Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.29/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_29/2008

Urteil vom 23. April 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Parteien
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6002
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

P.________, 1944, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Karl
Gehler, Hanfländerstrasse 67, 8640 Rapperswil.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 13. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1944 geborene P.________ war seit 5. April 1973 als Mitarbeiter in der
Produktion bei der Firma B.________ AG tätig und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch unfallversichert. Er erlitt in
der Zeit zwischen 1988 und 2004 vier Stürze, bei welchen er sich verschiedene
Verletzungen an beiden Schultern und am rechten Knie zuzog. Nachdem die
Arbeitgeberin dem Versicherten mit Schreiben vom 28. September 2005 per 31.
Dezember 2005 gekündigt hatte, nahm er keine neue Erwerbstätigkeit mehr auf.

Nach Durchführung von ärztlichen Behandlungen und medizinischen sowie
beruflichen Abklärungen sprach die SUVA P.________ für die verbliebene
Beeinträchtigung aus den Unfällen vom 22. April 1988, 24. April und 2. November
2004 mit Verfügung vom 20. Dezember 2005 ab 1. Januar 2006 eine Invalidenrente
auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 23 % sowie eine
Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 25 % zu. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 29. Mai 2006 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 13. November 2007 in dem Sinne teilweise gut, als es
die SUVA verpflichtete, dem Versicherten ab 1. Januar 2006 eine Invalidenrente
auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 50 % auszurichten.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die SUVA die
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und die Bestätigung ihres
Einspracheentscheids.

P.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist
somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III
136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend
gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle
sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die Verletzung von Grundrechten und von
kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge
in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
Im Einspracheentscheid vom 29. Mai 2006 sind die gesetzlichen Bestimmungen und
Grundsätze über den Anspruch auf eine Invalidenrente der Unfallversicherung
(Art. 18 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 7 und Art. 8 ATSG) und über die
Ermittlung des Invaliditätsgrades mittels Einkommensvergleichsmethode (Art. 16
ATSG), namentlich unter Verwendung der Dokumentation von Arbeitsplätzen (DAP;
BGE 129 V 472 E. 4.2 S. 475 ff.), zutreffend dargelegt worden. Richtig sind
auch die Ausführungen über die Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte bei der
Ermittlung des Invaliditätsgrades (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261), über den für die
Invaliditätsbemessung ausschlaggebenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt (BGE 110 V
273 E. 4b S. 276, vgl. auch BGE 130 V 343 E. 3.2 S. 346 f.) sowie über den im
Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz der Schadenminderungspflicht (BGE
129 V 460 S. 463 E. 4.2 mit Hinweisen). Darauf kann verwiesen werden.

3.
Streitig und zu prüfen ist der Invaliditätsgrad, dabei namentlich die noch
zumutbare Arbeitsfähigkeit sowie das hypothetische Invalideneinkommen. Nicht
mehr umstritten ist hingegen die Höhe der Integritätsentschädigung.

3.1 Die SUVA ging in Verfügung und Einspracheentscheid gestützt auf die
kreisärztliche Abschlussuntersuchung des Dr. med. W.________ vom 4. November
2005 davon aus, eine geeignete Tätigkeit, bei welcher die stehenden bzw.
gehenden Positionen einen Drittel der Arbeitszeit nicht überschreiten, sei dem
Beschwerdegegner ganztägig zumutbar. Gestützt auf fünf DAP-Profile als
Hilfsarbeiter ermittelte sie ein jährliches Invalideneinkommen von Fr. 46'835.-
und in Gegenüberstellung mit dem Valideneinkommen von Fr. 60'550.- einen
Invaliditätsgrad von 23 %.

3.2 Das kantonale Gericht hingegen stützte sich auf die Beurteilung des
Kreisarztes vom 17. Juni 2005, in welcher ausgeführt wurde, der Versicherte
müsse in seiner angestammten Tätigkeit als Federmacher stets stehen und
herumgehen, was ihm höchstens noch ca. vier Stunden pro Tag zugemutet werden
könne. Es qualifizierte diese Arbeit als sehr leichte Tätigkeit, welche auch
wechselbelastend ausgeübt werden könne und den Gesundheitsschäden des
Versicherten optimal angepasst sei. Aufgrund einer 50%igen Arbeitsfähigkeit in
dieser bisherigen Tätigkeit ergebe sich - so die Vorinstanz - ein
Invaliditätsgrad von 50 %.

3.3 Während die SUVA beschwerdeweise geltend macht, bei der früheren Tätigkeit
als Federmacher handle es sich nicht um eine optimal leidensangepasste
Tätigkeit, weshalb das Invalideneinkommen für eine ganztägig zumutbare
Tätigkeit anhand von DAP-Profilen zu ermitteln sei, erachtet der
Beschwerdegegner den vorinstanzlich ermittelten Invaliditätsgrad von 50 % für
korrekt, weil einerseits bei der Beurteilung der noch zumutbaren
Arbeitsfähigkeit auch die psychische Problematik zu berücksichtigen sei und es
sich andrerseits bei der bisherigen Tätigkeit als Federmacher, die er noch zu
50 % ausüben könne, um eine ideal leidensangepasste Tätigkeit handle.

4.
4.1 Was zunächst die gesundheitliche Beeinträchtigung und die daraus
resultierende Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit anbelangt, hat Kreisarzt
Dr. med. W.________ anlässlich der Untersuchung vom 11. Februar 2005 eine
50%ige Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit als zumutbar erachtet. Im
Nachtrag zu diesem Bericht vom 17. Juni 2005 führte Dr. med. W.________ aus,
der Versicherte müsse gemäss Arbeitsplatzabklärung bei seiner Tätigkeit stets
stehen und herumgehen, was ihm höchstens noch in der Grössenordnung von vier
Stunden pro Tag zugemutet werden könne. Geeigneter wäre - so der Kreisarzt -
eine wechselhaft sitzende/stehende bzw. gehende Tätigkeit. Anlässlich der
kreisärztlichen Abschlussuntersuchung vom 4. November 2005 schliesslich
erachtete Dr. med. W.________ eine ganztägige Tätigkeit, bei welcher die Dauer
der stehenden bzw. gehenden Position einen Drittel der Arbeitszeit nicht
überschreite und falls möglich auf den ganzen Tag verteilt sei, als zumutbar.
Überkopfarbeiten seien nicht mehr möglich und das Gewicht von zu hebenden
Lasten bis Taillenhöhe sei auf max. 10 kg, bis Brusthöhe auf 5 kg beschränkt.
Die kreisärztlichen Berichte sind schlüssig und nachvollziehbar begründet und
erfüllen die Anforderungen der Rechtsprechung, weshalb auf sie abgestellt
werden kann. Soweit der Hausarzt Dr. med. T.________ die noch zumutbare
Arbeitsfähigkeit anders einschätzt, ist mit der Vorinstanz darauf hinzuweisen,
dass einerseits Hausärzte und Hausärztinnen im Zweifelsfall aufgrund ihrer
Vertrauensstellung eher zu Gunsten ihrer Patientinnen und Patienten aussagen
(BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353) und dass andrerseits Dr. med. T.________ die
massive psychosoziale Belastungssituation und beginnende depressive Entwicklung
mitberücksichtigt hat. Mit dem kantonalen Gericht kann die psychische
Problematik indessen nicht als adäquat kausale Folge der in Frage stehenden
Unfallereignisse qualifiziert werden, weshalb eine auf psychische Gründe
zurückzuführende Arbeitsunfähigkeit nicht zu berücksichtigen ist. Den
diesbezüglichen Erwägungen, auf welche verwiesen werden kann, hat das
Bundesgericht nichts beizufügen. Dementsprechend hat die Vorinstanz zu Recht
das zuhanden der Invalidenversicherung erstellte Gutachten des Dr. med.
L.________ vom 15. August 2007 ausser Acht gelassen.

4.2 Die Diskrepanz zwischen SUVA und Vorinstanz liegt in der Frage der
leidensangepassten, geeigneten Tätigkeit.

Die angestammte Tätigkeit als Federmacher wurde im Arbeitsplatzbeschrieb vom 8.
April 2005 als leicht bezeichnet. Der Vorgesetzte beschrieb die Arbeit jedoch
ausdrücklich als gehend stehende Tätigkeit. Dies entspricht nicht dem
Zumutbarkeitsprofil des Versicherten gemäss kreisärztlicher Beurteilung. Die
angestammte Tätigkeit, in welcher dem Beschwerdegegner eine 50%ige
Arbeitsfähigkeit attestiert worden ist, ist daher mit der SUVA als zu wenig
wechselbelastend und nicht optimal dem Gesundheitsschaden angepasst zu
qualifizieren. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Versicherte einer besser
leidensangepassten, leichten, wechselbelastenden Tätigkeit ganztägig nachgehen
könnte, wozu er aufgrund der Schadenminderungspflicht auch gehalten ist.

5.
5.1 Bei der Beurteilung der erwerblichen Auswirkungen der gesundheitlichen
Beeinträchtigung ist die Höhe des Valideneinkommens von Fr. 60'550.- für das
Jahr 2005 unbestritten und nicht zu beanstanden.

5.2 Für die Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch
realisierbaren Invalideneinkommens ist primär von der beruflich-erwerblichen
Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Übt sie
nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ -
besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie
die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft,
sowie das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als
Soziallohn erscheint, gilt grundsätzlich der von ihr tatsächlich erzielte
Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes
Erwerbseinkommen gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt
des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue
Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung für die
Bestimmung des hypothetischen Invalideneinkommens entweder Tabellenlöhne gemäss
den vom Bundesamt für Statistik periodisch herausgegebenen
Lohnstrukturerhebungen oder die Zahlen DAP herangezogen werden (BGE 129 V 472
E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen).

5.3 Mit der Tätigkeit als Federmacher schöpft der Beschwerdegegner - wie aus
Erwägung 4.2 hervorgeht - die ihm verbleibende Restarbeitsfähigkeit nicht in
zumutbarer Weise voll aus. Zudem wurde dieses Arbeitsverhältnis seitens der
Arbeitgeberin per 31. Dezember 2005 aufgelöst und bestand im massgebenden
Zeitpunkt des Einspracheentscheides gar nicht mehr. Entgegen der Auffassung des
kantonalen Gerichts kann als Invalideneinkommen somit nicht das auf 50 %
reduzierte Valideneinkommen beigezogen werden, vielmehr ist das trotz
Gesundheitsschädigung noch erzielbare Einkommen mittels Tabellenlöhnen oder
Angaben aus dokumentierten Arbeitsplätzen zu bestimmen. Es ist diesbezüglich
davon auszugehen, dass der massgebliche ausgeglichene Arbeitsmarkt hinreichend
Stellen anbietet, welche dem Zumutbarkeitsprofil entsprechen.

Die SUVA hat anhand der durchschnittlichen Löhne von fünf DAP-Profilen für eine
leidensangepasste ganztägige leichte Tätigkeit im Jahr 2005 ein
Invalideneinkommen von Fr. 46'835.- ermittelt, was in Gegenüberstellung mit dem
Valideneinkommen einen Invaliditätsgrad von 23 % ergab. Ihr Vorgehen entspricht
den Anforderungen der Rechtsprechung (BGE 129 V 472 E. 4.2 S. 475 ff.) und die
zu Grunde gelegten DAP-Profile sowie die vorgenommene Berechnung sind weder
bestritten noch zu beanstanden.

5.4 Zusammenfassend hat der Beschwerdegegner somit Anspruch auf eine
Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 23 %.

6.
Dem Prozessausgang entsprechend werden die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner
als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 13. November 2007 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 23. April 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Kopp Käch