbewusstsein sinngemäss verneint. Diese Feststellung ist für das
Bundesgericht verbindlich.

4.4 Zu prüfen bleibt, ob dem Beschwerdeführer der gute Glaube deshalb
abgesprochen werden muss, weil er die gebotene Aufmerksamkeit vermissen liess
und dadurch die Ausrichtung der unrechtmässig bezogenen Leistungen erwirkt
(respektive nicht verhindert) hat.
4.4.1 Der gute Glaube entfällt, wenn die zu Unrecht erfolgte
Leistungsausrichtung auf eine arglistige oder grobfahrlässige Melde- oder
Auskunftspflichtverletzung zurückzuführen ist. Anderseits kann sich die
rückerstattungspflichtige Person auf den guten Glauben berufen, wenn ihr
fehlerhaftes Verhalten nur leicht fahrlässig war (BGE 112 V 97 E. 2c S. 103).
Das Mass der erforderlichen Sorgfalt beurteilt sich nach einem objektiven
Massstab, wobei aber das den Betroffenen in ihrer Subjektivität Mögliche und
Zumutbare nicht ausgeblendet werden darf (SVR 2008 AHV Nr. 13 S. 41 E. 4.1,
9C_14/2007). Der gute Glaube ist jedoch regelmässig zu verneinen, wenn die
versicherte Person das EL-Berechnungsblatt nicht oder nur unsorgfältig
kontrolliert und deshalb einen darin enthaltenen gravierenden, für sie leicht
erkennbaren Fehler nicht meldet (Urteil P 62/04 vom 6. Juni 2005, E. 4.3).
4.4.2 Gemäss den verbindlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts bezieht
der Beschwerdeführer eine Rente der SUVA, die sich ab 1. Januar 2003 auf Fr.
2'211.- pro Monat belief. In der EL-Anmeldung vom November 2003 führte er diese
Rente (wenn auch an einem falschen Ort) auf. Zudem reichte er einen
Rentenausweis ein. Die Ausgleichskasse setzte jedoch bei der Berechnung der
jährlichen Ergänzungsleistung unter den anrechenbaren Einnahmen versehentlich
den monatlichen Betrag von Fr. 2'211.- an Stelle des jährlichen Betrags von Fr.
26'532.- ein. Sämtliche Positionen sowie der Ausgaben- bzw. Einnahmenüberschuss
werden im Berechnungsblatt explizit und leicht erkennbar mit den Jahres- und
nicht mit den Monatswerten aufgeführt. Wäre die Rente der SUVA mit dem
korrekten, um über Fr. 24'000.- höheren Betrag berücksichtigt worden, hätte von
Anfang an ein Einnahmenüberschuss resultiert.
4.4.3 In Würdigung dieser Umstände unter dem Aspekt des guten Glaubens bzw. der
diesen ausschliessenden groben Fahrlässigkeit hat die Vorinstanz erwogen, bei
der Durchsicht des Berechnungsblattes mit minimaler sachgerechter
Aufmerksamkeit hätte der Beschwerdeführer erkennen können und müssen, dass die
SUVA-Rente mit einem viel zu tiefen Betrag aufgeführt war, so dass er massiv
überentschädigt wurde. Obwohl die Verwaltung den Fehler verursacht habe, müsse
dem Beschwerdeführer der gute Glaube abgesprochen werden, "da es ihm oblegen
wäre, den Fehler zu bemerken und umgehend zu melden".
4.4.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe den Fehler auf dem
Berechnungsblatt nicht bemerkt. Dies könne ihm unter dem Gesichtspunkt des
guten Glaubens nicht zum Vorwurf gemacht werden. Indem er seinen Melde- und
Auskunftspflichten bei den jeweiligen EL-Anträgen nachgekommen sei bzw. diese
zumindest nicht in grober Weise verletzt habe, könne er sich auf den guten
Glauben im Sinne von Art. 25 ATSG als Voraussetzung für den Erlass der
EL-Rückforderung berufen. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass der gute
Glaube regelmässig ausscheidet, wenn ein Berechnungsfehler vorliegt, welchen
die versicherte Person bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit ohne
weiteres hätte erkennen müssen (vgl. das bereits zitierte Urteil P 62/04 vom 6.
Juni 2005, E. 4.3). Diese Konstellation liegt hier vor, denn die Bezifferung
der SUVA-Rente mit dem Monatsbetreffnis von Fr. 2'211.- statt des Jahresbetrags
von Fr. 26'532.- in einer Aufstellung, welche ansonsten durchwegs Jahreswerte
enthält, musste der Beschwerdeführer selbst bei oberflächlicher Durchsicht der
Berechnung als unzutreffend erkennen. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Der Erlass der Rückforderung
zu Unrecht erbrachter Leistungen gilt nicht als Streitigkeit über
Sozialversicherungsleistungen nach Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG (Urteil 8C_594/
2007 vom 10. März 2008, E. 7.2; Thomas Geiser, Basler Kommentar zum BGG, Basel
2008, S. 575, Art. 65 N 20; Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz
[BGG], Bern 2007, S. 223, Art. 65 N 28; vgl. BGE 122 V 134 E. 1 S. 136 mit
Hinweisen). Deshalb gelangt der allgemeine, streitwertabhängige Tarif (Art. 65
Abs. 3 lit. b BGG; Tarif über die Gerichtsgebühren im Verfahren vor
Bundesgericht [SR 173.110.210.1], Ziff. 1) zur Anwendung. Mit Blick auf den
Streitwert und die relativ geringe Komplexität des Sachverhalts sind die
Gerichtskosten auf Fr. 2'000.- festzusetzen. Dementsprechend ist dem
Beschwerdeführer die Hälfte des geleisteten Kostenvorschusses von Fr. 4'000.-
zurückzuerstatten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Das Sistierungsgesuch wird abgewiesen.

2.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 2000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 14. Juli 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Flückiger