Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.358/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_358/2008

Urteil vom 3. Dezember 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiber Flückiger.

Parteien
H.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kurt Fricker,
Sorenbühlweg 13, 5610 Wohlen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
26. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
H.________, geb. 1953, meldete sich am 18. September 2006 zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle Aargau holte Angaben der
Versicherten (Fragebogen betreffend Erwerbstätigkeit/Haushalt; Fragebogen für
Gesuchstellende) vom 29. September 2006 sowie Berichte des Hausarztes Dr. med.
B.________, Allgemeinmedizin FMH, vom 28. September 2006 (mit zahlreichen
Beilagen) und des Spitals X.________, Neurochirurgische Klinik, vom 9. Mai 2006
ein. Zudem liess sie den Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) am 27. Dezember
2006 Stellung nehmen. Anschliessend lehnte es die IV-Stelle - nach Durchführung
des Vorbescheidverfahrens und Beizug eines Schreibens von Dr. med. B.________
vom 10. April 2007 - mit Verfügung vom 8. Mai 2007 ab, der Versicherten eine
Rente auszurichten.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau ab (Entscheid vom 26. Februar 2008). Im Verlauf des
Rechtsmittelverfahrens legte die IV-Stelle eine weitere Stellungnahme des RAD
vom 10. Juli 2007 auf. Die Beschwerdeführerin liess Berichte der Dr. med.
W.________, Neurologie FMH, spez. Verhaltensneurologie/Neuropsychologie, vom
10. August 2007 und des Dr. med. S.________, Neurologie FMH, vom 7. September
2007 einreichen.

C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die
IV-Stelle anzuweisen, die notwendigen Abklärungen durchzuführen, ein Gutachten
eines unabhängigen Sachverständigen einzuholen und anschliessend neu zu
verfügen. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
ersucht.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Dabei legt
das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder wenn sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG
beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).

1.2 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen
beschlägt die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln eine Rechtsfrage (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil 8C_74/2008 vom 22. August 2008, E. 2.3).

1.3 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 IVG), die
Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG in der
bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung; vgl. jetzt Art. 28 Abs. 2 IVG),
den Rentenbeginn (Art. 29 Abs. 1 IVG) und die Bemessung des Invaliditätsgrades
nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zur
Aufgabe des Arztes oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125
V 256 E. 4 S. 261 mit Hinweisen) sowie zum Beweiswert und zur Würdigung
medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff.).
Zutreffend ist insbesondere, dass das Sozialversicherungsgericht bei einander
widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen darf, ohne
das gesamte Beweismaterial zu würdigen und anzugeben, warum es auf die eine und
nicht auf die andere medizinische These abstellt (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352,
122 V 157 E. 1c S. 160).

2.
2.1 Zur Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin hat das kantonale Gericht
erwogen, eine Rückenoperation vom 3. April 2006 (Dekompressive
Interlaminektomie Th11/Th12 beidseits und rechts subartikulär) sei
komplikationslos verlaufen. In der Folge habe die Versicherte laut dem Bericht
des Spitals X.________, Neurochirurgische Klinik, vom 9. Mai 2006 über fast
vollständige Beschwerdefreiheit (Einnahme von Panadol bei Bedarf; Beschwerden
bei schwereren körperlichen Arbeiten wie z.B. Staubsaugen) berichtet. Auch aus
neurochirurgischer Sicht habe sich ein erfreulicher Verlauf gezeigt. Aus
psychiatrischer Sicht liege gemäss dem Bericht des Psychiatrischen Dienstes
Y.________ vom 11. September 2006 kein invalidisierender Gesundheitsschaden
vor. Deshalb könne - obwohl Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit der
Beschwerdeführerin, insbesondere aufgrund ihres Tremors und ihrer
Rückenschmerzen, bestünden - nicht von einem relevanten somatischen oder
psychischen Gesundheitsschaden mit Krankheitswert ausgegangen werden. Die durch
Dr. med. W.________ und Dr. med. S.________ geschilderten Auffälligkeiten
(multiple kognitive Teilleistungsschwächen; wahrscheinlich perinatale/
frühkindliche Hirnschädigung, insbesondere wegen des ungewöhnlichen, seit
frühester Kindheit beschriebenen Tremorsyndroms) gäben zwar Aufschluss über die
bei der Beschwerdeführerin bestehenden Defizite. Sie vermöchten aber aus
invalidenversicherungsrechtlicher Sicht keine vollständige Arbeitsunfähigkeit
zu begründen. Im Rahmen einer körperlich leichten, angepassten und auch
stressfreien Tätigkeit müsste es der Beschwerdeführerin auch mit diesen
Einschränkungen zuzumuten sein, einer Arbeitstätigkeit im Umfang von 80 %
nachzugehen. Der seit Kindheit bestehende rechtsbetonte Halte- und
Aktionstremor der oberen Extremitäten beidseits könne medizinisch behandelt
werden und verunmögliche die Ausübung einer angepassten Tätigkeit nicht zum
vornherein. Dies werde auch dadurch erhärtet, dass die Beschwerdeführerin
gemäss ihren eigenen Angaben im Jahr 1973 einer vollzeitlichen Erwerbstätigkeit
als Hilfskraft habe nachgehen können. Indem die IV-Stelle aufgrund der
vorliegenden medizinischen Aktenlage, insbesondere auch ausgehend vom Bericht
des Hausarztes Dr. med. B.________, zum Schluss komme, die Beschwerdeführerin
sei in der Lage, einer körperlich leichten Tätigkeit mit der Möglichkeit zu
Pausen, ohne Zwangshaltung und mit Vermeidung von repetitiven Tätigkeiten sowie
Tragen von Lasten mit einem Gewicht von mehr als 5 kg nachzugehen, und wegen
der erforderlichen regelmässigen Pausen und dem eigenen (verlangsamten)
Arbeitstempo ein Arbeitspensum von 80 % als zumutbar erachte, werde sie einer
vertretbaren Einschätzung der Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin gerecht.
Da die Beschwerdeführerin bereits medizinisch, neurologisch, neuropsychologisch
und psychiatrisch abgeklärt worden sei und keine relevanten Leiden mit
Krankheitswert hätten ausgewiesen werden können, bestehe für weitere
medizinische Abklärungsmassnahmen keine Veranlassung.

2.2 Die Beschwerdeführerin lässt insbesondere einwenden, das kantonale Gericht
stütze sich auf die Stellungnahmen des RAD-Arztes pract. med. L.________ vom
27. Dezember 2006 und 10. Juli 2007. Dieser Arzt habe die erst später
verfassten Berichte der Dres. med. W.________ und S.________ nicht in seine
Beurteilung einbeziehen können. Überdies seien die Aussagen des Dr. med.
B.________ willkürlich interpretiert worden.

2.3 Wie den vorinstanzlichen Erwägungen zu entnehmen ist, stehen im
Wesentlichen drei Arten gesundheitlicher Beeinträchtigungen zur Diskussion:
Rückenbeschwerden, neurologische Befunde mit einem essentiellen Tremor
congenital sowie eine psychische Komponente. Was die letztere anbelangt, hat
die Vorinstanz erwogen, es liege kein psychischer Gesundheitsschaden vor. Diese
Feststellung, welche durch den Bericht des Psychiatrischen Dienstes Y.________
vom 11. September 2006 gestützt wird, ist nicht offensichtlich unrichtig. Auf
dieser Basis konnte das kantonale Gericht von weiteren psychiatrischen
Abklärungen Abstand nehmen, ohne gegen den Untersuchungsgrundsatz zu
verstossen. Nicht beanstanden lässt sich auch die auf die RAD-Stellungnahmen
vom 27. Dezember 2006 und 10. Juli 2007 gestützte vorinstanzliche
Schlussfolgerung, aus Sicht der Rückenproblematik könne eine Leistungsfähigkeit
von 80 % in einer angepassten Tätigkeit angenommen werden. Demgegenüber werden
die Erwägungen des kantonalen Gerichts zur IV-rechtlichen Relevanz der aus
neurologischer Sicht angegebenen Defizite, insbesondere des ausgeprägten Halte-
und Aktionstremors, den von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an
eine bundesrechtskonforme Beweiswürdigung (vgl. E. 1.3) nicht gerecht. Die
Vorinstanz hält zwar fest, der Tremor verunmögliche nicht von vornherein die
Ausübung einer angepassten Tätigkeit. Sie äussert sich jedoch nicht dazu, ob
dieses Leiden sowie allenfalls die durch Dr. med. W.________ diagnostizierten
Teilleistungsschwächen weitere Einschränkungen nach sich ziehen. Insbesondere
legt das kantonale Gericht nicht nachvollziehbar dar, warum es der in seinem
Entscheid festgehaltenen Aussage des Neurologen Dr. med. S.________ (Bericht
vom 7. September 2007), wonach der Tremor in einem erwerblichen Umfeld
"ausgesprochen limitieren" würde und die Patientin aufgrund der erheblichen
neuropsychologischen Defizite und des schweren Tremors nicht arbeitsfähig sei,
ohne weitere Abklärungen keinerlei Beweiswert beimisst. Die vorinstanzliche
Feststellung, die Beschwerdeführerin habe nach eigenen Angaben im Jahr 1973
vollzeitlich als Hilfskraft gearbeitet, liefert diesbezüglich ebenso wenig eine
Erklärung wie die Bemerkung des RAD-Arztes pract. med. L.________ vom 10. Juli
2007, neurologisch bestehe keine erhebliche Störung mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit. Pract. med. L.________ konnte bei Abgabe dieser Stellungnahme
die Berichte des Dr. med. S.________ vom 7. September 2007 und der Dr. med.
W.________ vom 10. August 2007 nicht kennen. Auch die nicht näher
konkretisierte Annahme der Vorinstanz, der Tremor lasse sich behandeln, steht
einer (allenfalls vorübergehenden) invalidisierenden Wirkung nicht zwingend
entgegen (vgl. BGE 127 V 294 E. 4c S. 298). Unter diesen Umständen wäre das
kantonale Gericht aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG;
E. 1.2 hiervor) gehalten gewesen, weitere Abklärungen zu veranlassen. Die Sache
ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ergänzende Abklärungen
vornehme und anschliessend über den Rentenanspruch neu entscheide.

3.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten sind der IV-Stelle als der unterliegenden Partei aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235). Ihr
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 26. Februar 2008 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
Aargau vom 8. Mai 2007 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des
Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Dezember 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Flückiger