Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.339/2008
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_339/2008

Urteil vom 11. November 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Widmer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Parteien
M.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans Ulrich
Ziswiler, c/o Scholl Lienhard & Partner, Rechtsanwälte, Laurenzenvorstadt 19,
5001 Aarau,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
26. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 26. Juli 1996 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau der
1963 geborenen M.________ ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 76%
rückwirkend ab 1. August 1993 eine ganze Invalidenrente zu. Die in den Jahren
1997 und 2001 durchgeführten Revisionsverfahren ergaben keine
rentenbeeinflussende Änderung des Invaliditätsgrades. Gestützt auf die
medizinischen Abklärungen im Rahmen des im Jahr 2005 durchgeführten
Revisionsverfahrens, insbesondere das Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstation (MEDAS) des Spitals X.________ vom 24. Januar 2007, hob die
IV-Stelle die Rente per Ende Juni 2007 revisionsweise auf mit der Begründung,
infolge Verbesserung des Gesundheitszustandes sei keine Arbeitsunfähigkeit mehr
ausgewiesen (Vorbescheid vom 9. März 2007 und Verfügung vom 16. Mai 2007).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, in deren Folge weitere ärztliche Berichte
eingereicht worden waren, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit
Entscheid vom 26. Februar 2008 ab, indem es die revisionsweise verfügte
Rentenaufhebung mit der substituierten Begründung der Wiedererwägung schützte.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt M.________ die
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids vom 26. Februar 2008 sowie der
Verfügung vom 16. Mai 2007, eventualiter die Rückweisung der Sache an die
IV-Stelle zur Vornahme ergänzender Abklärungen beantragen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u. a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist die Aufhebung der seit August 1993 ausgerichteten
ganzen Invalidenrente per Ende Juni 2007.

2.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zur
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (Art. 6 und 7 ATSG), zum Invaliditätsbegriff
(Art. 8 ATSG), zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG), zur
Invaliditätsbemessung bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) und zur Aufgabe des Arztes oder der
Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2 Nach den ebenfalls zutreffenden vorinstanzlichen Erwägungen ist die
Aufhebung oder Herabsetzung einer rechtskräftig zugesprochenen, laufenden Rente
nur zulässig, wenn - alternativ - die Voraussetzungen der (materiellen)
Rentenrevision gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG (vgl. auch Art. 88a Abs. 1 IVV [in
der vom 1. Januar bis Ende Februar 2004 gültig gewesenen und in der seit 1.
März 2004 geltenden Fassung]; BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 ff., ferner BGE 133 V
108 E. 5 S. 110 ff.) erfüllt sind, ein (prozessualer) Revisionsgrund gemäss
Art. 53 Abs. 1 ATSG gegeben ist oder die rechtskräftige Rentenzusprechung nach
der damaligen Sach- und Rechtslage zweifellos unrichtig war und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist, mithin unter dem Titel der
Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG (vgl. BGE 127 V 466 E. 2c S. 469 mit
Hinweisen) darauf zurückgekommen werden kann. Die Wiedererwägung im Sinne
dieser Bestimmung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen
Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung
des Sachverhalts. Sie ist jederzeit möglich (vgl. Art. 53 Abs. 3 ATSG),
insbesondere auch wenn die Voraussetzungen der Revision nach Art. 17 Abs. 1
ATSG nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen
Rentenverfügung erst vom Gericht festgestellt, so kann es die im
Revisionsverfahren verfügte Aufhebung der Rente mit dieser substituierten
Begründung schützen (BGE 125 V 368 E. 2 S. 369; Urteil 9C_11/2008 vom 29. April
2008 E. 2 und 4.2 mit Hinweisen).

3.
3.1 Gemäss vorinstanzlichem Entscheid ist seit der ursprünglichen
rechtskräftigen Rentenverfügung vom 26. Juli 1996 bis zur angefochtenen
Verfügung vom 16. Mai 2007 keine Verbesserung des Gesundheitszustandes und
somit keine revisionsrechtlich erhebliche Änderung der Verhältnisse
eingetreten. Die Beschwerdeführerin geht mit dem kantonalen Gericht daher zu
Recht davon aus, dass als Rechtsgrundlage der per Ende Juni 2007 verfügten
Aufhebung der Invalidenrente einzig die Wiedererwägung der rechtskräftigen
Verfügung vom 26. Juli 1996 gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG in Betracht fällt, mit
welcher der Beschwerdeführerin ab 1. August 1993 eine ganze Invalidenrente
zugesprochen worden war. Streitpunkt ist, ob jene Verfügung zweifellos
unrichtig war. Ausser Frage steht dagegen, dass ihre Berichtigung im Falle
zweifelloser Unrichtigkeit als erheblich einzustufen wäre.

3.2 Aufgrund der Aktenlage stützte sich die Rentenverfügung vom 26. Juli 1996
in medizinischer Hinsicht auf Berichte des Hausarztes Dr. med. A.________ und
des im Unfallversicherungsverfahren beigezogenen Dr. med. B.________, Oberarzt
der neurochirurgischen Klinik am Spital Y.________. Der Hausarzt Dr. med.
A.________ diagnostizierte in mehreren Berichten aus den Jahren 1993 bis 1997
ein Schleudertrauma der HWS nach Autounfall vom 16. August 1992 sowie einen
blockierten Heilungsverlauf i.S. einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er
hielt fest, die Patientin leide an belastungsabhängigen Nackenschmerzen,
beidseitigen Schulterschmerzen, Parästhesien beider Hände, belastungsabhängigen
lumbalen Schmerzen, depressiven Verstimmungen, Konzentrationsmängeln usw.,
wobei objektiv eine allseitig eingeschränkte Beweglichkeit und Verspannung der
Nackenmuskulatur sowie eine Druckdolenz vorhanden seien und der neurologische
Status unauffällig sei. Dr. med. A.________ attestierte der Versicherten eine
100%ige Arbeitsunfähigkeit seit dem Unfallereignis. Dr. med. B.________ sodann
nahm im Jahr 1995 mehrfach zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin
Stellung. Im Bericht vom 13. April 1995 hielt er unter "Diagnose" fest, die
chronischen Beschwerden und die Nacken-/Hinterkopfschmerzen sprächen für ein
sogenanntes Schleudertrauma. Ob tatsächlich ein Trauma mit Hyperextension der
HWS vorgelegen habe, sei nicht mehr mit Sicherheit auszumachen, da sich die
Patientin nicht an den Unfall erinnern könne. An subjektiven Beschwerden
erwähnte der Arzt Nacken- und Schulterschmerzen beidseits mit gelegentlicher
Ausstrahlung bis in den seitlichen Oberarm beidseits, Hinterkopfschmerzen und
Konzentrationsstörungen. Bezüglich objektivem Befund wies Dr. med. B.________
darauf hin, dass sich anlässlich der MRI-Aufnahmen der HWS vom 15. Februar 1995
ein normales Alignement der Wirbelkörper ohne Hinweise auf knöcherne
Destruktionen gezeigt habe. Es fände sich eine sehr minime Protrusion des
Diskus 5/6 ohne Kompression auf Rückenmark oder Nervenwurzel und es ergäben
sich keine Hinweise auf sonstige Pathologien. Auf die Frage nach der
Arbeitsunfähigkeit führte der Arzt im Bericht vom 29. August 1995 aus, die
Patientin gebe an, ihre bisherige Tätigkeit als Serviertochter gar nicht mehr
durchführen zu können. Es bestehe somit - so Dr. med. B.________ - eine 100%ige
Arbeitsunfähigkeit. Die Patientin leide unter Konzentrationsstörungen, die es
ihr verunmöglichten, den manchmal sehr hektischen Betrieb in einer
Gastwirtschaft zu führen. Ausserdem sei sie nicht in der Lage, schwere Sachen
zu tragen. Im Bericht vom 28. Dezember 1995 ergänzte Dr. med. B.________, in
einer Arbeit mit häufig wechselnder Körperhaltung ohne Tragen von Lasten sei
eine reduzierte Arbeitsfähigkeit im Rahmen von ca. 30% denkbar.

3.3 Die Berichte beider Ärzte, namentlich die Diagnosestellungen, beruhen
vorwiegend auf (Schmerz-)Angaben der Versicherten, nachdem sich auch mit
bildgebenden Verfahren keine objektiven Befunde ergeben hatten. Selbst die
Festsetzung der Arbeitsunfähigkeit stützte sich lediglich auf Angaben der
Patientin und erfolgte ohne nähere Begründung. Die von Dr. med. B.________
attestierte Restarbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit und
deren erwerbliche Verwertbarkeit wurden nicht weiter überprüft. Die Berichte
stellen somit auch nach damaliger Rechtslage keine genügende Grundlage für eine
Rentenzusprache dar. Weitere Abklärungen wären zwingend erforderlich gewesen.
Dass solche unterblieben und somit die Sachverhaltsabklärung unvollständig war,
stellt eine klare Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes sowie des Grundsatzes
"Eingliederung vor Rente" (BGE 126 V 241 E. 5 S. 243) dar. Trifft dies zu,
erübrigt es sich, den damals rechtserheblichen Sachverhalt weiter abzuklären
und auf dieser nunmehr hinreichenden tatsächlichen Grundlage den
Invaliditätsgrad zu ermitteln. Abgesehen davon, dass einen weiter
zurückliegenden Zeitraum betreffende Abklärungen häufig keine verwertbaren
Ergebnisse zu liefern vermögen, geht es im Kontext darum, mit Wirkung ex nunc
et pro futuro einen rechtskonformen Zustand herzustellen (vgl. Urteile 9C_11/
2008 und 9C_19/2008 vom 29. April 2008). Da die Zusprechung einer ganzen Rente
nach Gesagten insoweit gesetzwidrig und die ursprüngliche Verfügung - wie die
Vorinstanz dargelegt hat - zweifellos unrichtig war, sind neben der
Erheblichkeit der Berichtigung (vgl. E. 3.1 hievor) auch die übrigen
Voraussetzungen, unter denen eine Revisionsverfügung mit der substituierten
Begründung der Wiedererwägung geschützt werden kann, erfüllt. Dass die
IV-Stelle die Rente nach den 1997 und 2001 durchgeführten Revisionsverfahren
weiterhin ausgerichtet hat, ist wiedererwägungsrechtlich unerheblich (Urteil
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 859/05 vom 10. Mai 2006 E. 2.2 mit
Hinweis).

3.4 Zusammen mit der wiedererwägungsweisen Aufhebung der Verfügung vom 26. Juli
1996 sind die Anspruchsberechtigung und allenfalls der Umfang des Anspruchs pro
futuro zu prüfen. Es kann nicht mit der Feststellung der zweifellosen
Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung sein Bewenden haben; vielmehr
ist wie bei einer materiellen Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG auf der
Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts der
Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung zu ermitteln, woraus
sich die Anspruchsberechtigung und allenfalls der Umfang des Anspruchs ergeben
(Urteil 9C_11/2008 vom 29. April 2008 E. 4.2.1 mit Hinweisen). Wie das
kantonale Gericht in Würdigung der medizinischen Aktenlage einlässlich und
überzeugend dargelegt hat, kann auf Grund des MEDAS-Gutachtens vom 24. Januar
2007 von einer 100%igen Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als
Serviertochter ausgegangen werden, sodass die Anspruchsberechtigung der
Beschwerdeführerin pro futuro zu verneinen ist. Auf die entsprechenden
Ausführungen kann verwiesen werden.

4.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. November 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:

i.V. Lustenberger Kopp Käch