Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.273/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_273/2008

Urteil vom 26. Februar 2009
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Parteien
S.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marc F. Suter,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse der Stadt X.________,
handelnd durch den Präsidenten der Verwaltungskommission.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 18.
Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a S.________, geboren 1947, kündigte seine Stelle bei der Stadtverwaltung
X.________ mit Schreiben vom 9. November 2000 aus gesundheitlichen Gründen per
Ende Oktober 2001 (Ende der 12-monatigen Lohnfortzahlung) und meldete sich am
12. Juli 2001 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit
Verfügung vom 13. August 2002 sprach ihm die IV-Stelle Bern rückwirkend ab 1.
Juli 2000 eine halbe und ab 1. Februar 2001 eine ganze Invalidenrente zu.
A.b Auf die dagegen erhobene Beschwerde mit dem sinngemässen Antrag, der
Rentenbeginn sei auf den 1. November 2001 festzusetzen (da er zufolge
Primatswechsel per 1. Januar 2001 bei seiner beruflichen Vorsorge bei früherem
Rentenbeginn finanziell schlechter gestellt werde), trat das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mangels eines schutzwürdigen Interesses nicht ein. Das in der
Folge angerufene Eidgenössische Versicherungsgericht hob diesen
Prozessentscheid vom 12. Februar 2003 auf und wies die Sache zur materiellen
Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Urteil vom 7. September 2004, I 215/03).
A.c Mit Entscheid vom 22. Dezember 2004 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern die Beschwerde ab. Die von S.________ erhobene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das Eidgenössische Versicherungsgericht mit
Urteil vom 15. Juni 2005 in dem Sinne gut, dass der angefochtene Entscheid und
die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 13. August 2002 aufgehoben wurden. Die
Sache wurde zu weiteren Abklärungen und neuer Verfügung an die IV-Stelle
zurückgewiesen (I 87/05).
A.d Die IV-Stelle Bern holte daraufhin Berichte des Dr. med. B.________,
Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 29. November 2005, des Dr. med.
C.________, Innere Medizin FMH, vom 17. Dezember 2005 sowie ein Aktengutachten
des Prof. Dr. med. F.________, Poliklinik für Infektiologie, vom 9. Mai 2006
ein und liess im Vorbescheidverfahren Dr. med. R.________ vom Regionalen
Ärztlichen Dienst dazu Stellung nehmen (Bericht vom 3. November 2006). Mit
Verfügung vom 5. Dezember 2006 sprach sie S.________ ab dem 1. Dezember 2000
eine Viertelsrente, ab dem 1. Februar 2001 eine halbe und ab dem 1. März 2001
eine ganze Rente zu.

B.
Mit Beschwerde beantragte der Versicherte die Durchführung weiterer
Abklärungen, eventualiter die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab
frühestens 1. Juni 2002. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern bestätigte die
von der IV-Stelle verfügte Zusprechung einer Viertelsrente ab 1. Dezember 2000,
befristete sie auf drei Monate und berücksichtigte eine zwischenzeitlich
eingetretene Verschlechterung der Erwerbsunfähigkeit (gemäss Art. 88a Abs. 2
IVV) ab dem 1. März 2001, auf welchen Zeitpunkt hin es dem Versicherten eine
ganze Rente zusprach (Entscheid vom 18. Februar 2008).

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihm
frühestens ab dem 1. November 2001 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen,
eventualiter sei die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichten die
als Mitinteressierte beigeladene Pensionskasse der Stadt X.________ (unter
Verweis auf frühere Stellungnahmen) und das Bundesamt für Sozialversicherungen
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann daher gemäss Art. 95
und 96 BGG nur wegen Rechtsverletzung erhoben werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhaltes durch die Vorinstanz
kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Zu den in Art. 95 BGG erwähnten bundesrechtlichen Vorschriften zählt der
Untersuchungsgrundsatz. Hat das kantonale Gericht die rechtserheblichen
tatsächlichen Feststellungen in Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
getroffen, sind sie für das Bundesgericht nicht verbindlich (Urteile I 828/06
vom 5. September 2007, E. 3.2.3, 8C_364/2007 vom 19. November 2007, E. 3.3).

2.
Der Beschwerdeführer rügt zunächst eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK,
weil die Vorinstanz keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

Das Verfahren der öffentlich-rechtlichen Beschwerde ist grundsätzlich
schriftlich (Art. 102 BGG). Für den Prozess vor dem kantonalen
Versicherungsgericht bestimmt Art. 61 lit. a ATSG, dass das Verfahren in der
Regel öffentlich ist. Es wird damit der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK geforderten
Öffentlichkeit des Verfahrens Rechnung getragen (UELI KIESER, ATSG-Kommentar,
Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 26 zu Art. 61),
welche im erstinstanzlichen Rechtsmittelverfahren zu gewährleisten ist (BGE 122
V 47 E. 3 S. 54 mit Hinweisen; in BGE 131 V 286 nicht publizierte E. 1.2 des
Urteils N. vom 24. August 2005, C 13/05). Nach der Rechtsprechung liegt
indessen bloss ein Beweisantrag vor, auf Grund dessen noch nicht auf den Wunsch
einer konventionskonformen Verhandlung mit Publikums- und Presseanwesenheit zu
schliessen ist, wenn eine Partei beispielsweise lediglich eine persönliche
Anhörung oder Befragung, ein Parteiverhör, eine Zeugeneinvernahme oder einen
Augenschein verlangt (BGE 125 V 37 E. 2 S. 38, 122 V 47 E. 3a S. 55).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Mit der Beschwerde an die Vorinstanz wurde die
Durchführung einer Instruktionsverhandlung mit Zeugenbefragung, nicht aber die
Öffentlichkeit des Verfahrens im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK beantragt,
weshalb diese Bestimmung nicht verletzt worden ist.

3.
3.1 Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in Urteil I 87/05 (siehe oben
A.c) unter Würdigung der damals vorliegenden Arztberichte (insbesondere auch
der Stellungnahme des Dr. med. C.________ vom 27. Januar 2005) festgestellt
hat, war der Beschwerdeführer - nach durchgehend verminderter
Leistungsfähigkeit seit dem 1. Juli 1998 - ab 1. November 2000 in der
angestammten Tätigkeit zu 100% arbeitsunfähig. Darauf ist nicht mehr zurück zu
kommen. Weiter abzuklären war gemäss genanntem Urteil, in welchem Umfang der
Versicherte im Zeitraum vom 1. November 2000 bis zum Erlass der Verfügung vom
13. August 2002, welcher damals zu überprüfen war, auch erwerbsunfähig oder
umgekehrt fähig war, seine verbliebene Leistungsfähigkeit auf dem gesamten für
ihn in Frage kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt in zumutbarer Weise
wirtschaftlich zu verwerten. Ein allfälliger Rentenanspruch habe aufgrund der
ab Juli 1998 (37,5%) und November 2000 (100%) ausgewiesenen
Arbeitsunfähigkeiten frühestens im Dezember 2000 entstehen können (E. 4).

3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die IV-Stelle habe es unterlassen, die
angeordneten weiteren Abklärungen zu treffen, und sich darauf beschränkt, einen
Bericht ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes einzuholen. Dieser Vorwand ist
unberechtigt.

Gemäss den Feststellungen der Vorinstanz wurde zunächst ein Bericht des
Psychiaters Dr. med. B.________ eingeholt, welcher den Beschwerdeführer jedoch
lediglich im Zeitraum von Juni bis September 1998 behandelt hatte und zum
weiteren Verlauf keine Stellung nehmen konnte. Des Weiteren wurde beim (einzig)
behandelnden Hausarzt Dr. med. C.________ nachgefragt, welcher sich zur
Arbeitsfähigkeit ausser den bekannten Angaben (100%ige Arbeitsunfähigkeit seit
dem 1. November 2000) indessen nicht näher äusserte (Bericht vom 17. Dezember
2005). Schliesslich veranlasste die IV-Stelle ein Aktengutachten. Prof. Dr.
med. F.________ konnte sich zwar zum Krankheitsverlauf einer HIV-Infektion im
Allgemeinen äussern, mangels genügender Dokumentation jedoch keine schlüssigen
Aussagen insbesondere zum Vorliegen neuromotorischer oder kognitiver Störungen
im fraglichen Zeitraum ab November 2000 machen. Dr. med. R.________ vom
Regionalen Ärztlichen Dienst, welcher sich seit 20 Jahren mit Fragen der
HIV-Infektion beschäftigt (als Chefarzt einer Aids-Koordinationsstelle, Leiter
der Aids-Beratungsstellen der Spitäler Y.________ und W.________, als Hausarzt
und als medizinischer Berater der Aids-Hilfe Schweiz) führte in seinem Bericht
vom 3. November 2006 aus, es habe über Jahre ein schweres Krankheitsbild
bestanden und es sei, wie auch vom Hausarzt angenommen, unwahrscheinlich, dass
am 1. November 2000 wieder eine Restarbeitsfähigkeit bestanden habe.

Nach Ansicht des kantonalen Gerichts stand damit - nach einlässlicher Würdigung
der genannten Berichte - fest, dass es für den abzuklärenden Zeitraum an
medizinischen Unterlagen fehlt, deshalb nachträglich keine schlüssigere
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit möglich
ist und präzisere Angaben der behandelnden Ärzte nicht erhältlich gemacht
werden können, sodass sich eine weitere Begutachtung erübrigt. Dass der
Beschwerdeführer mit seiner unentgeltlichen Tätigkeit eine nahezu volle
Arbeitsleistung bezüglich Arbeitszeit und Leistungsvermögen erbracht und somit
ein volles Pensum erfüllt habe, war hingegen nicht erstellt; dabei wurde die
Einschätzung des behandelnden Arztes berücksichtigt, wonach eine Diskrepanz
bestehe zwischen subjektiver Einschätzung der Leistungsfähigkeit des
Versicherten (mit entsprechendem Arbeitswillen und -engagement) und
medizinischer Beurteilung des objektiv tatsächlich vorhandenen
Leistungsvermögens. Die Vorinstanz gelangte daher zum Schluss, dass es mit den
Angaben des Dr. med. C.________ sein Bewenden haben müsse, damit aber auch
hinreichend erstellt sei, dass dem Beschwerdeführer eine adaptierte Tätigkeit
lediglich noch zu ein bis zwei Stunden pro Tag in einer frei wählbaren Form
zumutbar sei (Bericht vom 11. September 2001).

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung offensichtlich unrichtig wäre. Auch liegt im Verzicht
auf die Abnahme weiterer Beweise - insbesondere einer weiteren Befragung des
Hausarztes - keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (antizipierte
Beweiswürdigung; vgl. SVR 2001 IV Nr. 10 S. 27 E. 4 S. 28; zu Art. 4 Abs. 1 aBV
ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 124 V 90 E. 4b S. 94, 122 V
157 E. 1d S. 162, je mit Hinweisen). Allfällige Aussagen anderer Personen zur
Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers waren insofern nicht relevant, als es
Aufgabe des Arztes ist, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung
zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten der Versicherte
arbeitsunfähig ist (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261 f.; vgl. auch AHI 2002 S. 62, I
82/01, E. 4b/cc). Die Sachverhaltsfeststellung ist daher für das Bundesgericht
verbindlich.

3.3 Der Rentenbeginn wurde demzufolge auf den 1. Dezember 2000 festgelegt. Der
vorinstanzliche Einkommensvergleich mit Annahme eines Invaliditätsgrades von
40% bei Rentenbeginn und Berücksichtigung einer Verschlechterung der
Erwerbsunfähigkeit frühestens drei Monate später (Art. 88a Abs. 2 IVV), somit
ab 1. März 2001, wird nicht gerügt und ist nicht zu beanstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse der Stadt X.________, dem
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Ausgleichskasse des Kantons Bern
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. Februar 2009

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Ursprung Durizzo