Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.329/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_329/2008

Urteil vom 31. Juli 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Parteien
S.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Beat Vögele,
Ziegelrain 29, 5001 Aarau,

gegen

Dienststelle Wirtschaft und Arbeit (wira), Arbeitslosenkasse, Bürgenstrasse 12,
6005 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 17. März 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a Der 1944 geborene V.________ wurde auf den 1. September 2000 von der
X.________ AG als geschäftsführender Direktor angestellt. Am 19. April 2001
löste er das Arbeitsverhältnis durch Kündigung per 30. April 2001 auf. Die
Gesellschaft wurde im weiteren Verlauf in Y.________ AG umbenannt. Am 5.
September 2002 wurde über die Y.________ AG der Konkurs eröffnet.
Bereits am 28. Juni 2002 hatte V.________ Antrag auf Insolvenzentschädigung
gestellt und die Lohnausstände aus der Zeit vom 1. September 2000 bis 31.
Dezember 2001 zuzüglich Spesen auf gesamthaft Fr. 223'749.12 beziffert. Mit
Verfügung vom 15. April 2003 lehnte die Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern
dieses Begehren unter Hinweis auf seine ehemals arbeitgeberähnliche Stellung in
der Y.________ AG ab. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 20. August 2003). In Gutheissung der dagegen erhobenen
Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern den
Einspracheentscheid vom 20. August 2003 auf und wies die Sache an die
Arbeitslosenkasse zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen neu verfüge
(Entscheid vom 3. November 2004). Die von der Arbeitslosenkasse eingereichte
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das damals zuständige Eidgenössische
Versicherungsgericht (EVG) in dem Sinne gut, dass es den Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 3. November 2004 und den
Einspracheentscheid der Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern vom 20. August
2003 aufhob und die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückwies, damit sie im
Sinne der Erwägungen verfahre und über den Anspruch des V.________ auf
Insolvenzentschädigung neu verfüge (Urteil C 261/04 vom 25. Juli 2005). In den
Erwägungen kam das EVG zum Schluss, dass V.________ bei der Y.________ AG keine
arbeitgeberähnliche Stellung inne hatte, womit er nicht bereits aufgrund seiner
Funktion bei der ehemaligen Arbeitgeberin von der Berechtigung zum Bezug von
Insolvenzentschädigung ausgeschlossen sei. Im Rahmen der Rückweisung der
Angelegenheit an die Arbeitslosenkasse habe diese darum abzuklären, ob die
weiteren Anspruchsvoraussetzungen ebenfalls vorliegen würden, und erneut zu
verfügen.
A.b Nach Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen wies die
Arbeitslosenkasse das Gesuch des V.________ um Insolvenzentschädigung wiederum
ab, dieses Mal mit der Begründung, der Versicherte sei seiner
Schadenminderungspflicht nicht genügend nachgekommen (Verfügung vom 11. Januar
2006). Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 26.
April 2006).

B.
Dagegen liess V.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Beschwerde
führen mit dem Rechtsbegehren, es sei "festzustellen, dass der Anspruch auf
Insolvenzentschädigung begründet" sei und es sei "eine entsprechende
Leistungsverfügung zu erlassen". Am 14. Juli 2007 ist V.________ verstorben.
Der Prozess wurde sistiert. Nachdem S.________, Witwe des Verstorbenen und
Alleinerbin, ihr Interesse am Fortgang des Verfahrens hatte manifestieren
lassen, hob das kantonale Gericht die Sistierung auf und wies die Beschwerde ab
(Entscheid vom 17. März 2008).

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, die Sache sei an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen, damit
sie im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung neu
verfüge.
Die Arbeitslosenkasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das
Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der
Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene kantonale
Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und
beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht, Völkerrecht oder kantonale
verfassungsmässige Rechte verletzt (Art. 95 lit. a bis c BGG), einschliesslich
einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1,
Art. 105 Abs. 2 BGG). Hingegen hat unter der Herrschaft des BGG eine freie
Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheides in tatsächlicher Hinsicht zu
unterbleiben (ausser wenn sich die Beschwerde gegen einen - im hier zu
beurteilenden Fall indessen nicht anfechtungsgegenständlichen - Entscheid über
die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder
Unfallversicherung richtet; Art. 97 Abs. 2 BGG). Ebenso entfällt eine Prüfung
der Ermessensbetätigung nach den Grundsätzen zur Angemessenheitskontrolle (BGE
126 V 75 E. 6 S. 81 zu Art. 132 lit. a OG [in der bis 30. Juni 2006 gültig
gewesenen Fassung]).

2.
2.1 Im vorinstanzlichen Entscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zum
Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG) und zu dessen Umfang
(Art. 52 Abs. 1 AVIG in der bis 30. Juni 2003 in Kraft gestandenen Fassung)
sowie zu den Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren
(Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 56 E. 3d S. 59; ARV 2002 S. 62, C 91/01, und S.
190, C 367/01) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2 Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs-
oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber
dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und
Pfändungsverfahren. Sie bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen
Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das
Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 56 E. 4 S.
60; ARV 1999 Nr. 24 S. 140). Die Vorinstanz hat dabei richtig festgehalten,
auch eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der
Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen
Rechtsprechung (E. 2.1 hiervor) setze voraus, dass dem Versicherten ein
schweres Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder
Unterlassen vorgeworfen werden kann (vgl. Urs Burgherr, Die
Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes
Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 166). Das Ausmass der vorausgesetzten
Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen Umständen des
Einzelfalls. Vom Arbeitnehmer wird in der Regel nicht verlangt, dass er bereits
während des bestehenden Arbeitsverhältnisses gegen den Arbeitgeber Betreibung
einleitet oder eine Klage einreicht. Er hat jedoch seine Lohnforderung
gegenüber dem Arbeitgeber in eindeutiger und unmissverständlicher Weise geltend
zu machen (ARV 2002 S. 190, C 367/01). Zu weitergehenden Schritten ist die
versicherte Person dann gehalten, wenn es sich um erhebliche Lohnausstände
handelt und sie konkret mit einem Lohnverlust rechnen muss. Denn es geht auch
für die Zeit vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht an, dass die
versicherte Person ohne hinreichenden Grund während längerer Zeit keine
rechtlichen Schritte zur Realisierung erheblicher Lohnausstände unternimmt,
obschon sie konkret mit dem Verlust der geschuldeten Gehälter rechnen muss
(Urteile C 231/06 vom 5. Dezember 2006 und C 163/06 vom 19. Oktober 2006).

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat in pflichtgemässer Würdigung der gesamten
Aktenlage mit nachvollziehbarer Begründung erkannt, der Versicherte habe keinen
Anspruch auf Insolvenzentschädigung, weil er in Verletzung der
Schadenminderungspflicht sowohl während des Arbeitsverhältnisses als auch
danach längere Zeit seine Lohnforderung gegenüber der ehemaligen Arbeitgeberin
nicht unmissverständlich geltend gemacht habe. Obwohl die Y.________ AG für die
acht Monate dauernde Anstellung den Lohn von monatlich Fr. 15'000.- überhaupt
nie absprachegemäss erbracht und nur drei Teilzahlungen im Gesamtbetrag von Fr.
20'000.- (Fr. 7'000.- am 18. Oktober 2000, Fr. 6'000.- am 17. November 2000 und
Fr. 7'000.- am 30. Januar 2001) geleistet habe, habe sich der Versicherte
abermals vertrösten lassen, indem er die ausstehenden Löhne nach seiner am 19.
April 2001 auf den 30. April 2001 ausgesprochenen, mit einem Hinweis auf
ausgebliebene Gehaltszahlungen und andere Missstände verbundenen Kündigung des
Arbeitsverhältnisses erst wieder mit Schreiben vom 31. August 2001 eingefordert
habe.

3.2 Die Vorbringen der Beschwerdeführerin vermögen diese Betrachtungsweise
nicht in Zweifel zu ziehen. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
sind nicht mangelhaft im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG und die rechtliche
Würdigung ist bundesrechtskonform. In der letztinstanzlichen Beschwerde wird
eingewendet, das kantonale Gericht habe erstmals festgestellt, dass einer
versicherten Person auch vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine
Schadenminderungspflicht obliege, nachdem die Arbeitslosenkasse den Antrag auf
Insolvenzentschädigung mit der Begründung abgewiesen habe, der Versicherte sei
seiner Schadenminderungspflicht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht
genügend nachgekommen. So habe sich der Versicherte zu seinem Verhalten während
des Arbeitsverhältnisses im bisherigen Prozess gar nicht äussern können. Diese
Rüge zielt schon deshalb ins Leere, weil die Arbeitslosenkasse in ihrem
Einspracheentscheid vom 26. April 2006 die Verletzung der
Schadenminderungspflicht ausdrücklich sowohl mit dem Verhalten des Versicherten
während des Arbeitsverhältnisses als auch in der Zeit danach begründet hat. Der
Versicherte hat sich zudem auf ausdrückliche Anfrage der Verwaltung bereits vor
Verfügungserlass zu allfälligen Massnahmen, welche der Einforderung
ausstehender Löhne vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses dienten, geäussert
und auch in der Beschwerdeschrift ans kantonale Gericht eingehend mit den
Gegebenheiten vor und nach Auflösung der Anstellung auseinandergesetzt. Soweit
die Beschwerdeführerin mit ihrem Vorbringen, die Vorinstanz habe ausser Acht
gelassen, dass dem Versicherten kein Einblick in die Geschäftsbücher der
Arbeitgeberin möglich gewesen sei, so dass er den Lohnverlust nicht habe
voraussehen können, eine offensichtlich falsche Tatsachenfeststellung durch das
kantonale Gericht behauptet, kann ihr ebenfalls nicht gefolgt werden. Ob der
Versicherte Zugang zu den Geschäftsbüchern gehabt hat, ist mit Blick auf die
gesamten, im angefochtenen Gerichtsentscheid umfassend erörterten Umstände
irrelevant. Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin haben die
Lohnausstände nicht nur vier Monate betroffen. Das Gehalt wurde dem
Versicherten vielmehr von Anfang an nicht bzw. nur in verhältnismässig kleinen
Raten (in der Höhe von gesamthaft Fr. 20'000.-) bezahlt, so dass trotz des
bloss acht Monate dauernden Arbeitsverhältnisses Lohnausstände von Fr.
100'000.- entstanden sind. Aufgrund der ausserordentlich hohen Ausstände über
mehrere Monate hinweg wäre der Versicherte deshalb bereits während der Dauer
der Anstellung gehalten gewesen, nach einer allenfalls erfolglosen
schriftlichen Mahnung Lohnklage zu erheben oder direkt die Betreibung
einzuleiten. Die Beschwerdeführerin lässt zwar zu Recht darauf hinweisen, dass
eine gesetzliche Verpflichtung zu einem schriftlichen Vorgehen bei laufendem
Arbeitsverhältnis nicht vom Gesetz statuiert wird. Eine solche Handlung wäre
aber in Nachachtung der Schadenminderungspflicht bei der vorliegenden
Entwicklung praxisgemäss notwendig gewesen, weil die Wahrscheinlichkeit eines
Lohnverlustes mit dem Zeitablauf stetig zunahm (Urteile C 231/06 vom 5.
Dezember 2006 und C 264/04 vom 20. Juli 2005). In diesem Zusammenhang ist auf
die offenkundige Tatsache hinzuweisen, dass Schuldner oftmals erst unter dem
Druck einer schriftlichen Aufforderung ihren Zahlungspflichten nachkommen. Auf
mündliche Zusicherungen hätte sich der Versicherte jedenfalls nicht während der
gesamten Anstellungsdauer verlassen dürfen. Was schliesslich die Einwände zur
vorinstanzlichen Würdigung der Tatsachen in der Zeit nach Beendigung des
Arbeitsverhältnisses betrifft, ist darauf nicht weiter einzugehen. Ein schweres
Verschulden während der Dauer der Anstellung kann nicht durch ein einwandfreies
Verhalten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses "geheilt" werden. Jedenfalls
erscheint die Tatsachenfeststellung des kantonalen Gerichts auch in Bezug auf
den Zeitraum ab Mai 2001 weder offensichtlich unrichtig noch unvollständig.

3.3 Zusammenfassend hat das kantonale Gericht in pflichtgemässer Würdigung der
gesamten Aktenlage mit überzeugender Begründung, auf die verwiesen wird (Art.
109 Abs. 3 BGG), erkannt, dass der Versicherte seiner Schadenminderungspflicht
in der Durchsetzung seiner ausstehenden Lohnforderung nicht in genügendem Masse
nachgekommen ist. An dieser Betrachtungsweise vermögen die Vorbringen der
Beschwerdeführerin nichts zu ändern. Sie sind nicht geeignet, die
vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als offensichtlich unrichtig oder
unvollständig erscheinen zu lassen. Von einer willkürlichen Beweiswürdigung
durch die Vorinstanz kann ohnehin nicht gesprochen werden (BGE 127 I 54 E. 2b
S. 56).

4.
Bei diesem Ausgang des Prozesses hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Dienststelle Wirtschaft und Arbeit
(wira), Abteilung Stab Recht, Luzern, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft
schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 31. Juli 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Berger Götz