Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.275/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_275/2008

Urteil vom 2. Dezember 2008
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiber Flückiger.

Parteien
D.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Wagner, Schaffhauserstrasse 28, 4332
Stein,

gegen

Basler Versicherungs-Gesellschaft, Aeschengraben 21, 4051 Basel,
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Advokat Dr. Willy Fraefel,
Pelikanweg 2, 4054 Basel.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 23. Januar 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 8. September 2006 stellte die Basler
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Basler) als obligatorischer
Unfallversicherer ihre Leistungen an die 1951 geborene D.________ für die
Folgen eines am 29. Januar 2004 erlittenen Unfalls mit Wirkung ab 21. April
2006 ein. Zur Begründung wurde erklärt, die ab diesem Datum fortbestehenden
Beschwerden stünden in keinem adäquaten Kausalzusammenhang mit dem Unfall.
Daran hielt die Basler mit Einspracheentscheid vom 17. April 2007 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau ab (Entscheid vom 23. Januar 2008). Im Verlauf des
Rechtsmittelverfahrens liess die Versicherte unter anderem einen Bericht der
Klinik X.________ vom 29. Mai 2007 auflegen.

C.
D.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache
zur Neubeurteilung an die Basler zurückzuweisen.
Die Basler schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Schreiben vom 25. September 2008 lässt die Beschwerdeführerin ein Attest
des Spitals Y.________ ("passeport d'allergie") vom 8. September 2008
nachreichen.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den für die
Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 Abs. 1 UVG)
vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und
Gesundheitsschaden (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181; vgl. auch 126 V 353 E. 5c S.
361; 119 V 335 E. 1 S. 337 f.) sowie über den Beweiswert und die Würdigung
medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a und b S. 352 f.)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig sind auch die
vorinstanzlichen Erwägungen zur überdies erforderlichen Adäquanz des
Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (BGE 125 V 456 E. 5a S. 461 mit Hinweisen;
vgl. auch BGE 129 V 177 E. 3.2 S. 181, 402 E. 2.2 S. 405) und bei psychischen
Fehlentwicklungen im Besonderen (BGE 127 V 102 E. 5b/bb S. 103; 115 V 133 E. 6
S. 138 ff.).

2.
Die Beschwerdeführerin rutschte am 29. Januar 2004 auf einer vereisten Treppe
aus und stürzte. Streitig und zu prüfen ist, ob die Basler für dieses Ereignis
über den 21. April 2006 hinaus Leistungen zu erbringen hat.

2.1 Für die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts kann mit dem kantonalen
Gericht auf das Gutachten des Prof. Dr. med. B.________, Chefarzt Neurologische
Klinik Spital Z.________, vom 26. April 2006 (basierend auf einer Untersuchung
vom 12. Januar 2006) abgestellt werden. Die Vorinstanz hat überzeugend
dargelegt, warum dieser Stellungnahme gegenüber jener der Ärzte der Klinik
X.________ (Bericht vom 29. Mai 2007) bei der Beweiswürdigung der Vorrang
einzuräumen ist. Prof. Dr. med. B.________ gelangt zum Ergebnis, die
Beschwerdeführerin leide an einem chronischen lumbospondylogenen Syndrom. Zudem
äussert er den Verdacht auf eine somatoforme Schmerzstörung. Weiter hält er
fest, die beklagten Schmerzen seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
zumindest initial Folge des Unfallereignisses vom 29. Januar 2004. Das Ausmass
der geklagten Beschwerden stehe jedoch in krassem Gegensatz zu den
objektivierbaren Befunden. Unter Berücksichtigung allein der Unfallfolgen sei
die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin in ihrem bisherigen Beruf als
Buchhalterin nicht eingeschränkt. Hinsichtlich der Unfallfolgen müsse auch
keine Heilbehandlung mehr erfolgen.

2.2 Das kantonale Gericht hat den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfallereignis vom 29. Januar 2004 und den über den 21. April 2006 hinaus
fortbestehenden Beschwerden (chronisches lumbospondylogenes Syndrom) sinngemäss
bejaht. Gleichzeitig wurde festgehalten, es handle sich um organisch nicht
(hinreichend) nachweisbare Unfallfolgeschäden. Deshalb sei eine separate
Adäquanzprüfung nach Massgabe der mit BGE 115 V 133 begründeten Rechtsprechung
vorzunehmen. Das Ereignis vom 29. Januar 2004 sei den leichten Unfällen
zuzuordnen. Angesichts der unmittelbar nach dem Unfall eingetretenen, nicht
offensichtlich unfallunabhängigen Folgen seien die zur Adäquanzprüfung bei
mittelschweren Unfällen entwickelten Kriterien (BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140)
massgebend. Da die Vorinstanz keines dieser Kriterien als erfüllt erachtete,
verneinte sie den adäquaten Kausalzusammenhang.

2.3 Die Beschwerdeführerin pflichtet der Vorinstanz darin bei, dass keine
objektivierbaren Beeinträchtigungen vorliegen und deshalb eine Adäquanzprüfung
nach den Regeln von BGE 115 V 133 erforderlich ist. Anerkannt wird auch die
Qualifikation des Unfalls vom 29. Januar 2004 als leichtes Ereignis im Sinne
der Rechtsprechung. Die Beschwerdeführerin vertritt jedoch die Auffassung, die
Kriterien der Dauerschmerzen, der erheblichen Arbeitsunfähigkeit sowie des
schwierigen Heilungsverlaufs und der erheblichen Komplikationen seien erfüllt,
wobei das letztere Merkmal in auffallender Weise vorliege.

3.
3.1 Mit den Beteiligten kann davon ausgegangen werden, dass die
Beschwerdeführerin auch über den 21. April 2006 hinaus an Beschwerden in Form
von Rückenschmerzen litt, welche nicht gegeben wären, wenn das Unfallereignis
vom 29. Januar 2004 weggedacht würde. Der natürliche Kausalzusammenhang ist
demnach zu bejahen. Da keine anspruchsbegründenden organisch (hinreichend)
nachweisbaren Beeinträchtigungen vorliegen, richtet sich die Prüfung der
Adäquanz des Kausalzusammenhangs nach der Praxis gemäss BGE 115 V 133 (BGE 127
V 102 E. 5b/bb S. 103).

3.2 Über den Hergang des Unfalls vom 29. Januar 2004 ist den Akten zu
entnehmen, dass die Versicherte auf einer vereisten Treppe ausrutschte und auf
die linke Körperseite stürzte. Im Rahmen der für die Belange der
Adäquanzprüfung vorzunehmenden Einteilung (BGE 115 V 133 E. 6 S. 139) ist
dieses Ereignis, wie auch die Beschwerdeführerin anerkennt, als leicht zu
bezeichnen. Da unmittelbar anschliessend lumbale Rückenschmerzen sowie
Beinschmerzen auftraten, welche nicht als offensichtlich unfallunabhängig
bezeichnet werden können, hat trotz der Qualifikation des Ereignisses als
leicht eine Adäquanzbeurteilung nach den für mittelschwere Unfälle geltenden
Grundsätzen stattzufinden (RKUV 1998 Nr. U 297 S. 243 E. 3b, U 16/97). Die
Adäquanz ist demzufolge zu bejahen, wenn ein einzelnes der massgebenden
Kriterien in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder wenn die Kriterien
insgesamt in gehäufter oder auffallender Weise vorliegen (BGE 115 V 133 E. 6c/
bb S. 141). Bei der Prüfung der einzelnen Kriterien sind einzig die organischen
Unfallfolgen zu berücksichtigen.
3.3
3.3.1 Der Unfall vom 29. Januar 2004 weist weder eine besondere
Eindrücklichkeit auf noch war er mit besonders dramatischen Begleitumständen
verbunden.
3.3.2 Der am Tag nach dem Unfall erstmals aufgesuchte Dr. med. U.________,
Allgemeine Medizin FMH, stellte im Arztzeugnis UVG vom 30. März 2004 die
Diagnosen einer Beckenstauchung mit rezidivierenden ISG-Blockaden und
aktivierter Ileitis links. Dabei handelt es sich nicht um Verletzungen, die
aufgrund ihrer Art oder Schwere erfahrungsgemäss besonders geeignet sind,
psychische Fehlentwicklungen auszulösen.
3.3.3 Laut dem Gutachten des Prof. Dr. med. B.________ vom 26. April 2006 ist
die Beschwerdeführerin in der bisherigen Tätigkeit als Buchhalterin aus Sicht
der somatischen Unfallfolgen voll arbeitsfähig. Der Experte führt weiter aus,
das Ereignis vom 29. Januar 2004 habe seiner Ansicht nach allenfalls zu einer
vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit geführt. Dr. med. K.________, Chirurgie FMH,
gelangte bereits in seiner medizinischen Beurteilung vom 25. November 2004 zum
Ergebnis, die Unfallfolgen bewirkten noch eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % des
früheren Pensums (vgl. dazu SVR 2007 UV Nr. 25 S. 81 E. 8.6.1, U 479/05).
Gleichzeitig stellte er die Prognose, ab 1. März 2005 werde die Versicherte,
was die Unfallfolgen anbetreffe, wieder voll arbeitsfähig sein. Unter diesen
Umständen hat das Kriterium der nach Grad und Dauer erheblichen
Arbeitsunfähigkeit nicht als erfüllt zu gelten.
3.3.4 Die Akten enthalten keinerlei Hinweise auf eine ärztliche Fehlbehandlung.
Auch die Dauer der ärztlichen Behandlung kann - soweit der somatische Aspekt
betroffen ist - mit Blick auf die medizinischen Unterlagen nicht als
ungewöhnlich lang bezeichnet werden.
3.3.5 Die Vorinstanz hat das Kriterium der Dauerbeschwerden mit der Begründung
verneint, die Schmerzen bewirkten laut dem Gutachten von Prof. Dr. med.
B.________ keine Arbeitsunfähigkeit. Diese Argumentation führt, wie die
Beschwerdeführerin zu Recht einwendet, zu einer Vermengung zweier Kriterien.
Angesichts des aktenkundigen chronifizierten lumbospondylogenen Syndroms können
Dauerschmerzen bejaht werden. Nach Lage der Akten sind die Beschwerden jedoch
zu einem weit überwiegenden Anteil nicht somatisch erklärbar. Deshalb kann auch
unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten
Schmerzmittel-Unverträglichkeit nicht von einer besonderen Ausprägung dieses
Merkmals gesprochen werden, welche für sich allein genommen die Adäquanz zu
begründen vermöchte. Unter diesen Umständen erübrigt sich eine nähere Prüfung
der Frage, inwieweit die mit der Beschwerdeschrift aufgelegten neuen Unterlagen
und das am 25. September 2008 nachgereichte Dokument überhaupt Berücksichtigung
finden können (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG sowie BGE 127 V 353 und Urteil 9C_40/
2007 vom 31. Juli 2007, E. 3.1).
3.3.6 Aus der Dauer der ärztlichen Behandlung und der geklagten Beschwerden -
welche im Rahmen der spezifischen Adäquanzkriterien (ungewöhnlich lange Dauer
der ärztlichen Behandlung, Dauerbeschwerden) zu berücksichtigen sind - darf
nicht ohne weiteres auf einen schwierigen Heilungsverlauf und erhebliche
Komplikationen geschlossen werden. Es bedarf hiezu besonderer Gründe, welche
die Heilung beeinträchtigt haben (SVR 2007 UV Nr. 25 S. 81 E. 8.5, U 479/05).
Nach Auffassung des Gutachters Prof. Dr. med. B.________ war im damaligen
Zeitpunkt (die Untersuchung fand am 12. Januar 2006 statt) aufgrund der
Unfallfolgen keine Heilbehandlung mehr erforderlich. Die bereits erwähnte
Schmerzmittel-Unverträglichkeit ist nicht unter dem Kriterium der erheblichen
Komplikationen, sondern unter jenem der Dauerschmerzen zu behandeln.
Anderweitige besondere Gründe im vorstehend erwähnten Sinn sind nicht
ersichtlich.

3.4 Nach dem Gesagten ist nur eines der massgebenden Kriterien erfüllt, und
dies nicht in besonders ausgeprägter Weise. Das kantonale Gericht hat somit die
Leistungseinstellung auf den 21. April 2006 zu Recht bestätigt. Die Beschwerde
ist abzuweisen.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Die Beschwerdegegnerin als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute
Organisation hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. Dezember 2008
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Ursprung Flückiger