Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.323/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

8C_323/2008 {T 0/2}

Urteil vom 6. November 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Widmer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Parteien
Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau, Schlossmühlestrasse 9, 8510
Frauenfeld
Beschwerdeführer,

gegen

S.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Patrik A. Häberlin, Rheinstrasse
10, Postfach 357, 8501 Frauenfeld.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 5. März 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1963 geborene deutsche Staatsangehörige S.________ war ab 1. Juni 2005 als
Geschäftsführer in der Firma V.________ angestellt. Am 27. Juni 2006 kündigte
diese das Arbeitsverhältnis auf den 30. September 2006. S.________ meldete sich
am 31. August 2006 bei der Gemeinde M.________ zur Arbeitsvermittlung; er
entschied sich dabei unter den zur Wahl stehenden Arbeitslosenkassen für
diejenige des Kantons Thurgau. Am 12. September 2006 stellte er Antrag auf
Arbeitslosenentschädigung ab 2. Oktober 2006. Am 26. Juni 2007 ersuchte die
Arbeitslosenkasse das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau
(nachfolgend: AWA), zu prüfen und zu entscheiden, ob S.________ Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung habe und ob sich sein Lebensmittelpunkt in der
Schweiz befinde. Nach verschiedenen Sachverhaltsabklärungen verneinte das AWA
mit Verfügung vom 19. Juli 2007 einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung
mangels Wohnsitzes des Versicherten in der Schweiz. Daran hielt das Amt mit
Einspracheentscheid vom 25. September 2007 fest. Zwischenzeitlich hatte sich
S.________ am 27. Juni 2007 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV)
und bei der Arbeitslosenkasse abgemeldet, da er eine Festanstellung in
Deutschland gefunden habe.

B.
S.________ erhob gegen den Einspracheentscheid Beschwerde. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hiess diese gut, hob den
Einspracheentscheid auf und erkannte, das Erfordernis des rechtsgenüglichen
Aufenthaltes in der Schweiz sei zu bejahen; die Arbeitslosenkasse werde die
weiteren Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und, sofern diese gegeben seien,
die entsprechenden Leistungen auszurichten haben (Entscheid vom 5. März 2008).

C.
Das AWA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.

S.________ lässt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werden könne. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Auf die Beschwerde ist entgegen dem Antrag des Versicherten einzutreten. Die
gesetzlichen Voraussetzungen hiefür sind erfüllt.

2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.
Streitig ist der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Das AWA hat diesen mit
der Begründung verneint, der Beschwerdegegner habe weder im Zeitpunkt der
Antragstellung noch während des ganzen folgenden Zeitraums, in welchem er
Leistungen beanspruchte, Wohnsitz in der Schweiz gehabt. Das kantonale Gericht
ist zum Ergebnis gelangt, ob das Erfordernis des rechtsgenüglichen Aufenthaltes
erfüllt sei und ob der Versicherte gegebenenfalls als echter/unechter
Grenzgänger zu qualifizieren sei, brauche nicht abschliessend beantwortet zu
werden. Denn das Aufenthaltserfordernis müsse aus Gründen des
Vertrauensschutzes infolge unterlassener Aufklärung/Beratung durch den
Versicherungsträger bejaht werden. Hiegegen wendet sich die Beschwerde des AWA.

4.
Im angefochtenen Entscheid sind die Bestimmungen (Art. 27 ATSG in Verbindung
mit Art. 19a AVIV) und die Rechtsprechung (namentlich BGE 131 V 472) über die
Aufklärungs- und Beratungspflicht der Versicherungsträger und
Durchführungsorgane der Sozialversicherungen, insbesondere auch der
Arbeitslosenversicherung, sowie über die Folgen einer Verletzung dieser Pflicht
unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

4.1 Das kantonale Gericht hat erkannt, verschiedene der Indizien, aus welchen
das AWA auf einen Wohnsitz ausserhalb der Schweiz, in Deutschland, schliesse,
seien der Arbeitslosenkasse resp. dem RAV schon im Oktober 2006 bekannt
gewesen. Erst im Juni 2007 sei aber der Rechtsdienst des AWA um Abklärung der
Anspruchsvoraussetzung des Wohnsitzes in der Schweiz ersucht worden. Es
bestünden keinerlei Anhaltspunkte, wonach der Versicherte vorgängig auf die
Problematik hingewiesen worden sei, welche sich aus einer allfälligen
Wohnsitzverlegung nach Deutschland in Bezug auf die Anspruchsvoraussetzungen
ergebe. Insbesondere sei er nie darüber aufgeklärt worden, dass im
internationalen Verhältnis zu Deutschland der gewöhnliche Aufenthalt für die
Frage, welcher Staat Arbeitslosenentschädigung ausrichte, entscheidend sein
könne.

Diese Sachverhaltsfeststellung ist unbestritten.

4.2 Die Vorinstanz hat weiter erwogen, die Verwaltung wäre aufgrund der ihr
vorliegenden Indizien gehalten gewesen, den Versicherten entsprechend
aufzuklären. Indem sie dies nicht tat, habe sie die Aufklärungs- und
Beratungspflicht verletzt. Aufgrund der gegebenen Umstände sei das Erfordernis
des rechtsgenüglichen Aufenthalts in der Schweiz aus Gründen des
Vertrauensschutzes zu bejahen. Denn andernfalls verliere der Beschwerdegegner
aufgrund der unterlassenen Aufklärung durch die Verwaltung den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung.

Diese Beurteilung ist, insbesondere auch im Lichte des in BGE 131 V 472 (vgl.
auch BGE U 50/07 vom 4. August 2008 E. 11.2 mit Hinweisen) Gesagten, nicht zu
beanstanden. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung hat die
Vorinstanz dabei die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Versicherungsträgers
nicht zu ausdehnend interpretiert. Zu betonen ist hiebei namentlich, dass der
Verwaltung die gleichen Indizien, welche nunmehr als Begründung für einen
ausserschweizerischen Aufenthaltsort dienen sollen, im Wesentlichen bereits ab
Oktober 2006 bekannt waren.

Auch die Einwände des AWA betreffend Vertrauensschutz führen zu keiner anderen
Betrachtungsweise. Geltend gemacht wird in erster Linie, der Versicherte habe
seine Mitwirkungspflicht nicht erfüllt und seinen Wohnsitz falsch angegeben.
Der Beschwerdegegner hat indessen stets einen schweizerischen Aufenthaltsort
geltend gemacht und auf die entsprechende Anfrage hin auch begründet, wo dies
in der Schweiz gewesen ist und weshalb er weiterhin M.________ angegeben hat.
Zwar weisen die Akten diesbezüglich teilweise Ungereimtheiten auf. Es bestehen
aber keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherte
missbräuchlicherweise einen schweizerischen Aufenthaltsort geltend gemacht hat,
was gegebenenfalls zur Verwirkung des Vertrauensschutzes geführt hätte. Das AWA
äussert sich im Übrigen selber nicht widerspruchsfrei, indem es auf der einen
Seite vorbringt, der Beschwerdegegner habe sich nicht in der Schweiz
aufgehalten, auf der anderen Seite aber ausführt, die Schweiz habe "vor und
während des Leistungsverfahrens" "in geeigneter Weise als Wohn- und
Beschäftigungsstaat des Versicherten nachgewiesen werden" können.

Zusammenfassend ist der angefochtene Entscheid als rechtens zu betrachten.
Daran vermögen sämtliche weiteren Vorbringen in der Beschwerde nichts zu
ändern. Das gilt insbesondere auch für die Ausführungen zur
Anspruchsberechtigung bei echten und unechten Grenzgängern.

5.
Das Beschwerde führende AWA hat ungeachtet seines Unterliegens im Verfahren
keine Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG; BGE 133 V 640).
Hingegen hat es dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Beschwerdeführer hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Staatssekretariat für Wirtschaft schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. November 2008

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:

i.V. Lustenberger Lanz